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Die Augenheilkunde
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Publiziert am: 13.06.2023

Funktionelle und psychogene Sehstörungen

Verfasst von: Jutta Wiek
Die nicht-organisch bedingte Sehstörung (NOVL) kann in jedem Alter auftreten. Im Unterschied zu Aggravation und Simulation, welche ebenfalls nicht-organisch bedingt sind, ist die NOVL unbewusst. Die hauptsächlich vorkommenden Symptome sind ein- oder beidseitige Sehbeschwerden und/oder Gesichtsfeldausfälle. Bei jungen Patient*innen können schulische oder familiäre Probleme, bei erwachsenen Patient*innen eher physische Traumata, aber auch zugrunde liegende belastende Ereignisse vorliegen. Die Diagnosestellung erfolgt über den Ausschluss einer organischen Augenerkrankung durch notwendige und zielgerichtete Untersuchungen. Die Möglichkeiten therapeutischer Maßnahmen sind begrenzt. Eine klare, vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung ist eine wichtige Grundvoraussetzung. Verordnung einer entsprechenden Brille, Gabe von Tränenersatzmittel und die Versicherung einer guten Prognose führen in den meisten Fällen zum Rückgang der Beschwerden. Erfahrene Ärzt*innen mit hoher Sensibilität sind für diese Patient*innen geeignet.

Einleitung und Definition

Funktionelle oder psychogene Sehstörungen sind dadurch charakterisiert, dass die ophthalmologischen und ggf. neurologischen Untersuchungen keinen pathologischen, organischen Befund ergeben, welcher die Sehstörungen erklären kann oder eine subjektive Sehstörung, die in ihrer Ausprägung nicht in Relation zu einer vorliegenden Augenerkrankung steht. Die funktionelle Sehstörung ist von einer bewussten Aggravation von Sehbeschwerden bei einer Augenerkrankung und einer bewussten Simulation von Sehstörungen abzugrenzen, da die funktionelle Sehstörung unbewusst abläuft.
Im deutschsprachigen Raum wird die funktionelle Sehstörung auch psychogene Sehstörung oder visuelle Konversionsstörung genannt. Im angloamerikanischen Raum werden unterschiedliche Bezeichnungen verwendet (Tab. 1). Für funktionelle und psychogene Sehstörungen wird im Folgenden die Abkürzung NOVL (nonorganic visual loss) verwendet (Sisera et al. 2022). Im angloamerikanischen Sprachgebrauch wird für Simulation „malingering“ verwendet.
Tab. 1
Die verschiedenen, in der Literatur verwendeten angloamerikanischen Bezeichnungen für funktionelle Sehstörungen
Angloamerikanische Bezeichnungen für funktionelle Sehstörungen
Psychogenic visual disorder
Functional visual disorder
Psychogenic visual disturbance
Nonorganic visual loss (NOVL)
Unexplained visual loss
Medically unexplained vision loss

Pathophysiologie, Ursachen

Die Pathophysiologie des NOVL ist bislang ungeklärt. Nach Sigmund Freud handelt es sich bei einem Konversionssyndrom um eine Umkehrung eines seelischen Konfliktes in ein körperliches Symptom. Im Gegensatz zu Aggravation und Simulation ist der Konversionsvorgang eine unbewusste Reaktion des Körpers auf eine Stresssituation oder auf ein erlittenes Trauma (Phansalkar et al. 2022; Thieme et al. 2021). Beispielsweise wurde NOVL bei Soldaten beschrieben, die im Irak- und Afghanistankrieg emotionalem Stress und physischen Traumata bei Kampfhandlungen ausgesetzt waren (Broderick et al. 2017). Bei Kindern können Probleme im schulischen oder familiären Umfeld oder physischer und psychischer Missbrauch oder Traumata mögliche Auslöser für NOVL sein (Sisera et al. 2022). In älteren Arbeiten wurden bei Patient*innen mit NOVL in persönlichkeitspsychologischen Tests keine übereinstimmenden Persönlichkeitsprofile gefunden.
Die Pathophysiologie der NOVL ist ungeklärt.

