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Klinische Neurologie
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Publiziert am: 28.07.2017

Klinische Neurogenetik: DNA-Diagnostik und Beratungsaspekte

Verfasst von: Sabine Hoffjan und Jörg T. Epplen
Die meisten Kapitel in diesem Buch belegen, dass genetische Gesichtspunkte im Alltag der klinischen Neurologie zunehmend an Bedeutung gewinnen. Aus dem Blickwinkel des Neurologen könnte Humangenetik vereinfacht in Molekularbiologie, Zytogenetik und medizinische Genetik untergliedert werden. Problemstellungen und spezifische Vorgehensweisen in der medizinischen Genetik sind jedoch nur direkt interagierenden Klinikern besser bekannt. Aktuelle Ergebnisse der neurogenetischen Forschung wirken sich unmittelbar auf das diagnostische Vorgehen aus. Beispielsweise können Mutationen in unabhängigen Genen auf verschiedenen Chromosomen klinisch nicht differenzierbare, hereditäre motorisch-sensible Neuropathieformen hervorrufen. Andererseits führen verschiedene Mutationen in ein und demselben Gen, welches für eine Untereinheit eines Kalziumkanals kodiert, zu klinisch offenbar separierten Krankheitsentitäten (hemiplegische Migräne vs. episodische Ataxie vs. SCA6). Humangenetische Forschung weist demnach wesentliche Überschneidungen mit der syndromorientierten klinischen Forschung auf, wobei sich die beiden Arbeitsrichtungen – zunehmend verzahnt – eines identischen Methodenspektrums bedienen. Klinische Genetik versteht sich im Kanon der Medizin als Querschnittsfach mit sehr vielfältigen Bezügen. Die Humangenetik insgesamt fördert aus ihrem biologischen Grundlagencharakter heraus konzeptionell die Medizin des gesamten Menschen. Diese Zusammenhänge werden an einigen ausgewählten Erkrankungen des Zentralnervensystems mit dem gemeinsamen Phänomen der Neurodegeneration bzw. an den hereditären Neuropathien dargestellt.
Die meisten Kapitel in diesem Buch belegen, dass genetische Gesichtspunkte im Alltag der klinischen Neurologie zunehmend an Bedeutung gewinnen. Aus dem Blickwinkel des Neurologen könnte Humangenetik vereinfacht in Molekularbiologie, Zytogenetik und medizinische Genetik untergliedert werden. Problemstellungen und spezifische Vorgehensweisen in der medizinischen Genetik sind jedoch nur direkt interagierenden Klinikern besser bekannt. Aktuelle Ergebnisse der neurogenetischen Forschung wirken sich unmittelbar auf das diagnostische Vorgehen aus. Beispielsweise können Mutationen in unabhängigen Genen auf verschiedenen Chromosomen klinisch nicht differenzierbare, hereditäre motorisch-sensible Neuropathieformen hervorrufen. Andererseits führen verschiedene Mutationen in ein und demselben Gen, welches für eine Untereinheit eines Kalziumkanals kodiert, zu klinisch offenbar separierten Krankheitsentitäten (hemiplegische Migräne vs. episodische Ataxie vs. SCA6). Humangenetische Forschung weist demnach wesentliche Überschneidungen mit der syndromorientierten klinischen Forschung auf, wobei sich die beiden Arbeitsrichtungen – zunehmend verzahnt – eines identischen Methodenspektrums bedienen. Klinische Genetik versteht sich im Kanon der Medizin als Querschnittsfach mit sehr vielfältigen Bezügen. Die Humangenetik insgesamt fördert aus ihrem biologischen Grundlagencharakter heraus konzeptionell die Medizin des gesamten Menschen. Diese Zusammenhänge werden an einigen ausgewählten Erkrankungen des Zentralnervensystems mit dem gemeinsamen Phänomen der Neurodegeneration bzw. an den hereditären Neuropathien dargestellt.

Humangenetische Beratung

Medizinische Genetik bietet neben der molekularbiologischen, biochemischen und Chromosomendiagnostik ein umfassendes Beratungsangebot für Klienten, Patienten und deren Angehörige, z. B. im Rahmen der Zusammenarbeit mit Neurologen. Unter humangenetischer Beratung verstehen wir eine intensive Besprechung aller Fragestellungen, die mit dem Auftreten oder der Befürchtung von angeborenen und/oder genetisch (mit-)bedingten Erkrankungen oder Behinderungen zusammenhängen (WHO-Definition). Die Beratung soll dem Einzelnen bzw. der Familie helfen, die medizinisch-genetischen Fakten zu verstehen, Entscheidungsalternativen zu erwägen und letztlich für sich angemessene Verhaltensweisen zu wählen. Diese fachärztliche Beratung ist natürlich absolut freiwillig. Sie erfolgt personenzentriert gemäß den Konzepten der „Nicht-Direktivität“ sowie „Klientenzentriertheit“ (Carl Rogers).
Mittels molekulargenetischer Diagnoseverfahren können die genetischen Grundlagen monogen vererbter, neurologischer Krankheitsbilder großenteils erfasst werden. Jede molekulargenetische Labordiagnostik im Rahmen medizinisch-genetischer Fragestellungen muss mit dem Angebot einer humangenetischen Fachberatung des Patienten (und ggf. seiner Angehörigen) verbunden sein (s. Gendiagnostik-Gesetz). Diese Beratung findet in enger Interaktion und Koordination mit der Klinik statt, da die exakte klinische Diagnosestellung die wesentliche Voraussetzung für den medizinischen Genetiker ist. Als Indikation für eine genetische Beratung reicht die Befürchtung von genetisch (mit-)bedingten Erkrankungen aus (bezüglich allgemeiner Fragestellungen bei humangenetischen Beratungen vgl. GfH und BVDH 2011).

