Die
amyotrophe Lateralsklerose (ALS
) ist durch Degeneration von Motoneuronen im motorischen Kortex, Hirnstamm und Rückenmark bedingt. Mit einer
Prävalenz von etwa 5 auf 100.000 ist die ALS eine nicht so seltene, letal verlaufende neurodegenerative Erkrankung. In über 90 % aller Fälle tritt die ALS sporadisch auf; etwa 10 % der Fälle sind familiär. Bei der überwiegenden Mehrheit dieser familiären Fälle ist der autosomal-dominante Erbgang zu beobachten, jedoch sind selten auch autosomal-rezessive oder X-chromosomale Erbgänge beschrieben (Übersicht bei Boylan
2015). Der rapid progrediente Krankheitsverlauf mit einer mittleren Dauer von etwa 3 Jahren ist hierbei klinisch nicht wesentlich vom sporadischen Typ zu unterscheiden, allerdings liegt das mittlere Erkrankungsalter mit 46 Jahren etwa 10 Jahre unter dem Manifestationsalter bei der sporadischen ALS. Die
Penetranz der dominant vererbten ALS ist altersabhängig: Im Alter von 85 Jahren haben etwa 80 % der Mutationsträger Krankheitssymptome entwickelt, einige Betroffene können also bis zum Tod symptomfrei bleiben. Auch innerhalb einer einzelnen Familie können Manifestationsalter und Erkrankungsverlauf deutlich schwanken. Die familiäre ALS ist genetisch heterogen. Bei etwa 23–30 % der familiären Formen wird die Verlängerung eines Hexanukleotid-Blocks auf
Chromosom 9 (Chromosome 9 open reading frame 72,
C9ORF72) als krankheitsursächliche Veränderung gefunden, es handelt sich also um eine Mikrosatelliten-Expansionserkrankung (Abschn.
3.2). Klinisch zeigt sich hierbei eine starke Überlappung zur
frontotemporalen Demenz (FTD), und das gleichzeitige Auftreten einer FTD beim Patienten (sog. FTD-ALS) oder einer positiven Familienanamnese für FTD wird bei bis zu 50 % der ALS-Patienten, die eine
C9ORF72-Expansion tragen, beobachtet. Bei weiteren 15–20 % der familiären Formen werden Mutationen im Gen für Cu/Zn-Superoxid-Dismutase (
SOD1) auf Chromosom 21q22 gefunden. Daneben wurden in den letzten Jahren einige weitere Gene für die familiäre ALS beschrieben (das Gen für das Tar-DNA-Bindeprotein 43 [
TARDBP] auf Chromosom 1q, das
FUS/TLS-Gen auf Chromosom 16, das Angiogenin-Gen [
ANG] auf Chromosom 14q und das Gen für das VAMP-assoziierte Protein B und C [
VAPB] auf Chromosom 20q). Eine seltene juvenile autosomal-dominante Verlaufsform mit Erkrankungsbeginn vor dem 25. Lebensjahr und langsamer Progredienz wird durch Mutationen im
Senataxin(SETX)-Gen hervorgerufen. Neben der dominant vererbten ALS gibt es auch sehr seltene juvenile Formen, für die ein autosomal-rezessiver Erbgang zu beobachten ist. Auch bei den rezessiven Formen liegt genetische Heterogenität vor: Für einen Teil der Fälle konnten Mutationen im
Alsin-Gen auf Chromosom 2q oder im
Optineurin-Gen auf Chromosom 10 nachgewiesen werden; ein weiterer Genort wird auf Chromosom 15q vermutet.