Epidemiologie, Alter, Gender

Schon 1865 erschien die erste Fallbeschreibung einer NOVL. Trotzdem wurden seither nur wenige Fallstudien veröffentlicht und es gibt nur sehr wenige Studien, die sich mit NOVL beschäftigen. Bei den durchgeführten Studien handelt es fast überwiegend um retrospektive Auswertungen.
In der Ambulanz einer Augenklinik werden etwa 1–5 % der Patient*innen mit NOVL vorstellig oder werden mit dieser Diagnose von niedergelassenen Kolleg*innen überwiesen (Phansalkar et al. 2022; Mursch-Edlmayr et al. 2018). In neuroophthalmologischen Universitätsambulanzen haben bis zu 12 % der Patient*innen ein NOVL (Soares de Souza et al. 2022).
Ab einem Alter von ca. 6 Jahren wird bei Kindern das Auftreten einer NOVL beobachtet. Das mittlere Alter bei Kindern und Jugendlichen liegt bei 10–12 Jahren (Somers et al. 2016; Steffen 2018; Brunner et al. 2021; Sisera et al. 2022) und bei Erwachsenen bei 40–47 Jahren (Soares de Souza et al. 2022).
Sowohl bei Kindern und Jugendlichen als auch bei Erwachsenen liegt der Anteil der Mädchen bzw. der Frauen bei 65–75 % (Sisera et al. 2022; Brunner et al. 2021; O’Leary et al. 2016; Somers et al. 2016).

Risikofaktoren

Die Angaben über prädisponierende Ereignisse wie psychische Stressoren und über psychiatrische Vorerkrankungen bei NOVL differieren deutlich. Bei Kindern werden in 25 bis 31 % psychische Stressfaktoren angegeben. Darunter fallen schulische Probleme wie Überforderung oder Mobbing und familiäre Probleme wie psychischer, physischer oder sexueller Missbrauch, Scheidung der Eltern, behindertes Geschwisterkind, Verlust einer nahestehenden Person. Bei 4 bis 16 % der Kinder und Jugendlichen wurde ein mildes Trauma angegeben, bei bis zu 17 % der Wunsch nach einer Brille oder nach Aufmerksamkeit im Sinne eines sekundären Krankheitsgewinns. Vorbestehende Depression, Angststörung, ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom) oder Legasthenie hatten zwischen 12 bis 38 % der nicht erwachsenen Patient*innen. Keine Ursache wurde bei 33–41 % gefunden (Somers et al. 2016; Steffen 2018; Brunner et al. 2021; Sisera et al. 2022).
Bei Erwachsenen ist die Datenlage über Risikofaktoren bei NOVL geringer als bei Kindern und Jugendlichen. In einer kleinen Serie von Einzelfallbeschreibungen wird das Auftreten von NOVL bei Soldaten in Kriegshandlungen beschrieben. Zum einen bestand eine psychische Stresssituation im Rahmen der Kampfhandlungen, zum anderen erlebten die Soldaten physische Traumata (Broderick et al. 2017). Gerade bei Erwachsenen überwiegen Augenverletzungen und früher durchgemachte Augenerkrankungen im Gegensatz zu Kindern und Jugendlichen. Eine zugrunde liegende psychiatrische Diagnose besteht bei knapp einem Drittel der Patient*innen. Dieses sind vorwiegend Depressionen oder Angsterkrankungen (Steffen 2018; O’Leary et al. 2016). Über die Häufigkeit und Art von psychischen Stressoren, die einem NOVL vorangingen, fehlen aussagekräftige Studien.