DNA-Diagnostik

Die Entwicklungen in der molekularbiologischen Forschung – insbesondere das Humangenomprojekt – erlauben prinzipiell, alle Gensequenzen des Menschen sowie krankheitsrelevante Mutationen zu definieren. Diese Errungenschaften haben auch die Neurologie (inkl. der neuromuskulären Sprechstunde) in zunehmendem Maße erfasst, indem immer mehr monogen vererbte Erkrankungen bei entsprechendem klinischen Verdacht mit hoher Sicherheit diagnostiziert werden können. Die Aussagekraft der Diagnostik führt in Kombination mit neuropathologischen Erkenntnissen teilweise sogar zur Neueinteilung der Krankheitsentitäten. Andererseits steht die Aufklärung der pathogenetischen Zusammenhänge für die meisten der bisher identifizierten krankheitsassoziierten Mutationen noch am Anfang. Die zellulären Funktionen der beteiligten Gene und Genprodukte sowie die Mechanismen der Krankheitsentstehung sind oft weitgehend unbekannt. An die Charakterisierung des Krankheitsgens schließt sich deshalb die funktionelle, biochemische Untersuchung des abgeleiteten Proteins an. Tiermodelle bieten erfolgversprechende Ansatzmöglichkeiten, pathophysiologische Abläufe zu analysieren. Sowohl die evolutionär verwandten Gene der Modellorganismen wie auch experimentell erzeugte, transgene Mäuse-/Ratten-Stämme mit den (veränderten) menschlichen Genen werden intensiv untersucht. Demgegenüber ist die DNA-Diagnostik auf dem Wege, durch Hochdurchsatz-Sequenzierverfahren eine große Zahl an Genen für heterogene Erkrankungen simultan untersuchen und so möglicherweise auch seltenere Krankheitsursachen definieren zu können. Der Erkenntniszuwachs im Bereich der Molekulargenetik neurologischer Erkrankungen ist derart schnell, dass Übersichten zu Diagnosemöglichkeiten wöchentlich aktualisiert werden müssten. Das bedeutet, dass der Neurologe ständig auf den neuesten Informationsstand über genetische Tests (via spezialisierte Datenbanken, z. B. OMIM; http://www.ncbi.nlm.nih.gov/omim/) Zugriff haben muss, am besten in engmaschiger Interaktion mit dem Humangenetiker.
Molekulargenetische Diagnostik bei Patienten
Bei monogenen Erkrankungen mit bekannter Ursache kann die klinische Diagnose durch gezielte DNA-Diagnostik in vielen Fällen eindeutig gesichert werden. 2017 sind die genetischen Ursachen von 5000 der ca. 7500 (August 2017) monogen vererbten Krankheitsentitäten bekannt und direkt untersuchbar. Der jeweilige diagnostische Aufwand ist dabei je nach klinisch vermuteter Diagnose und zugrunde liegendem Mutationsspektrum sehr variabel. Zur Eingrenzung des anzuwendenden molekulargenetischen Diagnosespektrums ist daher die exakte klinische Befunderhebung durch den Kliniker die wichtigste Voraussetzung. Die Kooperation zwischen Neurologen, DNA-Diagnostikern und beratenden Humangenetikern ist notwendig, um eine angemessene Betreuung der Patienten und auch der Angehörigen/Partner zu gewährleisten (s. unten).
Während bei den Mikrosatelliten-Expansionserkrankungen die relativ zügig durchführbare Fragmentlängenanalyse zum Einsatz kommt (Abschn. 3), erfordern die meisten neurogenetischen Erkrankungen die Sequenzierdiagnostik eines oder meist mehrerer Gene. Die klassische Sequenzanalyse mit der Sanger-Methode, bei der durch zufällige Synthese floureszenzmarkierter endständiger Moleküle unterschiedlich lange PCR-Fragmente erzeugt und im Folgenden gemäß der Länge aufgetrennt werden, stellt nach wie vor den Goldstandard in der Sequenzanalyse einzelner Gene dar (Abb. 1). Sowohl aus technischen wie auch aus Kostengründen bleibt die Sanger-Sequenzierung aber in der Regel auf die Untersuchung einiger weniger Gene limitiert. Daneben gibt es seit einigen Jahren die sog. Next-Generation-Sequenziermethoden (NGS), bei denen teilweise chipbasiert viele kleine Sequenzabfolgen zufällig generiert und dann der Referenzsequenz zugeordnet werden. Hiermit ist die simultane Untersuchung einer ganzen Gruppe von Genen (sog. Panel-Untersuchung), sämtlicher Exone oder sogar der gesamten genomischen Sequenz eines Menschen (Exom- bzw. Genomsequenzierung) zu vertretbaren Kosten möglich. Diese Ansätze bieten gerade bei sehr heterogenen Erkrankungen wie z. B. den hereditären Polyneuropathien (Abschn. 4) oder den spastischen Paraplegien (Abschn. 5) deutliche Vorteile gegenüber der klassischen Sanger-Sequenzierung, aber die Auswertung der großen Datenmengen stellt nach wie vor eine große Herausforderung an Genetiker und Kliniker (Lohmann und Klein 2014). Zum einen erhöht die sehr umfangreiche Sequenzierdiagnostik die Wahrscheinlichkeit, dass Sequenzvariationen gefunden werden, deren pathogenetische Bedeutung auf dem derzeitigen Kenntnisstand nicht sicher beurteilt werden kann. Es könnte sich hierbei theoretisch um die krankheitsverursachende(n) Mutation(en), aber auch um seltene harmlose Normvarianten handeln. Während Untersuchungen an weiteren betroffenen Familienmitgliedern in einem Teil der Fälle zu einer besseren Interpretation der Ergebnisse führen, kann insbesondere bei sporadischen Fällen derzeit manchmal keine abschließende Klärung erfolgen, und die Bedeutung der entsprechenden Sequenzvariation muss u. U. im Verlauf erneut evaluiert werden. Außerdem gibt es eine Reihe ethischer Fragestellungen im Zusammenhang mit der NGS-Diagnostik, die momentan noch diskutiert werden. Hierzu zählt insbesondere der Umgang mit sog. Zusatzbefunden, also Ergebnissen, die methodenimmanent über die eigentliche Fragestellung hinausgehen, aber möglicherweise auch erhebliche Konsequenzen für Patienten und deren Familien haben können (z. B. Prädisposition für Tumor- oder spätmanifeste Erkrankungen). Eine umfangreiche Aufklärung des Patienten und ggf. seiner Familie, am besten im Rahmen einer genetischen Beratung, ist daher vor NGS-basierten Untersuchungen sinnvoll, und das Recht auf Nicht-Wissen muss auch hierbei gewahrt werden.
