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Erschienen in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 1/2019

05.09.2018 | Originalarbeit

Anmerkungen zur deutschsprachigen Adaptation der Psychopathy Checklist-Revised (PCL‑R)

verfasst von: Dr. Johann Endres, Dipl.-Psych. M. Florian Schwanengel

Erschienen in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie | Ausgabe 1/2019

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Zusammenfassung

Das Erscheinen einer deutschsprachigen Version der Psychopathy Checklist-Revised (PCL‑R) stellt für die diagnostische Beurteilung von Straftätern und die Kriminalprognose einen wichtigen Fortschritt dar. Die deutsche Adaptation bietet nicht nur eine Übersetzung des kanadischen Originals, sondern enthält auch ergänzende Erläuterungen zu den Items und empirische Daten. Vorgestellt werden wichtige Merkmale des Instruments (Daten zu Reliabilität und prognostischer Validität), Besonderheiten der Anwendung (z. B. Berücksichtigung der Zeitperspektive, Auslassen einzelner Items und Korrektur der Scores) und Kritikpunkte, die sich aus der kleinen und fraglich repräsentativen Normstichprobe sowie der nicht perfekten Reliabilität des Instruments ergeben.
Fußnoten
1
Im Folgenden beziehen sich alle alleinstehenden Seitenangaben im Text auf Mokros et al. (2017).
 
2
Vermutlich hätten auch viele Beschäftigte im Straf- oder Maßregelvollzug sowie Polizeibeamte, falls man die Strafanzeigen einbezieht, einen mehr oder weniger langen „record“ und würden somit auf der PCL-R nach der deutschen Version Punkte erzielen.
 
3
Müller (2011) bringt vor, dass, da es sich bei der PCL-R nicht um einen Test im eigentlichen Sinn handle, sondern um ein Fremdbeurteilungsverfahren, die Testtheorie und die daraus abgeleiteten Kennwerte auf sie nicht anwendbar seien. Diese Argumentation übersieht jedoch, dass es keinerlei Gründe gibt, weshalb die mathematische Testtheorie nicht auch auf Messverfahren anwendbar sein sollte, die keine psychologischen Tests im engeren Sinne (wie Intelligenz- oder Persönlichkeitstests, mit zu lösenden Aufgaben oder vom Probanden zu beantwortenden Fragen als Test-Items) darstellen, aber analog konstruiert sind.
 
4
Der Begriff „allgemeines Funktionsniveau“ ist im Manual nicht weiter erläutert. Vermutlich ist damit das Funktionsniveau nach DSM-IV gemeint, das auf einer Skala von 0 bis 100 das psychische Leistungsniveau einer Person bzw. dessen Einschränkungen durch psychische Krankheiten oder Störungen (nicht durch körperliche Erkrankungen) bestimmt. Abweichend davon allerdings scheint das PCL-R-Manual bei der Bestimmung des Funktionsniveaus laut den zitierten Formulierungen von psychischen Erkrankungen zu abstrahieren.
 
5
Das Bundeszentralregistergesetz bestimmt in § 51, Abs. 1: „Ist die Eintragung über eine Verurteilung im Register getilgt worden oder ist sie zu tilgen, so dürfen die Tat und die Verurteilung der betroffenen Person im Rechtsverkehr nicht mehr vorgehalten und nicht zu ihrem Nachteil verwertet werden.“ – Jedoch könnte man gegen die Anwendung dieser Vorschrift auf die Prognose einwenden, dass es nicht darum geht, einem Probanden frühere Straftaten „vorzuhalten“ (im Sinne eines Schuldvorwurfs), sondern darum, seine Persönlichkeit zutreffend zu beurteilen. Anderenfalls hätte die zitierte Vorschrift die absurde Konsequenz, dass in der Prognosebegutachtung Angaben aus einem Grundschulzeugnis über unartiges Verhalten im Kindesalter berücksichtigt werden dürfen (bei Item 12 der PCL-R, „frühe Verhaltensauffälligkeiten“), nicht jedoch ein versuchter Mord als junger Erwachsener.
 