Klinik

Die häufigsten Symptome bei NOVL sind Visusverschlechterung bis hin zum Visusverlust, Verschwommensehen und/oder Gesichtsfelddefekte, die sich häufig als konzentrische Einengung äußern. Bei 55–85 % der Patient*innen handelt es sich um bilaterale Sehstörungen. Die Bilateralität überwiegt bei Kindern und Jugendlichen, bei Erwachsenen sind die Symptome häufiger einseitig. Gesichtsfelddefekte treten isoliert oder zusätzlich zu Sehstörungen in 48–58 % auf (Sisera et al. 2022; Brunner et al. 2021; Raviskanthan et al. 2022; Somers et al. 2016).
Die häufigste Augenbewegungsstörung bei Kindern ist der Konvergenzspasmus, außerdem können Blinzeltics oder Augenverdrehen auftreten sowie Blickparesen, Farbsehstörungen und Trichotillomanie (Zupfen von Wimpern und Brauen). (Egan und LaFrance 2015; Thieme et al. 2021) (Tab. 2).
Tab. 2
Häufige, eher seltene und mögliche zusätzliche Symptome bei NOVL
 
Symptome bei funktionellen Sehstörungen (NOVL)
Häufig
Visusverschlechterung
 
Verschwommensehen
 
Gesichtsfeldausfall
Eher selten
Pseudoparese
 
Willkürlicher Nystagmus
 
Konvergenzspasmus
 
Farbsinnstörung
 
Diplopie bei Akkommodationsstörung
 
Ptosis
 
Blinzeltic
 
Trichotillomanie (Zupfen von Wimpern u. Brauen)
 
Fotophobie, Fotopsie
Zusätzlich
 
Augenbewegungsschmerz
 
 
Übelkeit
Bei Erwachsenen werden neben Visusverschlechterung und Gesichtsfelddefizit auch Flimmern, erhöhte Blendempfindlichkeit, bei psychischer Überlagerung deutliche Störung durch Glaskörpertrübungen oder Sicca-Symptomatik angegeben. Die Augensymptome gehen nicht selten mit begleitenden Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit oder unspezifischen Schmerzen im Augenbereich einher (Steffen 2018).

Diagnostik

Allgemeines Verhalten

Eine wichtige Grundlage bei der Untersuchung von Patient*innen mit Verdacht auf NOVL ist die genaue Beobachtung des Verhaltens. Gibt der Patient mir die Hand, obwohl ich ihm meine nur im unteren Gesichtsfeld hinhalte, wie bewegt sie sich im Raum, stößt er irgendwo an, nimmt sie Blickkontakt auf? Wie sind Mimik und Gestik? Passt das Verhalten zu den angegebenen Sehstörungen?

Anamnese

Der zweite wichtige Schritt ist eine zielgerichtete Anamnese:
  • Welche Symptome seit wann?
  • Einseitig oder beidseitig?
  • Schwanken die Beschwerden oder sind sie konstant?
  • Ist so etwas schonmal vorgekommen?
  • Ist mit dem Auge/den Augen vorher etwas gewesen, ein Unfall, Ball auf das Auge oder ähnliches?
  • Bei Kindern: Gibt es etwas Erwähnenswertes von der Schule (Schulwechsel, Mobbing, Lernprobleme) oder in der Familie (Trennung der Eltern, Änderung der Familienzusammensetzung, Probleme mit Geschwistern).
  • Bei Erwachsenen: Was arbeiten Sie? Gibt es Probleme bei der Arbeit? Wie ist die familiäre Situation? Gab es Veränderungen wie Hochzeit, Scheidung, Familienzuwachs, Berentung, Hauskauf, finanzielle Probleme?
Die Patient*in sollte beim Stellen der Fragen genau beobachtet werden, um die spontane Reaktion auf die Fragen zu bemerken. Möglicherweise wird die Frage nach einem Problembereich zwar mit „Da ist alles in Ordnung.“ beantwortet, aber die spontane Mimik lässt vermuten, dass das nicht stimmt. Dann kann behutsam nachgehakt werden.
Dabei sollte den Patient*innen gegenüber eine respektvolle und wohlwollende Haltung eingenommen werden. Ein Ausdruck von Misstrauen oder Unglaube sollte unbedingt vermieden werden, selbst bei Verdacht auf Simulation, also einer bewussten Vortäuschung von Augenproblemen (Raviskanthan et al. 2022; Steffen 2018; Phansalkar et al. 2022).
Respektvolle und wohlwollende Haltung den Patient*innen gegenüber.