Bei allen Erfolgen der DNA-Technologie bleibt zu berücksichtigen, dass generelle Möglichkeiten zum flächendeckenden Aufspüren von Mutationen in den ca. 20.500 Genen nur theoretisch gegeben sind. Überhöhte Erwartungen in Bezug auf den Ausschluss jeglicher schädlicher Erbanlagen im Genom können daher trotz technischen Fortschritts im nächsten Jahrzehnt nicht einmal für einzelne Individuen realisiert werden, da das diploide Genom des Menschen über 6 × 109 Einzelbausteine (Nukleotide) beinhaltet. Es ist zwar inzwischen klar, dass nur wenige Prozent dieses Informationspotenzials für RNA-/Proteinkodierung der menschlichen Gene genutzt werden. Dennoch können auch Mutationen in der „Wüste des Genoms“ die Expression der „Gen-Oasen“ beeinflussen oder verhindern, z. B. indem regulatorische Instanzen oder Spleißstellen verändert werden.
Prädiktive Diagnostik
Neben der Diagnosesicherung hat die prädiktive Diagnostik bei Familienangehörigen von Patienten mit spät manifestierenden Erkrankungen einen wichtigen Stellenwert in der Betreuung von Familien mit neurogenetischen Erkrankungen.
Jeder prädiktive Gentest muss zwingend in eine entsprechende fachhumangenetische Beratung eingebunden sein (s. Gendiagnostik-Gesetz).
Hierbei werden die Ratsuchenden unterstützt, selbstverantwortlich zu entscheiden, welches nicht mehr auszulöschende Wissen sie über ihre eigenen Erbanlagen erlangen wollen. Mögliche Konsequenzen aus dieser Kenntnis sowie die Frage, welche Personen in ihrem Umkreis entsprechend unterrichtet werden sollen, werden zuvor ausführlich erörtert. Nur so kann der Tragweite genetischer Diagnostik Rechnung getragen werden. Diese Zusammenhänge werden gerafft am Beispiel Morbus Huntington („Huntington disease“, HD) erläutert (Abschn. 3.2). Die schwerwiegende neuropsychiatrische Symptomatik, die meist späte Manifestation im mittleren Erwachsenenalter und die praktisch vollständige Penetranz der Erkrankung werfen eine besondere psychosoziale Problematik auf. Die prädiktive Diagnostik bei schweren neurogenetischen Leiden wie HD sollte daher zunächst auf spezialisierte Zentren beschränkt bleiben, um dieser Problemstellung gerecht zu werden. Durch ein verbreitetes Testangebot für genetische Prädispositionen, z. B. durch zunehmend aktive kommerzielle (Internet-)Anbieter ohne entsprechende Beratungsmöglichkeiten, würden viele Risikopersonen mit der bloßen Information über ihr „Todesurteil“ allein gelassen. Wann wird „vollstreckt“ bzw. in welcher Lebenssituation manifestiert sich das Krankheitsgeschehen? In welcher Form (neurologische oder psychiatrische Symptome)? Wie sollen die zukünftigen Patienten präsymptomatisch begleitet und gesundheitlich überwacht werden? Das mögliche Missverständnis, dass der molekulargenetische Mutationsbefund eine klinische Feststellung der Erkrankung – also eine Krankheitsdiagnose – ist, muss unbedingt vermieden bzw. sekundär dann wieder ausgeräumt werden.
Betreuung der Patienten
Das wichtigste Anliegen des Humangenetikers im Zusammenhang mit der Genetik von neurologischen Erkrankungen betrifft die auf das Individuum zentrierte Betreuung von Patienten, Risikopersonen und deren Angehörigen/Partnern. Bei der Erläuterung und Bewertung molekulargenetischer Untersuchungsergebnisse im Rahmen genetischer Beratungen ist ein Höchstmaß an Verständlichkeit der komplizierten Zusammenhänge auf dem intellektuellen Niveau der Ratsuchenden anzustreben. Besonders gilt es auch, den Patienten bzw. den Klienten Hilfestellungen bei der Bewältigung der Probleme und offenen Fragen anzubieten sowie ggf. die Ratsuchenden im weiteren Verlauf zu begleiten. Es ist eine zusätzliche Aufgabe für den Kliniker, im Verbund mit medizinischen Genetikern (unter Mithilfe von Psychologen, Sozialpädagogen) für eine entsprechende Betreuung von Patienten und Angehörigen zu sorgen. Nicht zu vergessen in diesem Zusammenhang sind auch die substanziellen Beiträge der Selbsthilfegruppen (Adressenverzeichnis bei den Autoren erhältlich), in denen Patienten und ihre Angehörigen zusätzliche Ansprechpartner mit einschlägigen Erfahrungen finden.
