Eine effiziente Gesundheitsversorgung braucht gut informierte ÄrztInnen und PatientInnen. In unserem gegenwärtigen Gesundheitssystem gibt es beide nicht. Um das Problem zu illustrieren: In einer nationalen Studie mit 412 US-amerikanischen ÄrztInnen wusste die Mehrzahl nicht, dass die Fünf-Jahres-Überlebensstatistik eine irreführende Metrik im Kontext von Screenings ist und basierten fälschlicherweise ihre Screeningempfehlung darauf. Unter deutschen GynäkologInnen gab es nicht eine einzige, die alle Informationen zu Nutzen und Schaden des Mammographiescreenings bereitstellte, deren es für eine informierte Entscheidung bedürfte. Und in einer nationalen Stichprobe von 300 US-BürgerInnen, die an einer oder mehreren Früherkennungsuntersuchungen teilgenommen hatten, waren 91 % von ihren ÄrztInnen nie über die größten Schäden von Früherkennungsuntersuchungen – Überdiagnosen und Überbehandlungen – informiert worden. Warum haben wir diesen Mangel an Risikokompetenz? Die Forschung dokumentiert, dass es weniger kognitive oder emotionale Defizite sind, die Menschen davon abhalten, Evidenz richtig zu verstehen, sondern vielmehr die Art und Weise, wie statistische Informationen präsentiert werden. Was kann gegen den Mangel getan werden? Medizinische Fakultäten sollten damit beginnen, StudentInnen die simplen Techniken der Risikokommunikation beizubringen, um sie dabei zu unterstützen, medizinische Statistiken richtig zu verstehen. Leitlinien zur vollständigen und transparenten Berichterstattung in Fachzeitschriften, Broschüren und den Medien müssen besser durchgesetzt werden, um die Vermittlung tatsächlicher Fakten zu fördern. Eine kritische Masse informierter Menschen wird nicht alle Probleme unseres Gesundheitssystems lösen, aber sie kann der auslösende Faktor für eine bessere Versorgung sein.
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PatientInnen gelten als das Problem unserer modernen Gesundheitsversorgung: Sie sind ein unwissendes, ängstliches, unwilliges Volk mit ungesunden Lebensgewohnheiten. Sie verlangen Medikamente, die von Berühmtheiten im Fernsehen angepriesen werden, bestehen auf unnötige und/oder teure Tests und Behandlungen und werden am Ende noch zu KlägerInnen. Warum aber wissen PatientInnen, die sich heute wie nie zuvor über Gesundheitsfragen informieren, nicht Bescheid?
Antworten auf diese Fragen reichen von der Vorstellung, dass PatientInnen nicht intelligent genug sind, um medizinische Sachverhalte zu verstehen, bis hin zu der Meinung, sie wollten einfach keine Zahlen hören. Folglich sind die empfohlenen Heilmittel paternalistisch: Den unmündigen PatientInnen muss dabei „geholfen“ werden, den rechten Weg der Gesundheit zu betreten [1]. Die Tatsache, dass jedoch selbst Viertklässler den positiven Vorhersagewert verstehen können, wenn die Informationen in transparenten Formaten dargestellt werden, zeigt, dass das Problem nicht in stabilen kognitiven Defiziten liegt, sondern in der Art und Weise, wie Gesundheitsinformationen ÄrztInnen und PatientInnen präsentiert werden [2]. Dazu gehören die intransparente Berichterstattung in medizinischen Fachzeitschriften, Broschüren und den Medien sowie die Verwendung relativer Risiken und anderer irreführender Statistiken aufgrund von Interessenkonflikten und defensiver Medizin, die nicht zur Aufklärung sondern zu Missverständnissen bei ÄrztInnen und PatientInnen beitragen.
