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DGIM Innere Medizin
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Publiziert am: 08.08.2023

Seltene Stoffwechselkrankheiten: Einführung

Verfasst von: Martin Merkel
Angeborene Stoffwechseldefekte („inborn errors of metabolism“, IEM) können prinzipiell jeden metabolischen Prozess betreffen. Die klinischen Folgen der genetischen Veränderungen reichen von nur biochemisch nachweisbaren Abweichungen (z. B. leichte Hyperphenylalaninämie) über Defekte, die unbehandelt zu schweren Behinderungen führen (z. B. klassische Phenylketonurie, PKU) bis hin zu intrauterin oder frühkindlich letalen Mutationen (OTC-Defizienz bei Männern).

Was heißt „selten“ in der Medizin?

Der Begriff der „seltenen Erkrankungen“ hat sich in den 1980er-Jahren etabliert. Hintergrund war, dass ein Anreiz geschaffen werden sollte, nicht nur für häufige Volkskrankheiten, sondern auch für seltene Erkrankungen neue diagnostische und therapeutische Optionen zu entwickeln. Mit dem Orphan Drug Act in den USA wurde 1983 erstmals der Begriff „orphan disease“ geprägt; gleichzeitig wurden signifikante Anreize für die Entwicklung von Medikamenten für diese Erkrankungen geschaffen („orphan drugs“). Der Begriff „orphan“ (Waise) bezieht sich darauf, dass eine Entwicklung von Therapien für seltene Erkrankungen ökonomisch unattraktiv war und diese daher „ignoriert“ wurden, „verwaist“ waren.
In den USA gelten Erkrankungen mit einer Prävalenz unterhalb von 1:1333 als selten im Sinne dieser Regelung, in Europa unterhalb von 1:2000. Diese Grenzwerte sind naturgemäß arbiträr und werden in verschiedenen Regionen der Welt unterschiedlich definiert (z. B. Australien 1:10.000).
Für Deutschland gilt somit eine Erkrankung als selten, wenn es weniger als 40.000 Betroffene (1:2000, 80 Mio. Einwohner) gibt. Beispiele sind viele endokrine Erkrankungen, die Mukoviszidose, die primäre pulmonale Hypertonie, Gallenwegerkrankungen, Gerinnungsstörungen, Immundefekte und angeborene Stoffwechseldefekte.

Wie häufig sind seltene Stoffwechselkrankheiten?

Derzeit sind über 7000 Stoffwechseldefekte beim Menschen bekannt; auch als Folge neuer humangenetischer Möglichkeiten kommen jährlich mehr als 250 Entitäten hinzu (Nguengang Wakap et al. 2020). Ihre Häufigkeit reicht von etwa 1:5000 (z. B. Mukoviszidose, Störungen des Phenylalaninabbaus) bis hin zu Krankheiten, von denen nur einzelne Fälle weltweit beschrieben wurden (z. B. Molybdän-Kofaktor-Defizienz Typ A). Zwischen den Populationen kann es große Unterschiede in der Häufigkeit genetischer Erkrankungen geben, z. B. als Folge von Konsanguinität oder Gründereffekten.
Die meisten, über 80 %, der beschriebenen Stoffwechseldefekte haben eine Prävalenz von unter 1:106, aber 80 % der betroffenen Patienten leiden an den ca. 4 % häufigsten (Crooke 2021). Damit ist es unter medizinischen Gesichtspunkten durchaus sinnvoll, sich mit diesen häufigeren Stoffwechselerkrankungen zu beschäftigen und gleichzeitig wach zu bleiben für das eventuelle Vorliegen von noch selteneren Krankheiten. Tab. 1 zeigt eine Zusammenstellung der häufigsten seltenen Stoffwechselerkrankungen.
Tab. 1
Häufige angeborene Stoffwechselerkrankungen (MCAD Medium-Chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase; LCHAD Long-Chain-3-Hydroxy-Acyl-CoA-Dehydrogenase; VLCAD Very-Long-Chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase; OTC Ornithin-Transcarbamylase)
Stoffwechselbereich
Defekt/Krankheit
Prävalenz
Aminosäurestoffwechsel
1:10.000
Andere: Ahornsirupkrankheit (MSUD), Tyrosinämie
 
Lysosomale Krankheiten
M. Gaucher
1:40.000
Andere: M. Fabry, Mukopolysaccharidosen, M. Pompe (GSD Typ 2)
 
Kohlenhydratstoffwechsel
Glykogenose (GSD) Typ 1a
1:30.000
Andere: Glykogenosen, Galaktosämie, hereditäre Fruktosämie
 
Betaoxidationsdefekte
MCAD-Mangel
1:10.000
Andere: LCHAD, VLCAD, Carnitintransporterdefekte
 
Weitere Krankheiten
Harnstoffzyklusdefekte (z. B. OTC-Defizienz), schwere Fettstoffwechselstörungen (Chylomikronämie, Tangier’s Disease), Homozysteinurie, Mitochondriopathien, Organoazidurien u. v. a. m.
 