Abgrenzung der NOVL von Aggravation und Simulation

Bei der Erstvorstellung sollte möglichst herausgefunden werden, ob es sich um eine Aggravation oder Simulation handelt oder ob ein NOVL vorliegt. Diese Unterscheidung ist in vielen Fällen durch sensibles Beobachten der Patient*innen, der Begleitpersonen und genaues Hinhören bei der Anamnese möglich. Hat man eine Jugendliche als Patientin, die schön öfters mit verschiedenen, nicht erklärbaren Symptomen vorstellig war, die einen verkniffenen, verheimlichenden Eindruck erweckt oder eine Begleitperson, die die Folgen eines Bagatellunfalls des Sohnes bei der Versicherung geltend machen will oder einen Patienten Mitte 50, der in Rente gehen möchte und Augenprobleme geltend machen will, dann besteht die hohe Wahrscheinlichkeit einer bewussten Aggravation oder Simulation. Besonders wenn eine gutachterliche oder versicherungsrechtliche Stellungnahme erforderlich ist, müssen die Patient*innen von einer erfahrenen Kollegin, einem erfahrenen Kollegen umfangreich ophthalmologisch untersucht werden. Sie müssen mit den Untersuchungsmethoden zum Nachweis einer Simulation vertraut sein. Möglicherweise ist die Vorstellung in einer neuroophthalmologischen Ambulanz inklusive elektrophysiologischer Untersuchung notwendig. (Kröger et al. 2017; Sun et al. 2015).
Abgrenzung von Aggravation und Simulation bei NOVL besonders bei gutachterlichen und versicherungsrechtlichen Stellungnahmen.

Diagnostik bei NOVL

Hat man den berechtigten Verdacht auf eine NOVL, sollte die Diagnose möglichst zeitig mit den notwendigen Untersuchungen verifiziert werden. Zunächst handelt es sich um eine Ausschlussdiagnose. Falls die üblichen Untersuchungsmethoden zum Ausschluss einer organischen Augenerkrankung wie Refraktionsbestimmung, Visusprüfung, Spaltlampenuntersuchung, Gesichtsfeldprüfung, Tonometrie, Fundusuntersuchung keine organischen Auffälligkeiten zeigen, aber Diskrepanzen zu den Angaben des Patienten bestehen, muss in diesem speziellen Bereich genauer untersucht werden. Tab. 3.
Tab. 3
Verschiedene Untersuchungsmethoden bei Verdacht auf NOVL
 
Prüfmethode
Modifikation bei V. a. NOVL
Visusprüfung
Mit optimaler Brillenkorrektur Sehtest mit Optotypen (Zahlen, Landoltringe)
Mit kleinen Optotypen beginnen
  
Distanzverdoppelung
  
Polarisationsgläser
  
Rot-Grün Dissoziation
  
Nahvisus
Gesichtsfeldprüfung
Goldmann GF
Die gleichen Isopteren mehrfach prüfen
  
Motilitäts-Gesichtsfeld
  
Binokulares Gesichtsfeld
  
Sakkadenprüfung
Spaltlampenuntersuchung
  
Fundusuntersuchung
 
Ggf. OCT
Orthoptische Untersuchung
Covertest, Motilität, Optokinetischer Nystagmus, Stereosehen
 
Skiaskopie
 
Ggf. in Cycloplegie
Farbensehen
Ishiharatest u. a.
 