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Das Kommunizieren von Nutzen und Schaden
Im Jahr 1996 zeigten die Ergebnisse von vier randomisierten Studien zur Mammographiefrüherkennung mit rund 280.000 Frauen [3], dass von je 1000 Frauen, die über 10 Jahre an der Mammographie teilnahmen, 3 Frauen an Brustkrebs starben und von je 1000 Frauen, die nicht an der Mammographie teilnahmen, 4 Frauen an Brustkrebs starben. Eine weitere Analyse zeigte vergleichbare Effekte [4, 5]; hier fand sich pro 1000 Frauen ein Unterschied von 5 an Brustkrebs verstorbenen Frauen ohne Früherkennung versus 4 an Brustkrebs verstorbenen Frauen mit Früherkennung. Ein in 2006 veröffentlichter Cochrane-Review, der diese und weitere randomisierte Studien mit nun insgesamt rund 500.000 Frauen zusammenfasste, kam zu einer noch geringeren absoluten Risikoreduktion: Von 2000 Frauen, die regelmäßig über 10 Jahre hinweg an der Mammographie teilnahmen, verstarb 1 Frau (11 versus 10 Frauen) weniger an Brustkrebs [5]. Erstmals wurde auch der Schaden der Mammographie beziffert: Für jede Frau, die durch die Teilnahme an der Früherkennung vor dem Brustkrebstod bewahrt wurde, wurden gleichzeitig 10 andere Frauen als Ergebnis der Mammographieteilnahme mit Brustkrebs überdiagnostiziert und überbehandelt. Sowohl die Nutzenbewertung als auch die Schadenbewertung der Mammographie wurden im aktuellsten Cochrane-Review – nun mit randomisiert-kontrollierten Studien, die rund 600.000 Frauen inkludierten – erneut bestätigt [6]. Als Exkurs sei hier erwähnt, dass sich 2023 ein Cochrane-Review mit dem potenziellen Zusatznutzen einer Sonographie zur Mammographie befasste [7]. Dabei fand sich, dass durch die zusätzliche Nutzung der Sonographie die Anzahl der falsch-positiven Ergebnisse und die Biopsieraten höher waren. In keiner der eingeschlossenen Studien wurde analysiert, ob die höhere Zahl der im Screening entdeckten Tumore in der Interventionsgruppe (Mammographie plus Sonographie) zu einer niedrigeren Sterblichkeitsrate im Vergleich zur alleinigen Mammographie führte, womit der Beweis für einen Zusatznutzen offenbleibt.
Werden PatientInnen, die an der Mammographie teilnehmen wollen, über diese Fakten von ihren ÄrztInnen informiert? Um mehr darüber zu erfahren, führten wir im Jahr 2010 [5] eine Studie mit GynäkologInnen in verschiedenen Großstädten Deutschlands durch und befragten sie explizit zu Nutzen und Schaden dieser Früherkennung [8]. Von den 20 GynäkologInnen, die bereit waren, Auskunft zu erteilen, empfahlen 17 die Mammographie mit Nachdruck und betonten, dass es eine sichere und wissenschaftlich fundierte Früherkennungsmethode sei. Nur 7 ÄrztInnen konnten Zahlen zum erfragten Nutzen nennen. Sie gaben an, dass durch die Mammographie die Brustkrebssterblichkeit um 20–50 % gesenkt würde. Den potenziellen Schaden der Mammographie beschrieb die Mehrzahl der GynäkologInnen als „vernachlässigbar“. Nur 3 GynäkologInnen nannten Zahlen zu spezifischen Nachteilen, wovon zwei Angaben falsch waren. Die Zahlen, die wir für den Schaden erhielten, waren im Gegensatz zum Nutzen jedoch keine Prozentzahlen, sondern lauteten z. B. 1 Frau pro 26.000. Der Hauptschaden der Mammographie – Überdiagnose und Überbehandlung – wurde von keiner der befragten GynäkologInnen erwähnt. Ein vergleichbares Maß an Unwissenheit fanden wir in einer weiteren Studie mit über 400 US GynäkologInnen zur Eierstockkrebsfrüherkennung [9], für die in den bisherigen randomisiert-kontrollierten Studien keinerlei tatsächlicher Nutzen – weder in Bezug auf die krankheitsspezifische Mortalität noch die Gesamtmortalität – nachgewiesen werden konnte, dafür aber erheblicher massiver Schaden [10, 11]. Von den 401 befragten US GynäkologInnen war nur eine Person in der Lage, auf die Fragen zum Nutzen-Schaden-Verhältnis richtig zu antworten, alle anderen überschätzten den Null-Nutzen erheblich und hatten nur unzureichende bis gar keine Kenntnis zum Schaden (z.B. unnötige Entnahme von Eierstöcken zur weiteren diagnostischen Abklärung nach initial auffälligem Befund). Dabei fand sich, dass der entscheidende Prädiktor für die Gründe, die GynäkologInnen anführten, weshalb sie (z. B. Druck der PatientInnen) bzw. weshalb sie nicht (z. B. hohes Risiko für Überbehandlung) die Eierstockkrebsfrüherkennung empfehlen, der Mangel an Kenntnis zu den Basiskonzepten der früherkennungsrelevanten Statistik war [12].