In diesem Kapitel sollen einige neurologische Erkrankungen mit bereits bekannten bzw. in gewissem Ausmaß verstandenen genetischen Ursachen exemplarisch dargestellt werden, ohne eine umfassende Übersicht über die gesamte Neurogenetik zu geben. Anhand der ausgewählten Beispiele sollen besondere Mutationsformen, genetische Heterogenität, Genotyp/Phänotyp-Beziehungen etc. gestreift und in ihrem Bedeutungshorizont ausgeleuchtet werden. Genetische Erkrankungen mit sekundärer Auswirkung auf das Nervensystem (Stoffwechseldefekte, Kraniosynostosen usw.) werden ebenso wenig berücksichtigt wie z. B. die Tumorgenetik, obwohl gerade auch auf diesen Gebieten wertvolle Erkenntnisse durch molekularbiologische Arbeiten erzielt worden sind. Aktualisierte Übersichten zu den genetischen Testmöglichkeiten bei neurologischen Krankheiten sind bei den Verfassern erhältlich.

Mikrosatelliten-Expansionserkrankungen

Als genetische Ursache verschiedener neurodegenerativer Erkrankungen, die als Mikrosatelliten-Expansionserkrankungen zusammengefasst werden, findet man Verlängerungen simpler repetitiver Sequenzblöcke im Bereich der zugrunde liegenden Gene. Repetitive Elemente, d. h. identische Wiederholungen von Grundmotiven aus mehreren Nukleotiden, sind im menschlichen Genom sehr häufig. Die Verlängerung solcher Strukturen, also die Erhöhung der Anzahl der an einem Locus hintereinander geschalteten Wiederholungseinheiten, kann zu spezifischen Krankheitsprozessen führen. Verlängerungen von Trinukleotidelementen, also Wiederholungen von jeweils 3 Basen, sind bei mehr als einem Dutzend Erkrankungen nachgewiesen worden (Tab. 1); diese Zahl ist in allerletzter Zeit aber kaum weiter angestiegen. Momentan umfasst die Liste neben HD die spinozerebellaren Ataxien, spinobulbäre Muskelatrophie (SBMA), dentatorubropallidoluysiane Atrophie (DRPLA, genetisch identisch mit dem extrem seltenen, nur in den USA auftretenden Haw-River-Syndrom), myotone Dystrophie (Dystrophia myotonica, DM), Friedreich-Ataxie (FA) sowie das Fragile X-Syndrom (FraX) mit den Genen FRAXA und FRAXE u. a. m. (Brouwer et al. 2009).
Tab. 1
Mikrosatelliten-Expansionserkrankungen, Sequenzmotive, kritische Längenexpansionen und (beeinflusste) Genprodukte
Erkrankung
OMIM-Nummera
Repetitives Sequenzmotiv
Blocklänge (in Wiederholungseinheiten)
Genprodukt
Normal
Expandiertb
Polyglutamin-Expansion
M. Kennedy (spinobulbäre Muskelatrophie)
313200
CAG
11–34
38–62
Androgenrezeptor
M. Huntington (HD)
143100
CAG
7–35
36–>200
Huntingtin
Dentatorubropallidoluysiane Atrophie (DRPLA)
125370
CAG
6–35
49–93
Atrophin-1
Spinozerebelläre Ataxie 1 (SCA1)
164400
CAG
6–38
39–91
Ataxin-1
Spinozerebelläre Ataxie 2 (SCA2)
183090
CAG
14–31
35–>200
Ataxin-2
Spinozerebelläre Ataxie 3 (SCA3; Machado Joseph disease)
109150
CAG
<45
61–87
Ataxin-3
Spinozerebelläre Ataxie 6 (SCA6)
183086
CAG
4–18
20–33
Ataxin-6
Spinozerebelläre Ataxie 7 (SCA7)
164500
CAG
4–19
36–460
Ataxin-7
Spinozerebelläre Ataxie 17 (SCA17)
607136
CAG
25–42
43–66
TATA-bindendes Protein
Expansion verschiedener Mikrosatellitenmotive
HDL2 (M. Huntington like disease 2)
606438
6–28
≥41
Junctophilin-3 (alternativ gespleißtes Exon)
Spinozerebelläre Ataxie 8 (SCA8)
603680
CTG (CNN)
14–42
>100–>1000
Antisense-RNA (nicht Protein-kodierend)
Spinozerebelläre Ataxie 10 (SCA10)
603516
ATTCT (i)
8–32
bis zu 4500
SCA-10
Spinozerebelläre Ataxie 12 (SCA12)
604326
CAG (5′)
4–32
51–78
Proteinphosphatase, PPP2R2B
Myotone Dystrophie (DM)
160900
CTG (3′)
5–34
>50–>2000
DMPK? (oder Antisense-RNA; nicht proteinkodierend)
Myotone Dystrophie 2 (DM2)
602668
CCTG (i)
11 + (NCTG)
75–11000
Zinkfingerprotein 9 (kombinierter TG/TCT G/CCTG-Block mit expandiertem CCTG)
Fragiles X-Syndrom A (FRAXA)
309550
CGG (5′)
<55
~200–>2000
Fragile site mental retardation 1 (FMR-1)
Fragiles X-Syndrom E (FRAXE)
309548
GCC (5′)
6–25
>200
Fragile site mental retardation 2 (FMR-2)
Friedreich-Ataxie
229300
GAA (i)
5–33
>65
Frataxin (Phosphatidylinositol-4-phosphate 5-kinase)
Progressive Myoklonusepilepsie (Unverricht-Lundborg)
254800
CCCCGC–CCCGCG (5′)
2–3
≥30
Cystatin B
105550
GGGGCC
<25
>60
Argininreiche Proteine, repetitive RNA
Polyalanin-Expansion
Okulopharygeale Muskeldystrophie (OPMD)
164300
GCG
10
11–17
Polyadenylat-bindendes Protein 2 (PABPN1)
Infantiles Spasmus-Syndrom X
308350
GCG
10
17
Aristaless-related homeobox (ARX Exon 2; 5′)
Partington (MRXS1)
309510
GCG (GCG)n/
12
20
Aristaless-related homeobox (ARX Exon 2; 3′)
Synpolydaktylie
186000
(GCT)n/(GCA)n
15
22–29
Homeo box D13 (HOXD13)
Kleidokraniale Dysplasie (Forme fruste mit Brachydaktylie)
119600
(GCK)n
11, 17
27
Runt-related transcription factor 2 (RUNX2)
603073
(GCN)n
15
25
Zinc finger protein of cerebellum 2 (ZIC2)
Hand-Fuß-Uterus(Genital)-Syndrom
140000
(GCN)n
12–18
+6– +14
Homeo box A13 (HOXA13)
Blepharophimose-Ptose-Epicanthus-inversus-Syndrom II (BPES II)