Diagnostik seltener Stoffwechselkrankheiten

Neugeborenenscreening

Seit den 1970er-Jahren ist in Deutschland das Neugeborenenscreening gesetzlich vorgeschrieben. Sein Ziel ist es, im Sinne einer bevölkerungsmedizinischen Präventionsmaßnahme eine vollständige und frühzeitige Erkennung bestimmter Zielkrankheiten bei allen Neugeborenen zu erreichen. Voraussetzung für die Aufnahme einer Erkrankung in das Neugeborenenscreening sind neben der Detektierbarkeit u. a. die Möglichkeit und auch die Notwendigkeit einer frühzeitigen Behandlung, um spätere Schäden zu vermeiden.
Das klassische Neugeborenenscreening umfasste fünf Krankheiten: konnatale Hypothyreose, adrenogenitales Syndrom (AGS), Biotinidasemangel, klassische Galaktosämie und Phenylketonurie. Mit Einführung der Tandem-MS-Technologie kann heute eine Vielzahl weiterer Erkrankungen frühzeitig aus Trockenblut diagnostiziert werden. Tab. 2 zeigt eine Auswertung des deutschlandweiten Neugeborenenscreenings des Jahres 2020 (Deutsche Gesellschaft für Neugeborenenscreening e.V. 2022).
Tab. 2
Häufigkeit der entdeckten Krankheiten 2020 bei 773.144 Geburten. (Deutsche Gesellschaft für Neugeborenenscreening e.V. 2022)
Krankheit
Fälle
Hypothyreose
265
1:2918
Adrenogenitales Syndrom (AGS)
60
1:12.886
Biotinidasemangel
23
1:33.615
Galaktosämie (klassische Form)
19
1:40.692
149
1:5189
-> davon klassische Phenylketonurie (PKU) n = 77/Kofaktormangel n = 2
79
1:9787
2
1:386.572
Medium-Chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase (MCAD)-Mangel
84
1:9204
Long-Chain-3-Hydroxy-Acyl-CoA-Dehydrogenase (LCHAD)-/TFP-Mangel
11
1:70.286
Very-Long-Chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase (VLCAD)-Mangel
12
1:64.429
Carnitin-Palmitoyl-CoA-Transferase I (CPT I)-Mangel
3
1:257.715
Carnitin-Palmitoyl-CoA-Transferase II (CPT II)-Mangel
0
 
Carnitin-Acylcarnitin-Translokase (CACT)-Mangel
0
 
7
1:110.449
Isovalerianazidämie (IVA)
6
1:128.857
7
1:110.449
146
1:5296
Schwere kombinierte Immundefekte (SCID/Leaky-SCID/Syndrome)
32
1:24.161
davon SCID
5
1:154.629
Gesamt
826
1:936
Die kumulative Prävalenz der identifizierten Krankheiten bestätigt erneut eindrucksvoll, dass etwa jeder 1000. Mensch von einer seltenen Erkrankung, häufig des Stoffwechsels, betroffen ist.

Klinische Diagnostik

Wenn eine Krankheit nicht im Neugeborenenscreening abgebildet ist oder die Patienten aus Ländern kommen, in denen kein oder nur ein eingeschränktes Neugeborenenscreening durchgeführt wird, erfolgt die Diagnostik symptomabhängig. Angesichts der Vielzahl an seltenen Stoffwechselerkrankungen ist es mitunter nicht einfach, zügig die korrekte Diagnose zu stellen.
Als genetische Erkrankungen manifestieren sich seltene Stoffwechselkrankheiten oft in der Kindheit. Beispiele für Erkrankungen, die in der Regel bzw. bei schweren Verlaufsformen durch Pädiater diagnostiziert werden, sind z. B. lysosomale Erkrankungen (M. Gaucher, M. Fabry, Mukopolysaccharidosen), schwere Glykogenosen und Harnstoffzyklusdefekte.
Wenn sich seltene Krankheiten erst im Erwachsenenalter manifestieren, z. B. bei leichteren Verläufen der genannten Stoffwechseldefekte, wird die korrekte Diagnose oft erst mit Verzögerung gestellt. Das liegt v. a. daran, dass mit zunehmendem Alter neu aufgetretene Symptome seltener durch angeborene Krankheiten, sondern mit höherer Wahrscheinlichkeit durch erworbene, häufige Erkrankungen verursacht werden. Naturgemäß wird ein Arzt bei seinen Patienten zunächst die wahrscheinlichsten und damit häufigsten Erkrankungen ausschließen, und erst im weiteren Verlauf an die Raritäten denken. Leider führt dies aber auch zu einer Odyssee des Patienten von Arzt zu Arzt und u. U. mehrjährigen Verzögerung beim Erkennen der korrekten Diagnose und bei der Initiierung einer spezifischen Therapie. Beispielhaft dauerte es bei M. Gaucher vom Symptombeginn bis zur korrekten Diagnose bei einem Viertel aller Patienten über 5 Jahre und in Einzelfällen fast 30 Jahre, ein Großteil der Patienten wurde lange rheumatologisch oder hämatologisch betreut (Thomas et al. 2013).