Die Ergebnisse der Studie zum Wissen der GynäkologInnen zur Mammographie und zur Eierstockkrebsfrüherkennung deuten zweierlei an: Eine Frau, die sich über den Nutzen und Schaden von Früherkennungen informieren möchte, würde zum einen entweder gar keine Zahlen oder missverständliche Zahlen erhalten. Und zum anderen würde sie, für den Fall, dass sie Zahlen erhielte, der Täuschung des „mismatched framing“ [13] aufsitzen. „Mismatched framing“ bedeutet, dass der Nutzen und Schaden von Behandlungen in unterschiedlichen „Währungen“ kommuniziert wird. Potenzielle „Währungen“, in denen der Nutzen und Schaden dargestellt werden kann, sind folgende:
absolute Risikoreduktion („absolute risk reduction“ [ARR]) oder
Anzahl notwendiger Behandlungen („number needed to treat“ [NNT]), die erfolgen müssen, um einen Krankheits- oder Todesfall zu verhindern (entspricht: 1/ARR).
Zum Beispiel waren all jene numerischen Angaben, die uns die GynäkologInnen zum Nutzen der Mammographie nannten, Angaben zur relativen Risikoreduktion. Die Schätzungen zur Senkung der Brustkrebssterblichkeit lagen hier bei 20–50 %. Während es für die 50 % keinerlei absolute Entsprechung in der gegenwärtigen Literatur zur Beurteilung der Mammographie für die Gesamtbevölkerung gibt, entsprechen die 20 % der Analyse von Nyström et al. [4], in welcher 5 von 1000 Frauen in der Nichtmammographiegruppe und 4 von 1000 Frauen in der Mammographiegruppe an Brustkrebs verstarben. Die 20 % relative Risikoreduktion ergeben sich, indem die Referenzklasse (hier: 1000 Frauen) weggelassen und nur noch die Reduktion von 5 (= 100 %) auf 4 (= 80 % von 5) betrachtet wird. Das Problem relativer Risikoangaben ist jedoch, dass durch das Weglassen der Referenzklasse (hier 1000 Frauen) der absolute und damit letztlich der klinisch relevante Effekt nicht mehr abschätzbar ist. Denn 20 % ergäben sich auch bei einer Reduktion von 500 auf 400/1000 sowie bei einer Reduktion von 0,0005 auf 0,0004/1000. Dies führt dazu, dass Laien und ÄrztInnen den so dargestellten Nutzen um das bis zu Hundertfache und mehr überschätzen. Im Gegensatz zur Darstellung des Nutzens als relatives Risiko (= große Zahlen), waren alle numerischen Angaben, die wir zum Schaden erhielten, absolute Risikoangaben (z.B. 1 pro 26.000). Absolute Risikoangaben gelten als transparent, sind für gewöhnlich aber kleine Zahlen. Gepaart mit einer Darstellung des Nutzens als relatives Risiko erscheinen sie dann nahezu vernachlässigbar, wobei der relativ kommunizierte Nutzen in absoluten Zahlen nicht selten sogar kleiner sein kann.
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Ist an einer transaprenten Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse gelegen, haben sich Faktenboxen (siehe Abb. 1) als besonders geeignet bei der Vermittlung des Nutzen-Schaden-Verhältnisses bewährt [14].