110100
(GCN)n
14
19
Forkhead transcription factor 2 (FOXL2)
Pseudoachondroplasie
177170
GAC
5
6–7
Cartilage oligomeric matrix protein (COMP)
Weitere Abkürzungen: MRXS1 mental retardation, X-linked, syndromic 1; (i) intronisch; 5′ „stromaufwärts“ (vor Translationsbeginn des Gens); 3′ „stromabwärts“ (nach Translationsstopp des Gens)
aDie entsprechenden Einträge zu den jeweiligen Krankheitsentitäten in der öffentlich über das Internet zugänglichen OMIM-Datenbank (Online Mendelian Inheritance in Man) werden immer unmittelbar auf den aktuellen Wissensstand gebracht
bIm Zwischenbereich sind z. T. intermediäre Formen mit reduzierter Penetranz möglich
Sowohl aus klinischer wie auch aus genetischer Sicht weisen diese Erkrankungen einige auffällige Gemeinsamkeiten auf. Praktisch alle Trinukleotiderkrankungen betreffen einzelne oder mehrere ZNS-Regionen. Bei der Mehrzahl handelt es sich um progrediente neurodegenerative Prozesse, für die aufgrund des Expansionsprinzips verwandte Pathomechanismen vermutet wurden, die sich jedoch als zunehmend heterogen erweisen. Die Trinukleotidelemente im Bereich der zugrunde liegenden Gene sind auch bei gesunden Kontrollpersonen vorhanden und zeigen physiologischerweise Längenpolymorphie innerhalb fester Grenzen, d. h., zwischen verschiedenen Individuen findet man Unterschiede in der Wiederholungsanzahl des Basismotivs. Bei betroffenen Personen sind die Trinukleotidblocks über definierte Schwellenwerte verlängert (Tab. 1). Das Manifestationsalter bzw. der Ausprägungsgrad vieler dieser Erkrankungen scheint, statistisch gesehen, mit dem Ausmaß der Trinukleotidverlängerung zu korrelieren. In keinem Fall ist daraus allerdings für den Einzelfall eine Prognose bezüglich Erkrankungsalter und -verlauf ableitbar. Während die Trinukleotidwiederholungen im Bereich der normalen Allellängen relativ stabil weitervererbt werden, zeigen expandierte, krankheitsassoziierte Elemente manchmal deutlich erhöhte Mutabilität bei Weitergabe an die folgenden Generationen. In vielen Fällen kommt es dabei zu einer zusätzlichen Vermehrung der Trinukleotideinheiten. Diese Zusammenhänge erklären das klinisch beobachtete Phänomen der Antizipation: Abweichend von der stabilen Weitergabe einer einmal entstandenen Mutation nach den Mendel-Regeln beobachtet man hierbei sinkendes Erkrankungsalter und/oder zunehmenden Schweregrad in aufeinander folgenden Generationen einer Familie.

Polyglutamin-Erkrankungen

Als Untergruppe mit besonderen Eigenschaften sind die Krankheiten abzugrenzen, die durch Verlängerung von repetitiven Elementen mit dem DNA-Sequenzmotiv CAG ausgelöst werden. Hierzu zählen HD, SCA1, 2, 3, 6, 7 und 17, SBMA und DRPLA. Übereinstimmend handelt es sich um fortschreitende, neurodegenerative Erkrankungen mit Manifestation im Erwachsenenalter und autosomal-dominantem oder X-chromosomalem (SBMA) Erbgang. Im Gegensatz zu den anderen Mikrosatelliten-Expansionserkrankungen ist ihre Symptomatik nahezu ausschließlich auf das ZNS beschränkt. Bei allen Erkrankungen dieses sog. Polyglutamin-Typs befindet sich das wiederholte Motiv innerhalb der kodierenden Region des zugrunde liegenden Gens. Diese Gene haben mit Ausnahme des verlängerten CAG-Blocks keine offensichtlichen Ähnlichkeiten. Im exprimierten Protein wird der CAG-Block in die entsprechende Abfolge von Glutamin-Aminosäure-Resten übersetzt. Bei Expansion kommt es zu einem moderaten Längenanstieg auf maximal etwa das 2- bis 3-Fache der physiologischerweise vorkommenden Längen von in der Regel weniger als 30 CAG-Einheiten. Eine Ausnahme stellt die SCA6 dar, bei der es lediglich zu einer geringgradigen Expansion von 4–18 auf 20–33 CAG-Trinukleotide kommt. Größere Längenveränderungen findet man bei den Polyglutamin-Erkrankungen stark bevorzugt bei paternaler Transmission. Patienten mit Krankheitsmanifestation bereits im Kindes- oder Jugendalter können massive Allelverlängerungen aufweisen und haben das veränderte Allel in der Regel vom Vater geerbt. Bei HD wurden in seltenen Fällen Allelgrößen im Übergangsbereich zwischen 36 und 39 CAG-Einheiten gefunden. Bei nichtsymptomatischen Risikopersonen kann in einem solchen Fall gegenwärtig keine Aussage darüber getroffen werden, ob wegen der inkompletten Penetranz mit einer späteren Erkrankung zu rechnen ist. Intermediäre Allelgrößen des für HD verantwortlichen Huntingtin-Gens mit 29–35 CAG-Einheiten zeigen höhere meiotische Instabilität und können bei Weitergabe an die folgende Generation in den krankheitsassoziierten Längenbereich expandieren. Dies entspricht den nicht ganz selten beobachteten „Neumutationen“, die sporadischen Erkrankungsfällen zugrunde liegen. Neumutationen entstehen nur vor einem bestimmten genetischen Hintergrund auf dem kurzen Arm des Chromosoms 4, wo das Huntingtin-Gen lokalisiert ist.
