Allgemeines Verhalten
Eine wichtige Grundlage bei der Untersuchung von Patient*innen mit Verdacht auf NOVL ist die genaue Beobachtung des Verhaltens. Gibt der Patient mir die Hand, obwohl ich ihm meine nur im unteren Gesichtsfeld hinhalte, wie bewegt sie sich im Raum, stößt er irgendwo an, nimmt sie Blickkontakt auf? Wie sind Mimik und Gestik? Passt das Verhalten zu den angegebenen Sehstörungen?
Anamnese
Der zweite wichtige Schritt ist eine zielgerichtete Anamnese:
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Welche Symptome seit wann?
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Einseitig oder beidseitig?
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Schwanken die Beschwerden oder sind sie konstant?
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Ist so etwas schonmal vorgekommen?
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Ist mit dem Auge/den Augen vorher etwas gewesen, ein Unfall, Ball auf das Auge oder ähnliches?
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Bei Kindern: Gibt es etwas Erwähnenswertes von der Schule (Schulwechsel, Mobbing, Lernprobleme) oder in der Familie (Trennung der Eltern, Änderung der Familienzusammensetzung, Probleme mit Geschwistern).
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Bei Erwachsenen: Was arbeiten Sie? Gibt es Probleme bei der Arbeit? Wie ist die familiäre Situation? Gab es Veränderungen wie Hochzeit, Scheidung, Familienzuwachs, Berentung, Hauskauf, finanzielle Probleme?
Die Patient*in sollte beim Stellen der Fragen genau beobachtet werden, um die spontane Reaktion auf die Fragen zu bemerken. Möglicherweise wird die Frage nach einem Problembereich zwar mit „Da ist alles in Ordnung.“ beantwortet, aber die spontane Mimik lässt vermuten, dass das nicht stimmt. Dann kann behutsam nachgehakt werden.
Dabei sollte den Patient*innen gegenüber eine respektvolle und wohlwollende Haltung
eingenommen werden. Ein Ausdruck von Misstrauen oder Unglaube sollte unbedingt vermieden werden, selbst bei Verdacht auf
Simulation, also einer bewussten Vortäuschung von Augenproblemen (Raviskanthan et al.
2022; Steffen
2018; Phansalkar et al.
2022).
Respektvolle und wohlwollende Haltung den Patient*innen gegenüber.
Abgrenzung der NOVL von Aggravation und Simulation
Bei der Erstvorstellung sollte möglichst herausgefunden werden, ob es sich um eine Aggravation oder
Simulation handelt oder ob ein NOVL vorliegt. Diese Unterscheidung ist in vielen Fällen durch sensibles Beobachten der Patient*innen, der Begleitpersonen und genaues Hinhören bei der Anamnese möglich. Hat man eine Jugendliche als Patientin, die schön öfters mit verschiedenen, nicht erklärbaren Symptomen vorstellig war, die einen verkniffenen, verheimlichenden Eindruck erweckt oder eine Begleitperson, die die Folgen eines Bagatellunfalls des Sohnes bei der Versicherung geltend machen will oder einen Patienten Mitte 50, der in Rente gehen möchte und Augenprobleme geltend machen will, dann besteht die hohe Wahrscheinlichkeit einer bewussten Aggravation
oder Simulation. Besonders wenn eine gutachterliche oder versicherungsrechtliche Stellungnahme erforderlich ist, müssen die Patient*innen von einer erfahrenen Kollegin, einem erfahrenen Kollegen umfangreich ophthalmologisch untersucht werden. Sie müssen mit den Untersuchungsmethoden zum Nachweis einer Simulation vertraut sein. Möglicherweise ist die Vorstellung in einer neuroophthalmologischen Ambulanz
inklusive elektrophysiologischer Untersuchung notwendig. (Kröger et al.
2017; Sun et al.
2015).
Abgrenzung von Aggravation und Simulation bei NOVL besonders bei gutachterlichen und versicherungsrechtlichen Stellungnahmen.
Diagnostik bei NOVL
Hat man den berechtigten Verdacht auf eine NOVL, sollte die Diagnose möglichst zeitig mit den notwendigen Untersuchungen verifiziert werden. Zunächst handelt es sich um eine Ausschlussdiagnose
. Falls die üblichen Untersuchungsmethoden zum Ausschluss einer organischen Augenerkrankung wie Refraktionsbestimmung, Visusprüfung, Spaltlampenuntersuchung, Gesichtsfeldprüfung, Tonometrie, Fundusuntersuchung keine organischen Auffälligkeiten zeigen, aber Diskrepanzen zu den Angaben des Patienten bestehen, muss in diesem speziellen Bereich genauer untersucht werden. Tab.
3.