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Kommunizieren von Testergebnissen
Im Zuge des zunehmenden Angebots von Testungen in der Medizin kommt dem ärztlichen Verständnis von positiven und negativen Testergebnissen eine immer größere Bedeutung zu. So fragen sich die meisten PatientInnen nach Erhalt eines positiven Testergebnisses, zum Beispiel eines positiven Mammogramms, ob sie nun mit Sicherheit Brustkrebs haben bzw. wie wahrscheinlich es ist, dass ein Brustkrebs vorliegt. Die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem positiven Testergebnis die Krankheit tatsächlich vorliegt, wird positiver Vorhersagewert („positive predictive value“ [PPV]) genannt. Sind ÄrztInnen in der Lage, PatientInnen auf diese wichtige Frage eine richtige Antwort zu geben? Zu Beginn einer Fortbildung statteten wir 160 GynäkologInnen mit allen erforderlichen Daten aus, deren es bedarf, um einer Frau die Antwort auf genau diese Frage nach dem PPV zu geben [15]:
Nehmen Sie an, dass Sie in einer bestimmten Region ein Mammographiescreening durchführen. Sie haben folgende Informationen über die Frauen in dieser Region:
Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau Brustkrebs hat, beträgt 1 % (Prävalenz).
Wenn eine Frau Brustkrebs hat, liegt die Wahrscheinlichkeit eines positiven Tests bei 90 % (Sensitivität).
Bei einer Frau, die keinen Brustkrebs hat, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass sie trotzdem positiv getestet wird, bei 9 % (Falsch-positiv-Rate=100−Spezifität).
Eine Frau wird positiv getestet. Sie will nun von Ihnen wissen, ob dies für sie mit Sicherheit „Brustkrebs“ bedeutet oder welche Wahrscheinlichkeit hierfür vorliegt. Wie lautet die beste Antwort?
(A) Die Wahrscheinlichkeit von Brustkrebs liegt bei etwa 81 %.
(B) Die Wahrscheinlichkeit von Brustkrebs liegt bei etwa 90 %.
(C) Die Wahrscheinlichkeit von Brustkrebs liegt bei etwa 10 %.
(D) Die Wahrscheinlichkeit von Brustkrebs liegt bei etwa 1 %.
Nur 21 % der GynäkologInnen gaben die beste Antwort, nämlich dass die Wahrscheinlichkeit bei ca. 10 % liegt. Die Mehrheit (60 %) wählte fälschlicherweise die Antworten „90 %“ oder „81 %“ und überschätzte damit die Wahrscheinlichkeit, dass eine positiv getestete Frau an Brustkrebs erkrankt ist, erheblich.
Abb. 2a verdeutlicht, warum es ÄrztInnen so schwerfällt, anhand der oben vermittelten bedingten Wahrscheinlichkeiten den positiven Vorhersagewert zu errechnen. Um zu bestimmen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Patientin bei Vorliegen eines positiven Mammographiebefunds Brustkrebs hat, wird die Formel des Bayes-Theorems benötigt [16]. Im Zähler wird dazu wie in Abb. 2a die Basiswahrscheinlichkeit für das Vorliegen des Tumors (die Prävalenz) eingetragen, multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit, dass bei Vorhandensein eines Krebses auch der Mammographiebefund positiv ausfällt (der Sensitivität). Im Nenner wird das Produkt der beiden bereits genannten Wahrscheinlichkeiten mit dem Produkt aus der Wahrscheinlichkeit, dass kein Krebs vorhanden ist (Gegenwahrscheinlichkeit zur Prävalenz), und der Wahrscheinlichkeit, dass bei Nichtvorhandensein von Krebs trotzdem positiv getestet wird (Falsch-positiv-Rate), addiert. Nur wenigen Menschen scheint diese Formel so eingängig, dass sie sich diese über den Vermittlungsmoment hinaus merken würden. Denn wie Studien zeigen, kann die Mehrzahl von ÄrztInnen trotz der Verfügbarkeit der benötigten Kennzahlen den PPV nicht errechnen [17‐20]. Ein einfacher Ausweg aus dem schwer eingänglichen Bayes-Theorem ist die Verwendung natürlicher Häufigkeiten [21]. Hierzu werden die entsprechenden bedingten Wahrscheinlichkeiten (prozentualen Informationen) in Häufigkeiten überführt:
Prävalenz 1 %: Etwa 100 von je 10.000 Frauen sind an Brustkrebs erkrankt.