Proteine mit bekannter Funktion
Drei der kodierten Genprodukte bei den CAG-Trinukleotiderkrankungen sind Proteine mit bereits besser bekannter Funktion. Bei der SBMA ist der Androgenrezeptor betroffen, der als Transkriptionsfaktor an der Regulation weiterer Gene beteiligt ist. Plausibel erscheint daher, dass Patienten mit SBMA häufig Zeichen von Androgeninsensitivität aufweisen (Gynäkomastie, Hodenatrophie, reduzierte Fertilität). Der pathophysiologische Zusammenhang zur Degeneration spezifischer Nervenzellpopulationen ist aber noch nicht ganz klar. Das bei der SCA6 identifizierte Gen kodiert für eine Untereinheit (α 1a-Isoform) eines Ca-Kanals. Auch seine Rolle beim Untergang bestimmter Neurone ist noch offen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass andere Veränderungen in den beiden genannten Genen für unterschiedliche Krankheitsentitäten verantwortlich sind. So liegen Punktmutationen im Androgenrezeptorgen der testikulären Feminisierung zugrunde, also einem Androgeninsensitivitätssyndrom ohne die neurologischen Manifestationen der SBMA. Verschiedene Punktmutationen im SCA6-Gen können entweder zur milde verlaufenden, episodischen Ataxie Typ 2 oder einer seltenen Migräneform (familiäre hemiplegische Migräne) führen. Das SCA17-Genprodukt, das TATA-Box-bindende Protein (TBP), bildet einen RNA-Polymerase-II-Transkriptionsfaktor. TBP ist damit ein wichtiger Transkriptionsregulator, für den beim Menschen keine anderen Mutationen bekannt sind. In Tiermodellen wirken sich Punktmutationen im TBP-Gen bereits in sehr frühen Entwicklungsstadien immer letal aus.
Weitere Genprodukte
Die übrigen Genprodukte bei CAG-Expansionserkrankungen sind Proteine mit noch weitgehend unbekannten zellulären Funktionen. In Anlehnung an die jeweiligen Krankheitsbezeichnungen werden sie als Huntingtin, Ataxine (SCAs) und Atrophin (DRPLA) bezeichnet. Die Mutationen wirken sich nach gegenwärtigem Kenntnisstand auf der Proteinebene aus. Sie verändern bestimmte Eigenschaften des betreffenden Proteins und bewirken offensichtlich neuartige Funktionen („gain of function“), die zur Schädigung von Neuronen führen. Trotz ihrer weit verbreiteten Expression in fast allen ZNS-Bereichen und vielen weiteren Gewebstypen außerhalb des Nervensystems führen die Polyglutamin-Verlängerungen interessanterweise nur in ganz umschriebenen Hirnregionen zum Nervenzelluntergang.
Polyglutamin-Pathogenese
Insgesamt werden die Mechanismen der Neurodegeneration bei den Polyglutamin-Erkrankungen kontrovers diskutiert. Erste Untersuchungen ergaben, dass bei einigen Erkrankungen dieser Gruppe (z. B. HD, SBMA und SCA3) die proteolytische Spaltung des mutierten Proteins, z. B. durch Caspasen, zur Freisetzung toxischer Fragmente führt. Diese Fragmente können in Folge von Konformationsänderungen aufgrund des Polyglutaminteils vermutlich eigenständig oder in Form von Aggregaten in multipler Weise toxische Effekte auf Nervenzellen ausüben. So wurden z. B. Interaktionen von mutiertem Huntingtin mit spezifischen Transkriptionsfaktoren beschrieben, die die Genexpression beeinflussen und so neurodegenerative Prozesse beeinflussen können (p53-Tumor-Antigen, Histon-Acetyltransferase, CREB-bindendes Protein [CBP], transkriptioneller Aktivator Sp1 sowie Coaktivator TAFII130, Brain-derived neurotrophic factor [BDNF]; s. Übersicht in Fan et al. 2014). Darüber hinaus mehren sich die Hinweise, dass eine gestörte mitochondriale Funktion mit erhöhter Belastung der Zellen durch freie Sauerstoffradikale ebenfalls eine wichtige Rolle bei Polyglutamin-Erkrankungen spielen könnte. Daneben können zahlreiche andere intrazelluläre Stoffwechselwege durch die Polyglutamin-Proteine beeinflusst werden, u. a. das Ubiquitin-Proteasom-System, der vesikuläre Transport und Apoptose-Vorgänge (Labbadia und Morimoto 2013).