Spiegeltest
Spiegelbewegungen nah vor den Augen
 
Pupillenreaktion
Direkt u. swinging flash light Test (RAPD)
 
Ophthalmoskopie
Direkt
Sternchen im Ophthalmoskop fixieren lassen
Elektrophysiologische Tests
ERG, VEP
Visus-VEP
Neurologisches Konsil
  
Psychiatrisches Konsil
  
Verwendete Abkürzungen: OCT optische Cohärenztomografie, RAPD relatives afferentes Pupillendefizit, ERG Elektroretinogramm, VEP visuell evoziertes Potenzial
Gibt die Patient*in einen vollständigen Sehverlust eines Auges oder beider Augen an, kann dies anhand der Pupillenreaktion oder mit einem Spiegeltest, bei dem ein großer Spiegel nahe vor dem Gesicht hin und her bewegt wird, verifiziert werden. Bei vorhandenem Sehvermögen sind Augenmitbewegungen beim Spiegeltest nicht zu unterdrücken. Eine einseitige deutliche Sehminderung wird über den Swinging-Flashlight-Test (Ausschluss eines RAPD = relatives afferentes Pupillendefizit) ausgeschlossen oder bestätigt, z. B. bei einer Sehnervenerkrankung. Wird eine Sehminderung angegeben, kann mit optimaler Refraktion ein zweiter Sehtest, beginnend mit kleinen Optotypen erfolgen oder ein Nahsehtest durchgeführt werden. Dabei sollten die Patient*innen ermutigt werden, die kleine Schrift oder die kleinen Optotypen zu lesen. Patient*innen mit NOVL zeigen häufig inkonsistente Untersuchungsergebnisse. Auch ein Stereotest ist bei deutlicher einseitig oder beidseitig angegebener Sehverschlechterung eine gute Prüfmöglichkeit (Sitko et al. 2016; Sisera et al. 2022; Raviskanthan et al. 2022; Steffen 2018).
Bei Angabe eines Gesichtsfelddefektes sollte eine kinetische Goldmann-Perimetrie erfolgen. Werden unklare Skotome angegeben, ist die Prüfung mit gleicher Isoptere zu wiederholen. Dabei ist die Mitarbeit und Fixation genau zu beobachten, da im Unterschied zur Aggravation oder Simulation bei Patient*innen mit NOVL in der Regel eine gute Kooperation vorhanden ist.
Ein Motilitätsgesichtsfeld, bei dem der Patient entweder vom Zentrum aus einer Lichtmarke folgen soll, oder eine Blickbewegung zu einem Lichtpunkt, der von der Peripherie her auftaucht, machen soll, kann angegebene Skotome oder Motilitätsstörungen widerlegen. Bei einem Tunnelgesichtsfeld kann eine Sakkadenprüfung erfolgen, bei der die Fixationsobjekte in das periphere Gesichtsfeld gehalten werden, die bei einem tatsächlich vorhandenen Tunnelgesichtsfeld gar nicht gesehen werden können. Bei unklarem einseitigen Gesichtsfeldausfall kann ein binokulares Gesichtsfeld erfolgen. Wird der Ausfall auch binokular angegeben, ist von einem NOVL auszugehen (Steffen 2018).
Bei Kindern führt man eine orthoptische Untersuchung durch inklusive einer direkten Ophthalmoskopie mit Aufforderung zur Fixation des Sternchens, was Auskunft gibt über einen möglichen Nystagmus oder eine Fixationsinsuffizienz. Die stabile Fixation des Sternchens ist mit einer hochgradigen Visusminderung nicht vereinbar. Bei unklarer Visusminderung sollte eine Cyclolat-Skiaskopie zur objektiven Messung der Refraktion durchgeführt werden.
Ist die Untersucher*in sich nicht sicher bezüglich einer möglichen Makulaerkrankung, sollte sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen ein OCT (Optische Cohärenztomografie) durchgeführt werden (Steffen 2018; Raviskanthan et al. 2022; Sisera et al. 2022).
Für die Diagnostik eines NOVL ist eine erfahrene Untersucher*in erforderlich.