Sensitivität 90 %: Von diesen 100 tatsächlich erkrankten Frauen erhalten 90 ein positives Testergebnis.
Falsch-positiv-Rate 9 %: Von den 9900 Frauen, die nicht an Brustkrebs erkrankt sind, erhalten 891 ebenfalls ein positives Testergebnis.
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Im zweiten Schritt wird dann die Anzahl der richtig-positiven Testergebnisse (= 90) ins Verhältnis zur Gesamtheit aller positiven Testergebnisse (90 + 891) gesetzt, um so final den PPV zu bestimmen (90 zu 981 = ca. 10 %). Abb. 2b zeigt ferner, wie natürliche Häufigkeiten auch in graphischer Form, zum Beispiel zur unterstützenden Kommunikation von Testergebnissen mit den PatientInnen, dargestellt werden können. Abb. 2a, b verdeutlichen aber auch, warum die Berechnung mit natürlichen Häufigkeiten leichter fällt: Natürliche Häufigkeiten werden innerhalb der Berechnung nicht normalisiert. Und zu guter Letzt wird mithilfe der Abb. 2b noch ein weiterer wichtiger Umstand deutlich: Besonders bei Krankheiten mit niedriger Prävalenz – wozu Brustkrebs in der Allgemeinbevölkerung gehört – ändert eine Verbesserung der Sensitivität nichts an dem Vorkommen falsch-positiver Ergebnisse und nur marginal etwas an dem positiven Vorhersagewert der Testung. So würde zum Beispiel die Erhöhung der Sensitivität auf 99 % zwar dazu beitragen, dass von 100 tatsächlich Erkrankten pro 10.000 nun auch 99 korrekt entdeckt werden, im Verhältnis zu den weiterhin bestehenden 891 falsch-positiv Diagnostizierten verbleibt der PPV aber dennoch bei 10 %.
Überlebensraten im Kontext von Früherkennung
Jedes Jahr im Oktober wird in Amerika und mittlerweile auch in Deutschland der „Breast Cancer Awareness Month“ begangen. Keine Organisation ist in diesem Zusammenhang prominenter als die Susan G. Komen Organisation, die weltgrößte Brustkrebsstiftung und Erfinderin des „Pink Ribbon“. Komens Portfolio beinhaltet eine Vielzahl von ehrenwerten und wichtigen Aktivitäten, die dazu beitragen sollen, Frauen vor dem Brustkrebstod zu bewahren, Patientinnen in ihren Rechten zu stärken, Lebens- und Versorgungsqualität sicherzustellen und Forschung zu noch besseren Krebstherapien zu motivieren. Die Susan G. Komen Organisation ist jedoch auch dafür bekannt, das Mammographiescreening zu bewerben [22]. Eines ihrer Werbeplakate, die 2011 während des „Breast Cancer Awareness Month“ in ganz Amerika aufgestellt wurden, zeigte folgenden Slogan [22]:
„What is the key to surviving breast cancer? YOU. Early detection saves lives. The 5‑year survival of breast cancer when caught early is 98 %. When it’s not? 23 %.“ [„Was ist der Schlüssel zum Überleben von Brustkrebs? DU. Früherkennung rettet Leben. Die 5‑Jahres-Überlebensrate von Brustkrebs, wenn früh erkannt, ist 98 %. Wenn nicht? 23 %.“]
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Der hier propagierte Unterschied im Überleben zwischen Frauen, die an der Mammographie teilnehmen, und denen, die es nicht tun, wirkt mit 75 % eindrücklich. Gibt es diesen Unterschied jedoch überhaupt? Nein. Das werden viele Frauen aber wahrscheinlich nie erfahren. Unterschiede in Überlebensraten zwischen Menschen in Früherkennungs- und Nichtfrüherkennungsgruppen haben im Kontext von Früherkennungen keinerlei Korrespondenz zu Unterschieden in der Sterblichkeit [23]. Warum ist das so? Grund dafür ist die Art der Berechnung der Überlebensrate im Kontext von Früherkennung. Dabei steht im Nenner der Statistik die Anzahl