Pathomechanismus
Der zum selektiven Zelluntergang von Motoneuronen führende Pathomechanismus ist noch nicht ganz klar. Insbesondere die Funktion des C9orf72-Proteins ist bislang weitgehend ungeklärt. Während Normalallele bis zu 25 Wiederholungen des GGGGCC-Hexanukleotidblocks aufweisen, sind bei Betroffenen mit ALS/FTD meist >60 bis zu mehreren Tausend Repeats nachweisbar; eine genaue Grenze, ab wie vielen Repeats von einer pathogenen Wirkung auszugehen ist, wurde allerdings bislang nicht definiert. Verschiedene pathogenetische Mechanismen werden diskutiert, u. a. eine toxische Wirkung der gebildeten RNA oder eine unzureichende Funktion des C9orf72-Proteins im haploiden Zustand (sog. Haploinsuffizienz). Die anderen identifizierten Gene für die familiäre ALS kodieren für Proteine, die an verschiedenen zellulären Mechanismen beteiligt sind, u. a. Oxidation, axonaler Transport, DNA/RNA-Prozessierung und
Apoptose. Diese Beobachtung könnte darauf hindeuten, dass für die Pathogenese der ALS verschiedene Prozesse eine Rolle spielen, die alle letztendlich zu Neurodegeneration führen. Die meisten Erkenntnisse liegen bislang für die
SOD1-assoziierte Form der familiären ALS vor. Die vom
SOD1-Gen kodierte Cu/Zn-Superoxid-Dismutase katalysiert den Abbau des instabilen, hochreaktiven Superoxid-Anions zu Sauerstoff und Wasserstoffperoxid, hat also eine zentrale Funktion im Schutz vor den zytotoxischen Effekten reaktiver Sauerstoffspezies. Das
Enzym ist als Homodimer aus zwei identischen
Untereinheiten aufgebaut. Jede Untereinheit besitzt ein aktives Zentrum, das jeweils ein Kupfer- und ein Zinkatom enthält. Das
SOD1-Gen umfasst 5
Exons und wird in vielen Gewebstypen exprimiert. Insgesamt wurden über 100 unterschiedliche Mutationen in diesem Gen identifiziert, vorwiegend
Missense-Mutationen (zum Austausch einzelner
Aminosäuren führende Einzelbasenaustausche), daneben einzelne Stop-Codon-Mutationen, kleine
Deletionen und Spleißstellenmutationen. Unterschiedliche
SOD1-Mutationen scheinen nach gegenwärtigem Kenntnisstand keinen signifikanten Einfluss auf das Manifestationsalter zu haben, führen aber zu signifikanten Unterschieden der mittleren Erkrankungsdauer in einer Familie, die zwischen wenigen Monaten und mehreren Jahrzehnten variieren kann. Zu erwähnen sind außerdem einzelne Mutationen mit sehr niedriger
Penetranz, die bei scheinbar sporadischem Auftreten der ALS vorliegen können. Die detaillierte Familienanamnese und DNA-Analyse ergab in solchen Fällen, dass es sich tatsächlich um ererbte Mutationen handelt, die nur sehr selten zur Krankheitsausprägung führen. Zudem ist eine rezessiv vererbte Mutation bekannt (D90A), die offenbar nur in homozygotem Zustand krankheitsauslösend wirkt, auch dann nur mit geringer Penetranz.
Der genaue pathogenetische Mechanismus der einzelnen
SOD1-Mutationen ist bislang weitestgehend ungeklärt. Tierexperimentelle Untersuchungen deuten darauf hin, dass weniger eine Abnahme der
Enzymaktivität der Superoxid-Dismutase, z. B. über Strukturveränderungen des
Enzyms oder beschleunigten Abbau, sondern eher mutationsbedingte neuartige, veränderte Funktionen der Superoxid-Dismutase (sog. „gain of function“) mit vermehrter Produktion toxischer Metabolite eine Rolle zu spielen scheinen. Durch beide Mechanismen könnte es letztlich zu einer Störung des zellulären Gleichgewichts in der Umsetzung freier Radikale kommen. Insgesamt ergeben die vorliegenden experimentellen Daten starke Anhaltspunkte dafür, dass oxidative zytotoxische Mechanismen am Zelltod der Motoneurone beteiligt sind.
Im Gegensatz zur familiären ALS, die durch Mutationen in jeweils einem einzelnen Gen hervorgerufen und nach den Mendel‘schen Gesetzen vererbt wird, handelt es sich bei dem überwiegenden Teil aller ALS-Erkrankungen um sporadische Fälle, für die eine komplexe multifaktorielle Entstehung (wie bei
multipler Sklerose, Abschn.
8) vermutet wird. Hierbei spielen vermutlich viele verschiedene Gene eine Rolle, jeweils mit nur sehr geringer Auswirkung auf die Krankheitsausprägung, die in komplexer Interaktion untereinander sowie mit Umweltfaktoren zusammen letztlich die Krankheitsentstehung beeinflussen. In einem kleinen Teil der sporadischen ALS-Fälle werden allerdings auch Mutationen in den o. g. Genen für autosomal-dominante ALS gefunden, und auch modifizierende Faktoren bei gleichzeitigem Vorliegen von Mutationen in mehreren Genen werden diskutiert.