Tab. 3
Verschiedene Untersuchungsmethoden bei Verdacht auf NOVL
Visusprüfung | Mit optimaler Brillenkorrektur Sehtest mit Optotypen (Zahlen, Landoltringe) | Mit kleinen Optotypen beginnen |
| | Distanzverdoppelung |
| | Polarisationsgläser |
| | Rot-Grün Dissoziation |
| | Nahvisus |
Gesichtsfeldprüfung | Goldmann GF | Die gleichen Isopteren mehrfach prüfen |
| | Motilitäts-Gesichtsfeld |
| | Binokulares Gesichtsfeld |
| | Sakkadenprüfung |
Spaltlampenuntersuchung | | |
Fundusuntersuchung | | Ggf. OCT |
Orthoptische Untersuchung | Covertest, Motilität, Optokinetischer Nystagmus, Stereosehen | |
Skiaskopie | | Ggf. in Cycloplegie |
Farbensehen | Ishiharatest u. a. | |
Spiegeltest | Spiegelbewegungen nah vor den Augen | |
Pupillenreaktion | Direkt u. swinging flash light Test (RAPD) | |
Ophthalmoskopie | Direkt | Sternchen im Ophthalmoskop fixieren lassen |
Elektrophysiologische Tests | | Visus-VEP |
Neurologisches Konsil | | |
Psychiatrisches Konsil | | |
Gibt die Patient*in einen vollständigen Sehverlust eines Auges oder beider Augen an, kann dies anhand der Pupillenreaktion oder mit einem Spiegeltest, bei dem ein großer Spiegel nahe vor dem Gesicht hin und her bewegt wird, verifiziert werden. Bei vorhandenem Sehvermögen sind Augenmitbewegungen beim Spiegeltest nicht zu unterdrücken. Eine einseitige deutliche Sehminderung wird über den Swinging-Flashlight-Test
(Ausschluss eines RAPD = relatives afferentes Pupillendefizit) ausgeschlossen oder bestätigt, z. B. bei einer Sehnervenerkrankung. Wird eine Sehminderung angegeben, kann mit optimaler
Refraktion ein zweiter Sehtest, beginnend mit kleinen Optotypen erfolgen oder ein Nahsehtest durchgeführt werden. Dabei sollten die Patient*innen ermutigt werden, die kleine Schrift oder die kleinen Optotypen zu lesen. Patient*innen mit NOVL zeigen häufig inkonsistente Untersuchungsergebnisse
. Auch ein Stereotest ist bei deutlicher einseitig oder beidseitig angegebener Sehverschlechterung eine gute Prüfmöglichkeit (Sitko et al.
2016; Sisera et al.
2022; Raviskanthan et al.
2022; Steffen
2018).
Bei Angabe eines Gesichtsfelddefektes sollte eine kinetische Goldmann-Perimetrie erfolgen. Werden unklare Skotome angegeben, ist die Prüfung mit gleicher Isoptere zu wiederholen. Dabei ist die Mitarbeit und Fixation genau zu beobachten, da im Unterschied zur Aggravation oder
Simulation bei Patient*innen mit NOVL in der Regel eine gute Kooperation vorhanden ist.
Ein Motilitätsgesichtsfeld, bei dem der Patient entweder vom Zentrum aus einer Lichtmarke folgen soll, oder eine Blickbewegung zu einem Lichtpunkt, der von der Peripherie her auftaucht, machen soll, kann angegebene Skotome oder Motilitätsstörungen widerlegen. Bei einem Tunnelgesichtsfeld kann eine Sakkadenprüfung erfolgen, bei der die Fixationsobjekte in das periphere Gesichtsfeld gehalten werden, die bei einem tatsächlich vorhandenen Tunnelgesichtsfeld
gar nicht gesehen werden können. Bei unklarem einseitigen Gesichtsfeldausfall kann ein binokulares Gesichtsfeld erfolgen. Wird der Ausfall auch binokular angegeben, ist von einem NOVL auszugehen (Steffen
2018).
Bei Kindern führt man eine orthoptische Untersuchung durch inklusive einer direkten Ophthalmoskopie mit Aufforderung zur Fixation des Sternchens, was Auskunft gibt über einen möglichen Nystagmus oder eine Fixationsinsuffizienz. Die stabile Fixation des Sternchens ist mit einer hochgradigen Visusminderung nicht vereinbar. Bei unklarer Visusminderung sollte eine Cyclolat-Skiaskopie
zur objektiven Messung der
Refraktion durchgeführt werden.
Ist die Untersucher*in sich nicht sicher bezüglich einer möglichen Makulaerkrankung, sollte sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen ein OCT (Optische Cohärenztomografie) durchgeführt werden (Steffen
2018; Raviskanthan et al.
2022; Sisera et al.
2022).
Für die Diagnostik eines NOVL ist eine erfahrene Untersucher*in erforderlich.
Elektrophysiologische Abklärung
Falls alle durchgeführten Untersuchungen keine organische Ursache für die angegebenen
Sehstörungen ergeben haben und die Diagnose eines NOVL objektiviert werden soll, bietet sich eine elektrophysiologische Untersuchung
an. Mit einem ERG (Elektroretinogramm) kann die normale Funktion der Netzhaut objektiv nachgewiesen werden. Mit einem
VEP (
visuell evozierte Potenziale) kann die regelrechte Weiterleitung der Sehinformationen über den Sehnerven zum Gehirn verifiziert werden. Ein Visus-VEP kann bei guter Mitarbeit der Patient*innen durch stabile Fixation eine objektive Aussage über das vorhandene Sehvermögen geben. Bei deutlicher Diskrepanz zwischen angegebenem Sehvermögen und dem Ergebnis des Visus-VEP bei guter Kooperation kann von einem NOVL ausgegangen werden. Ein Visus-VEP kann auch zum Nachweis einer
Simulation herangezogen werden (Somers et al.
2016; Soares de Souza et al.
2016;
2022; Raviskanthan et al.
2022).
Zeitnahe, notwendige und zielgerichtete Untersuchungen
Bei Verdacht auf einen NOVL sollten die notwendigen Untersuchungen zeitnah, angepasst und zielgerichtet erfolgen und die Diagnose möglichst rasch gestellt werden. Alle nur irgendwie möglichen Untersuchungen durchzuführen und diese auch mehrfach aus eigener Unsicherheit oder aus Scheu, die Diagnose zu stellen und zu kommunizieren, führen möglicherweise zu einer Chronifizierung
der Symptome, zu belastenden Untersuchungen und zu einem Vertrauensverlust (Thieme et al.
2021; Brunner et al.
2021).
Unnötige Untersuchungen vermeiden.