aller mit Krebs Diagnostizierten und im Zähler die Anzahl der Diagnostizierten, die nach z. B. 5 oder 10 Jahren noch leben. Das Problem besteht nun darin, dass der Nenner durch die Eigenschaft der Früherkennung – nämlich einen potenziellen Tumor schon deutlich vor dem Verursachen von Symptomen zu entdecken – systematisch verzerrt bzw. künstlich aufgebläht wird. So entsteht eine Verzerrung durch den sogenannten Vorlauf-Bias („lead time bias“). Um diesen zu verstehen, stellen Sie sich 100 Menschen vor, die nicht an der Früherkennung teilnehmen. Stellen Sie sich weiter vor, dass bei all diesen 100 Menschen mit 67 Jahren ein Tumor aufgrund von Symptomen entdeckt wird und alle mit 70 Jahren daran verstorben sind. Die 5‑Jahres-Überlebensrate wäre in dieser Gruppe damit 0 %. Nun stellen Sie sich vor, dass diese 100 Menschen alle an der Früherkennung teilnehmen. Durch die Eigenschaft der Früherkennung, den Tumor schon weit vor dem Entstehen von Symptomen zu detektieren, erhalten nun alle 100 Personen im Alter von bereits 60 Jahren ihre Diagnose, sind aber wieder alle mit 70 Jahren verstorben. In diesem Falle wäre die 5‑Jahres-Überlebensrate 100 %. Obwohl die Teilnahme an der Früherkennung also zu keiner zusätzlichen Lebenszeitverlängerung führte, sondern lediglich zu einer verlängerten Zeit der Diagnose, ist der Unterschied im 5‑Jahres-Überleben zwischen den beiden Gruppen dennoch 100 % (siehe Abb. 3).
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Eine weitere Verzerrung, die zur künstlichen Inflation der Überlebensrate zum Vorteil der Früherkennungsgruppe führt, ist der Überdiagnose-Bias („overdiagnosis bias“). Da durch die Früherkennung auch nichtprogressive Zellabnormalitäten bzw. sehr langsam progressive Tumore entdeckt werden, die per Definition keinerlei Symptome oder einen krebsspezifischen Tod gebracht hätten, jedoch mit in den Nenner der Überlebensstatistik inkludiert werden, wird der Nenner auch dadurch künstlich aufgebläht, wie Abb. 4 illustriert.
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Wenn Menschen nun schon durch Patienteninformationen missverständlich informiert werden, können sie zumindest darauf hoffen, dass ÄrztInnen wissen, dass Überlebensraten ungeeignet zur Bewertung von Screeningmaßnahmen sind? Eine diesbezügliche nationale Studie mit 412 amerikanischen ÄrztInnen, die regelhaft Screeningverfahren anbieten, stimmt wenig optimistisch [24].
Wurde der Nutzen durch 5‑Jahres-Überlebensraten propagiert, empfahlen 69 % aller ÄrztInnen ihren PatientInnen die Früherkennung, jedoch nur 23 %, wenn der Nutzen anhand von Mortalitätsraten beschrieben war. Danach befragt, welche Statistik (Überlebensraten versus Mortalitätsraten) beweisen würde, dass das Screening Leben rette, waren ÄrztInnen nicht in der Lage, zwischen der invaliden Statistik (Überlebensrate) und der validen Statistik (Mortalitätsrate) zu unterscheiden: 79 % nahmen (fälschlicherweise) an, dass Überlebensraten das beweisen können, und zur selben Zeit nahmen 81 % derselben Population dies (richtigerweise) für Mortalitätsraten an. Ferner nahmen 47 % inkorrekterweise an, dass mehr entdeckte Tumore in der Früherkennungsgruppe bewiesen, dass mehr Leben in der Früherkennungsgruppe gerettet werden. Mehr entdeckte Tumore bzw. mehr früh entdeckte Tumore in der Früherkennungsgruppe sind ohne entsprechende Senkung der Mortalität jedoch für gewöhnlich ein Hinweis für Überdiagnose und damit Schaden.