Elektrophysiologische Abklärung

Falls alle durchgeführten Untersuchungen keine organische Ursache für die angegebenen Sehstörungen ergeben haben und die Diagnose eines NOVL objektiviert werden soll, bietet sich eine elektrophysiologische Untersuchung an. Mit einem ERG (Elektroretinogramm) kann die normale Funktion der Netzhaut objektiv nachgewiesen werden. Mit einem VEP (visuell evozierte Potenziale) kann die regelrechte Weiterleitung der Sehinformationen über den Sehnerven zum Gehirn verifiziert werden. Ein Visus-VEP kann bei guter Mitarbeit der Patient*innen durch stabile Fixation eine objektive Aussage über das vorhandene Sehvermögen geben. Bei deutlicher Diskrepanz zwischen angegebenem Sehvermögen und dem Ergebnis des Visus-VEP bei guter Kooperation kann von einem NOVL ausgegangen werden. Ein Visus-VEP kann auch zum Nachweis einer Simulation herangezogen werden (Somers et al. 2016; Soares de Souza et al. 2016; 2022; Raviskanthan et al. 2022).

Zeitnahe, notwendige und zielgerichtete Untersuchungen

Bei Verdacht auf einen NOVL sollten die notwendigen Untersuchungen zeitnah, angepasst und zielgerichtet erfolgen und die Diagnose möglichst rasch gestellt werden. Alle nur irgendwie möglichen Untersuchungen durchzuführen und diese auch mehrfach aus eigener Unsicherheit oder aus Scheu, die Diagnose zu stellen und zu kommunizieren, führen möglicherweise zu einer Chronifizierung der Symptome, zu belastenden Untersuchungen und zu einem Vertrauensverlust (Thieme et al. 2021; Brunner et al. 2021).
Unnötige Untersuchungen vermeiden.

Nichtophthalmologische Untersuchungen

Ein neurologisches Konsil sollte bei anhaltenden Kopfschmerzen oder zusätzlicher neurologischer Symptomatik erfolgen. Ein psychiatrisches Konsil sollte bei vorbestehender Depressions- oder Angstsymptomatik erfolgen oder bei zusätzlich zu den Augensymptomen auftretenden neurotischen oder psychotischen Symptomen (Lescher et al. 2016; Brunner et al. 2021).

Differenzialdiagnostik

Bei Verdacht auf einen NOVL ist an die in Tab. 4 aufgeführten Differenzialdiagnosen zu denken, die nicht alle leicht zu diagnostizieren sind. Bei einer möglicherweise vorhandenen Netzhauterkrankung ist die Durchführung eines OCTs notwendig und/oder eine elektrophysiologische Untersuchung bzw. eine Fluoreszenzangiografie. Liegt eventuell eine Sehnervenerkrankung vor, ist ein Swinging-Flashlight-Test und ein VEP durchzuführen.
Tab. 4
Mögliche Differenzialdiagnosen und die durchzuführende Differenzialdiagnostik bei NOVL
 
Mögliche Differenzialdiagnosen
Differenzialdiagostik
 
x-chromosomale Retinoschisis
OCT, Funduskopie
 
M. Stargardt
FAG, Fundudkopie
 
Chorioretinopathia Pigmentosa
Funduskopie, ERG
 
Fovea plana
OCT
 
Paraneoplastische Retinopathie
Anamnese, Antikörpertest (Onkologie)
 