Die genaue pathogenetische Bedeutung der einzelnen Phänomene bleibt zwar noch unklar, es ergeben sich jedoch verschiedene Ansatzpunkte zur Entwicklung neuer Therapiestrategien. Gleichzeitig stehen inzwischen eine ganze Reihe verschiedener Tiermodelle zur Verfügung, um die pathogenetischen Abläufe detaillierter zu untersuchen sowie ggf. Therapeutika direkt zu erproben. Ein interessanter Therapieansatz für HD (und potenziell auch andere Polyglutamin-Erkrankungen) stellt die Behandlung mit interferierender RNA („small interfering RNA“, siRNA) dar, für die es erste Erfolge in Tierversuchen gibt. Grundgedanke ist die Unterdrückung („silencing“) der Produktion von mutiertem Huntingtin bei gleichzeitig erhaltener Produktion des normalen Huntingtins. Zu diesem Zweck wurde im Mausmodell spezifische siRNA intrazerebral appliziert, die selektiv die mRNA des mutierten Allels bindet und somit die Bildung des mutierten Proteins reduziert. Trotz vielversprechender Ergebnisse im Tierversuch (verzögerter Krankheitsbeginn, mildere Symptomausprägung, verlängerte Lebensdauer bei den behandelten Tieren) stellt die Umsetzung einer solchen Therapie für den Menschen noch eine große Herausforderung dar. Neben der technischen Frage, wie eine solche Therapie beim Menschen nebenwirkungsarm appliziert werden kann, muss die entsprechende siRNA sicher zwischen mutierter und nicht mutierter RNA entscheiden können; dies kann mit Hilfe von Polymorphismen geschehen, die aber eine hohe Variabilität aufweisen, sodass intensive Untersuchungen in dieser Richtung notwendig sind. Darüber hinaus sind natürlich Langzeiteffekte einer solchen Therapie und mögliche Nebenwirkungen, z. B. durch Mitbeeinflussung der Expression anderer Gene, wie Tumorsuppressorgene, noch gar nicht abzusehen. Insgesamt stellt dieser Ansatz momentan einen vielversprechenden Ausblick auf zukünftige Therapiemöglichkeiten dar, deren klinische Anwendung in nächster Zeit aber noch nicht zu erwarten ist.

Mikrosatelliten-Expansionserkrankungen der Klasse II

Bei HDL2, SCA8, −10, −12, DM, DM2, FraX-Syndrom, FA und progressiver Myoklonusepilepsie (Unverricht-Lundborg) sind die expandierten Mikrosatelliten außerhalb der kodierenden Regionen der zugrunde liegenden Gene lokalisiert. Sowohl genetisch wie auch klinisch weisen diese heterogenen Krankheiten andere Charakteristika auf als die Polyglutamin-Erkrankungen. Es handelt sich um Multisystemerkrankungen mit Manifestation auch außerhalb des ZNS (z. B. Herzbeteiligung, Endokrinopathien bei FA, DM, dysmorphe Stigmata bei FraX, DM etc.). Neben neurodegenerativen Prozessen spielen dabei gestörte Entwicklungsvorgänge eine Rolle. Die DM wird autosomal-dominant übertragen und durch einen verlängerten (CTG-)Block im Bereich eines Genclusters ausgelöst. Hier ist der Trinukleotidblock in der 3′-untranslatierten Region eines Gens angesiedelt, das für eine Proteinkinase (Enzym, das andere Proteine phosphoryliert) kodiert. Gegenwärtig ist unklar, ob noch weitere, in der Nähe lokalisierte Gene pathogenetische Bedeutung für die DM haben. Beim X-chromosomal vererbten FraX-Syndrom, einer der häufigsten genetischen Ursachen mentaler Retardierung, findet man in der Mehrzahl der Fälle einen expandierten CGG-Block im 5′-untranslatierten Bereich des FMR1-Gens (auch als FRAXA-Locus bezeichnet). Dieser instabile Block entspricht einer Chromosomenbruchregion (fragile Stelle), die früher unregelmäßig und mit großem Aufwand zytogenetisch nachgewiesen wurde. In seltenen Fällen wird das FraX-Syndrom durch Punktmutationen im FMR1-Gen oder Deletion des kompletten Gens ausgelöst. Selten kann auch eine Expansion eines GCC-Trakts im sog. FRAXE-Locus (FMR2-Gen) vorliegen, der mit einer weiteren fragilen Region auf dem X-Chromosom assoziiert ist.