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Schlussfolgerungen
Jede medizinische Information kann auf zwei Arten dargestellt werden: eine, die für die Mehrzahl der ÄrztInnen und PatientInnen irreführend ist, oder eine, die transparent und leicht verständlich ist. Entgegen der Annahme, dass es nur PatientInnen wären, die Schwierigkeiten beim Verstehen von medizinischer Statistik haben, lassen sich auch viele ÄrztInnen von Fachstatistiken in die Irre führen. Sie sind damit außerstande, die Nutzen-Schaden-Bilanz angebotener medizinischer Maßnahmen realistisch einzuschätzen und PatientInnen die nötigen Fakten zu benennen, deren es für eine informierte Entscheidung zur Früherkennung bedürfte. Intransparente Statistiken in medizinischen Fachzeitschriften, irreführende Informationen in Broschüren für ÄrztInnen und PatientInnen sowie mangelnde Schulung in medizinischer Statistik und Risikokommunikation an medizinischen Fakultäten sind wichtige Gründe für den Mangel an Risikokompetenz.
Was kann gegen diese Situation getan werden? Medizinische Fakultäten sollten damit beginnen, ihren Studierenden simple Techniken der Risikokommunikation beizubringen, die sie dabei unterstützen, Evidenz im Allgemeinen und medizinische Statistik im Speziellen richtig zu verstehen. Diese simplen Techniken der Risikokommunikation – in diesem Artikel vorgestellt – haben in Studien gezeigt, dass sie einen Großteil der statistischen Verwirrung aufseiten der ÄrztInnen (und PatientInnen) eliminieren und damit zu einer informierten Entscheidung beitragen. Eine kritische Masse informierter Menschen wird nicht die Gesamtheit der Probleme unseres Gesundheitssystems lösen, aber sie kann der auslösende Faktor für eine bessere Versorgung sein.
Fazit für die Praxis
Relative Risikoangaben (z. B. Verdoppelung des Risikos, 50 %ige Reduktion) sagen nichts über den tatsächlichen klinischen Nutzen von Maßnahmen aus und führen zu massiven Überschätzungen.
Zur Einschätzung des tatsächlichen Nutzens und Schadens wird immer das absolute Risiko in der Kontrollgruppe (Basisrisiko ohne Intervention) und in der Interventionsgruppe benötigt.
Adjustieren Sie die absoluten Zahlen auf denselben Nenner (z. B. pro 1000 Frauen), um Unterschiede in der Größe der Kontroll- und Früherkennungsgruppe auszugleichen.
Die Sensitivität eines Tests ist nicht gleichzusetzen mit der Wahrscheinlichkeit, dass ein positives Testergebnis korrekt ist.
Zur Berechnung des positiven Vorhersagewerts benötigen Sie die Prävalenz der Erkrankung, die Sensitivität und die Spezifität des Testverfahrens und sollten diese Kennzahlen dann in natürliche Häufigkeiten umwandeln.
Bei Tumorerkrankungen mit niedriger Prävalenz kommt der Spezifität mit Blick auf falsch-positive Diagnosen eine besonders wichtige Rolle zu.
Im Kontext der Bewertung von Früherkennung ist die Überlebensrate eine verzerrte Statistik.
Nur Mortalitätsraten – nicht beeinflusst von systematischen Verzerrungen wie dem Überdiagnose-Bias oder Vorlauf-Bias – erlauben valide Rückschlüsse auf den Nutzen.
Das Entdecken von mehr bzw. mehr frühstadigen Tumoren in der Früherkennungsgruppe beweist nicht den Nutzen von Screenings.
Dieser Beweis kann nur durch eine Reduktion der Mortalitätsrate erbracht werden.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
O. Wegwarth gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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