6
In den uns bekannten Gutachten nimmt die PCL-R meist einen knappen und überschaubaren Umfang ein und wird als eines von mehreren Diagnose- und Prognoseverfahren dargestellt. Dies erscheint uns auch sinnvoller, als sie als einzelnes Verfahren in das Zentrum des Gutachtens zu stellen, zumal sich aus dem PCL-Score keine differenzierten Empfehlungen für das Risikomanagement oder eine evtl. erforderliche Weiterbehandlung ableiten lassen. Der Forderung, dass die Bewertung der einzelnen Items nachvollziehbar sein sollte, ist jedoch uneingeschränkt zuzustimmen, da anderenfalls Gutachten nicht überprüfbar wären.
 
7
Das Item ist auch inhaltlich etwas problematisch, da in der Operationalisierung der Aspekt der Dauer nicht mehr vorkommt, sondern nur die Zahl der Beziehungen: Ein 60-jähriger Proband, der hintereinander vier Partnerschaften von jeweils 10 Jahren Dauer hatte, müsste hier den Wert 2 für die volle Ausprägung erhalten, obwohl hier vermutlich niemand von „kurzzeitigen“ Beziehungen sprechen würde.
 
8
Eine der vier Justizvollzugsanstalten, in denen die Probanden der Normstichprobe rekrutiert wurden, die JVA Amberg, ist als Anstalt des „Regelvollzugs“ in Bayern zuständig für den Strafvollzug an Personen, die bereits früher in Haft waren. Auch die JVA Nürnberg ist nur im Regelvollzug für Strafen bis zu 2 Jahren zuständig.
 
9
Einschränkend ist noch darauf hinzuweisen, dass die Beurteilerübereinstimmung sich hier auf zwei Mitglieder einer kleinen Arbeitsgruppe bezog, für die eine sehr weitgehende Übereinstimmung im Verständnis und in der Handhabung der Items angenommen werden kann. Es ist davon auszugehen, dass die Übereinstimmung deutlich niedriger ausfallen wird, wenn Beurteiler ohne gemeinsamen Hintergrund einen Fall unabhängig voneinander kodieren.
 
10
Die statistischen Konzepte der Reliabilität, des Standardmessfehlers und des Konfidenzintervalls gehören nicht in einer ausreichend vertieften Form zur üblichen Methodenausbildung in der Medizin oder in der Rechtswissenschaft. Im medizinischen Kontext, z. B. im Zusammenhang mit der Blutdruckmessung, bezeichnet „Messfehler“ kein statistisches Konzept, sondern fehlerhafte Vorgehensweisen. Im Zusammenhang mit medizinischen Messungen finden sich sehr selten Angaben über Reliabilitäten oder Irrtumswahrscheinlichkeiten für Messwerte.
 
11
Insbesondere Probanden mit großer Hafterfahrung oder nach entsprechendem „Coaching“ durch Mitgefangene oder Verteidiger könnten bei einigen Items (promiskes Sexualverhalten, frühe Verhaltensauffälligkeiten) relativ leicht Informationen zurückhalten, die zu einem höheren Score führen.
 
12
„Odds“ sind definiert als „Chancenverhältnis“ nach der Formel a/(100 − a). Ein Anteil von 25 % entspricht somit (25/75) einem Chancenverhältnis von einem Drittel bzw. 0,33.
 
Literatur
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Zurück zum Zitat Nedopil N (2005) Prognosen in der Forensischen Psychiatrie. Pabst, Lengerich Nedopil N (2005) Prognosen in der Forensischen Psychiatrie. Pabst, Lengerich
Zurück zum Zitat Streng F (2012) Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart Streng F (2012) Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart
Metadaten
Titel
Anmerkungen zur deutschsprachigen Adaptation der Psychopathy Checklist-Revised (PCL‑R)
verfasst von
Dr. Johann Endres
Dipl.-Psych. M. Florian Schwanengel
Publikationsdatum
05.09.2018
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie / Ausgabe 1/2019
Print ISSN: 1862-7072
Elektronische ISSN: 1862-7080
DOI
https://doi.org/10.1007/s11757-018-0488-x

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