Lebersche hereditäre Optikusneuropathie
Anamnese, Genetische Untersuchung
 
Optikusatrophie
Funduskopie, OCT, RAPD
 
Beginnende Makuladegeneration
Funduskopie, OCT
 
Drusenpapille
Ultraschall B-Bild
 
AION
Funduskopie, OCT, RAPD
 
Amblyopie
Orthoptische Untersuchung
 
Mikrostrabismus
Orthoptische Untersuchung
 
Apoplex
Neurologie, MRT
 
Intrakranieller Tumor oder Blutung
Neurologie, MRT
 
Hausarzt, Internist
 
Neurologische Erkrankung (MS, Migräne, Alzheimer Erkrankung)
Neurologie
 
Psychiatrische Erkrankung
Psychiatrie
Internistische Erkrankungen wie Diabetes mellitus oder eine dekompensierte Hypertonie können Sehstörungen hervorrufen, sodass eine Vorstellung beim Hausarzt oder Internistin erfolgen soll. Besteht der Verdacht auf eine zugrunde liegende cerebrale oder neurologische Erkrankung, muss umgehend eine Untersuchung beim Neurolog*in organisiert werden, der über die Notwendigkeit eines CTs oder MRTs entscheidet (Raviskanthan et al. 2022; Brunner et al. 2021; Lescher et al. 2016).
Es ist zu bedenken, dass psychiatrische Erkrankungen wie Schizophrenie oder dissoziative Syndrome Sehstörungen hervorrufen können, ebenso wie Psychopharmaka. Gibt die Patient*in in der Anamnese eine psychiatrische Erkrankung oder die Einnahme von Psychopharmaka an, sollte an eine Vorstellung beim Psychiater*in gedacht werden (Soares de Souza et al. 2022).
Bei Kindern mit NOVL ist eine harmlose Erklärung wie der Wunsch nach einer Brille oder nach erhöhter Aufmerksamkeit der Eltern oder der Umgebung mit in die Überlegungen einzubeziehen.
Verwendete Abkürzungen: OCT optische Cohärenztomografie, FAG Fluoreszenzangiografie, ERG Elektroretinogramm, RAPD relatives afferentes Pupillendefizit, MRT Magnetresonanztomografie, MS Multiple Sklerose, AION anteriore ischämische Optikusneuropathie

Therapie

Eine standardisierte Therapie bei NOVL gibt es nicht. Eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung ist die Basis für einen Rückgang oder ein Verschwinden der NOVL. Die Aufgabe der Untersucher*in ist keinesfalls eine Bloßstellung oder eine Verurteilung der Patient*innen, deshalb sind misstrauische oder zweifelnde Äußerungen zu unterlassen. Ein verständnisvoller, empathischer Umgang und ein Ernstnehmen der Symptome schaffen eine vertrauensvolle Atmosphäre.
In einem ruhigen Setting wird dem Kind oder Jugendlichen im Beisein der Eltern versichert, dass keine organische Erkrankung der Augen vorliegt. Den Eltern muss erklärt werden, dass es sich um unbewusst hervorgebrachte Symptome handelt und auf keinen Fall eine Bestrafung, sondern Unterstützung des Kindes notwendig ist. Möglicherweise sollte dieser Teil des Gesprächs mit den Eltern alleine geführt werden. Schon allein die Versicherung, dass keine organische Erkrankung der Augen vorliegt, kann zu einer Beruhigung der Situation führen. Den Kindern und Jugendlichen sollte es möglich sein, ohne Gesichtsverlust von ihren Augensymptomen lassen zu können. Dieses kann durch die Versicherung der Ärzt*in erfolgen, dass die Chancen auf eine Verbesserung und Normalisierung sehr gut sind. Bei manchen Kindern kann eine Brille mit entsprechender Refraktion oder Plangläsern helfen oder die Gabe von Tränenersatzmitteln (Phansalkar et al. 2022; Raviskanthan et al. 2022; Steffen 2018).
Auch bei Erwachsenen ist eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Bindung, die Versicherung, dass keine organische Augenerkrankung vorliegt und die Prognose sehr gut ist eine positive Basis. Ebenso kann bei dieser Patientengruppe die Verordnung einer Brille oder benetzende Augentropfen hilfreich sein. In manchen Arbeiten sind Hypnoseverfahren oder transkraniale Magnetstimulation mit möglicher positiver Wirkung beschrieben worden (Phansalkar et al. 2022; Yeo et al. 2019).
Erfahrungsgemäß verschwinden die Symptome des NOVL bei Erwachsenen nicht so leicht und schnell wie bei Kindern und Jugendlichen, ohne dass verlässliche Zahlen vorliegen. Kommt es zu einer Chronifizierung ist bei Kindern die Zusammenarbeit des Ophthalmologen, Pädiaters und ggf. Psychotherapeuten notwendig. Bei Erwachsenen ist bei Persistenz der Symptome möglicherweise ein Anti-Stress-Training oder die Empfehlung für eine psychotherapeutische Behandlung notwendig (Brunner et al. 2021; Mursch-Edlmayr et al. 2018; Sisera et al. 2022).
Therapeutische Maßnahmen: Beruhigung, Versicherung, dass keine organische Erkrankung der Augen besteht, eventuell Brille und/oder Tränenersatzmittel verordnen.