Seltene Stoffwechselkrankheiten im Erwachsenenalter

Neben der Unterdiagnostik von seltenen Krankheiten, die sich erst im Erwachsenenalter manifestieren, fehlt es Ärzten in der „Erwachsenenmedizin“, so auch Internisten, im Gegensatz zu den Pädiatern häufig an Expertise und Erfahrung bei Diagnostik und Therapie seltener Stoffwechselerkrankungen. Eine Umfrage aus dem Jahr 2005 zeigte, dass ein signifikanter Anteil der erwachsenen Patienten mit angeborenen Stoffwechselerkrankungen weiterhin in Kinderkliniken betreut war (Hoffmann et al. 2005). An diesem Zustand hat sich in den vergangenen über 20 Jahren trotz vielfältiger akademischer und politischer Initiativen nur wenig geändert.
Es ist unbedingt notwendig, dass Ärzte, die erwachsene Patienten betreuen, auch mit seltenen Stoffwechselkrankheiten im Grundsatz vertraut sind. Bei vielen Erkrankungen ist lebenslang eine engmaschige Kontrolle und Therapie notwendig; bei anderen stellt eine Schwangerschaft eine besondere Herausforderung dar. Weiterhin sind langfristige Komplikationen seltener Erkrankungen häufig nicht bekannt, oder es gilt, erwachsenentypische Fragestellungen auch in Verbindung mit der Grunderkrankung zu lösen (siehe Übersicht). Verschiedene elektronische Ressourcen sind außerordentlich hilfreich, einige sind in Tab. 3 aufgeführt.
Tab. 3
Ressourcen und Ansprechpartner in Bezug auf seltene Erkrankungen und Stoffwechselerkrankungen
Abkürzung
Ressource/Organisation
Webseite
Portal für seltene Krankheiten und Orphan Drugs
OMIM
Online-Katalog menschlicher Gene und genetischer Störungen
ACHSE
Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen
NAMSE
Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen
ASIM
Arbeitsgemeinschaft für angeborene
Stoffwechselstörungen in der Inneren Medizin
APS
Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Stoffwechselstörungen
Exemplarische Fragestellungen in Verbindung mit seltenen Erkrankungen in der Erwachsenenmedizin
Lebenslange Kontrolle und Therapie zur Minderung der Symptomatik und zum Vermeiden von metabolischen Entgleisungen grundsätzlich notwendig und möglich
In der Schwangerschaft besondere Kontrolle und Therapie notwendig
  • Phenylketonurie (PKU): Maternale PKU mit geistiger Behinderung bei genetisch gesunden Kindern
  • GSD I: Hypoglykämie in der Schwangerschaft, Komplikationen während der Geburt
Vorbeugen eventueller Schäden, die erst im Verlauf des Lebens auftreten
  • Folgen lebenslanger Diät (z. B. mögliche Osteoporose bei PKU)
  • Langfristige Folgen (mögliche neurotoxische Phenylalanin-Spiegel bei PKU, maligne Erkrankungen bei M. Gaucher)
Erwachsenentypische Fragestellungen
  • Sozial (Arbeit, Partnerschaft, Familie, Berentung)
  • Leistungsbegrenzung durch Krankenkassen
  • Auftreten „normaler“ Krankheiten in Kombination mit der Grunderkrankung
Literatur
Crooke ST (2021) A call to arms against ultra-rare diseases. Nat Biotechnol 39:671–677CrossRefPubMed
Deutsche Gesellschaft für Neugeborenenscreening e.V. (2022) Nationaler Screeningreport Deutschland 2020. https://​www.​screening-dgns.​de/​Pdf/​Screeningreports​. Zugegriffen am 04.12.2022
Hoffmann B, Schwarz M, Haussinger D et al (2005) Zur Behandlungssituation erwachsener Patienten mit angeborenen Stoffwechselkrankheiten. Eine Erhebung in Deutschland 100:617–623
Nguengang Wakap S, Lambert DM, Olry A et al (2020) Estimating cumulative point prevalence of rare diseases: analysis of the Orphanet database. Eur J Hum Genet 28:165–173CrossRefPubMed
Thomas AS, Mehta AB, Hughes DA (2013) Diagnosing Gaucher disease: an on-going need for increased awareness amongst haematologists. Blood Cells Mol Dis 50:212–217CrossRefPubMed