Verlauf, Prognose

Die Prognose bei NOVL ist trotz aller Schwierigkeiten bei der Diagnostik und begrenzter Therapiemöglichkeiten sehr gut. Bis zu 89 % der Patient*innen mit NOVL zeigen innerhalb eines Jahres eine Besserung ihrer Symptome nach Beruhigung, Rückversicherung und ggf. Verordnung einer Brille und/oder Tränenersatzmittel. Begünstigende Faktoren für eine Besserung sind jüngeres Alter und die Abwesenheit einer psychiatrischen Erkrankung. Es besteht keine nachgewiesene Korrelation zwischen der Dauer der Symptome bei Vorstellung und der Geschwindigkeit der Verbesserung (Phansalkar et al. 2022; Sisera et al. 2022).
Essenziell für einen günstigen Verlauf sind allerdings eine vertrauensvolle Arzt-Patienten Beziehung, die Durchführung nur der notwendigen und zielführenden Untersuchungen und eine ruhige und klare Mitteilung der Diagnose. Anderenfalls kann es zu einer Chronifizierung der Symptome und inneren Abwehr der Patient*innen kommen mit Festhalten an dem Glauben an eine organische Erkrankung.
Die Prognose bei NOVL ist sehr gut.

Besondere Aspekte

Ein breites Spektrum an Ursachen kann einer NOVL zugrunde liegen. Von dem Wunsch nach Aufmerksamkeit bis hin zu schwerer Traumatisierung durch Missbrauch oder einer psychischen Erkrankung können dem Augenarzt, der Augenärztin alle möglichen Facetten begegnen. Hierbei ist zum einen gute fachliche Kompetenz und zum anderen ein sensibles Gespür für die Patient*innen notwendig. Die fachliche Kompetenz kann man sich aneignen, aber auch der empathische Umgang mit den NOVL-Patient*innen ist erlernbar. Eine Ausbildung in Psychosomatischer Grundversorgung ist sehr empfehlenswert, um die Kunst einer guten Gesprächsführung, das Erkennen von psychosomatischen Zusammenhängen und das Erarbeiten eines vertrauensvollen Arzt-Patienten-Verhältnisses zu erlernen (Wiek und Emmerich 2022).
Erkennt oder befürchtet der Augenarzt, die Augenärztin eine Traumatisierung oder eine psychische Erkrankung als Ursache für einen NOVL, sollte eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Pädiater*innen, Psychiater*innen und psychosozialem Dienst angestrebt werden (Sisera et al. 2022; Dattilo et al. 2016).
Sensibler Umgang mit den Patient*innen.

Zusammenfassung

  • Die unbewusste funktionelle Sehstörung (NOVL) muss von Aggravation und Simulation abgrenzt werden.
  • Hauptsymptome sind ein- oder beidseitige Sehbeschwerden und/oder Gesichtsfelddefekte.
  • Als Ursache sind psychische Stresssituationen oder physisches Trauma möglich.
  • Die Diagnostik zielt in erster Linie auf den Ausschluss einer organischen Erkrankung und in zweiter Linie auf den objektiven Nachweis der NOVL.
  • Es gibt wenige therapeutische Maßnahmen: vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung, Versicherung der guten Prognose, eventuell Brillenverordnung, Tränenersatzmittel.
  • Bis zu 90 % Rückgang oder Verschwinden der Symptome innerhalb eines Jahres.
  • Fachlich kompetente Ophthalmolog*innen mit Gespür für psychische Vorgänge bei den Patient*innen sind notwendig.
  • Zusatzausbildung in Psychosomatischer Grundversorgung ist sehr zu empfehlen.
  • Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Pädiatern, Neurologen, Psychiatern, Psychotherapeuten kann notwendig sein.
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