Bei der DM und dem FraX-Syndrom kann es zu massiver Expansion der repetitiven Elemente von normalerweise unter 50 (über intermediäre Zwischenstufen) auf mehr als 1000 Trinukleotideinheiten kommen. Die intermediären Längenbereiche werden als Prämutation (FraX) bzw. Protomutation (DM) bezeichnet. Sie führen nicht zur klinischen Manifestation oder nur milder Krankheitsausprägung, gehen aber mit erhöhter Instabilität bei Weitergabe an die folgende Generation einher. Massive Expansionen, die den schwersten Ausprägungsgraden des Krankheitsgeschehens zugrunde liegen (z. B. kongenitale DM), erfolgen bei DM und FraX nahezu ausschließlich bei maternaler Transmission. Neben der meiotischen Instabilität ist anders als bei den CAG-Erkrankungen auch eine ausgeprägte mitotische Instabilität zu beobachten. Diese führt zu somatischen Mosaiken, die zumindest teilweise für die phänotypische Variabilität verantwortlich sein könnten. Der zugrunde liegende Pathomechanismus ist nicht in veränderter Proteinfunktion, sondern in veränderter Genexpression zu sehen. Beim FraX-Syndrom und vermutlich auch bei der DM kommt es zu einer Abnahme der Genexpression, die durch Inhibieren von Transkription und Translation bedingt ist. Am FRAXA-Locus geht dies mit vermehrter Methylierung des verlängerten CGG-Trakts und benachbarter Bereiche einher. Die FA wird in den meisten Fällen (>95 %) durch Verlängerung eines GAA-Blocks im 1. Intron des sog. Frataxin-Gens ausgelöst. In Einzelfällen wurden auch Punktmutationen im Frataxin-Gen gefunden. Als bislang einzige Trinukleotiderkrankung folgt die FA einem autosomal-rezessiven Erbgang. Demgemäß führen die Mutationen nur in homozygotem Zustand zu phänotypischen Effekten. Aufgrund „klebriger Nukleinsäure-Strukturen“ und herabgesetzter mRNA-Mengen bei den Patienten sind auch bei FA Blockaden auf Ebene der Transkription oder mRNA-Prozessierung zu vermuten. Die Funktion des Frataxin-Proteins betrifft die Bildung eisen- und schwefelhaltiger Proteine und die Eisenhomöostase in Mitochondrien. Zelluläre Pathomechanismen bei FA konnten u. a. anhand des homologen Gens der Hefe im mitochondrialen Elektronentransport wahrscheinlich gemacht werden.
Weitere Mikrosatelliten-Expansionserkrankungen der Klasse II schließen die SCA-Formen −8, −10, −12 und DM2 ein sowie die HD-ähnliche Erkrankung HDL2, die vermutlich auf afrikanische Gründerindividuen zurückzuführen ist. Die entsprechenden Genprodukte müssen noch eingehender charakterisiert werden. Progressive Myoklonusepilepsie (Unverricht-Lundborg) kann durch sehr uneinheitliche Mutationen im Cystatin-B-Gen (Insertionen, Deletionen, Punktmutationen) verursacht werden, u. a. aber auch durch die kritische Expansion einer 12mer-Mikrosatellitensequenz im Promotor dieses Gens. Die C9ORF72-vermittelte Form der ALS wird unter Abschn. 6 genauer behandelt.
Die einheitlichere Unterklasse der Polyalanin-Expansionserkrankungen betrifft ein sehr weites Spektrum an teilweise gut bekannten Genen aber sehr seltenen Krankheitsentitäten. Da eine neurologische Symptomatik nur teilweise vorhanden ist und höchstens zusammen mit anderen Zeichen (z. B. Entwicklungsstörungen, Skelettfehlbildungen) im Vordergrund steht, wird an dieser Stelle nicht ausführlich auf die Polyalanin-Expansionserkrankungen eingegangen.
DNA-Diagnostik und humangenetische Beratung
Die direkte Untersuchung der Mikrosatelliten-Verlängerungen z. B. mittels Polymerase-Kettenreaktion(PCR)-Methode ist technisch einfach und hat eine zentrale Position in der differenzialdiagnostischen Abgrenzung der oben genannten Erkrankungen. Beispielsweise ermöglicht Gendiagnostik die eindeutige Typisierung der klinisch nicht differenzierbaren bzw. stark überlappenden hereditären Ataxien. Erst dadurch ist das komplette klinische Spektrum der phänotypisch sehr variablen Ataxieformen voll zu erfassen. Auch bei den seltenen, sporadischen Erkrankungsfällen (etwa 3 % bei HD) ist damit eine direkte Diagnosesicherung möglich. Daneben gewinnt die prädiktive Diagnostik bei klinisch gesunden Angehörigen von betroffenen Patienten zunehmende Bedeutung. Bei der Interpretation der Untersuchungsbefunde ist hierbei besonders zu beachten, dass die Längenbestimmung der Trinukleotidblöcke keinesfalls eine Vorhersage des Erkrankungsalters und Schweregrads für den jeweiligen Einzelfall erlaubt. Die Variabilität des Erkrankungsalters ist zu einem gewissen Grad durch die Tripletanzahl festgelegt; daneben sind aber zusätzliche Faktoren anzunehmen (genetischer Hintergrund, möglicherweise Umwelteinflüsse). Gerade bei den am häufigsten bei HD vorliegenden Allelgrößen von 40–50 Triplets kann das Manifestationsalter um mehrere Jahrzehnte schwanken.
Beratungskonzept bei Risikopersonen für M. Huntington
Das im Folgenden dargestellte Beratungskonzept zur prädiktiven Diagnostik bei Risikopersonen für HD, auf das auch im Fallbeispiel näher eingegangen wird, soll einen Eindruck von der Vorgehensweise in der humangenetischen Familienberatung vermitteln und als Modell auch für andere neuromuskuläre Erkrankungen dienen. Ein internationales Gremium aus Fachleuten (Ärzten, Psychotherapeuten, Psychologen, Sozialpädagogen/-arbeitern), betroffenen Patienten sowie deren Angehörigen – vertreten durch Selbsthilfegruppen – hat Richtlinien erarbeitet, nach denen die präsymptomatische Diagnostik in einem Zeitplan mit Mindestfristen für jeden Beratungsabschnitt vorzunehmen ist. Dieser Zeitplan umfasst mindestens 2 Monate: Erstberatung (danach mindestens 4 Wochen Bedenkzeit), Zweitberatung/Blutabnahme (danach nochmals mindestens 4 Wochen Bedenkzeit), Ergebnismitteilung, Nachbetreuung. In einzelnen Fällen werden diese Fristen je nach den Bedürfnissen und der selbstgewählten Zeiteinteilung der Klienten erheblich überschritten. Im Huntington-Zentrum NRW in Bochum kann inzwischen auf Erfahrungen bei der prädiktiven Diagnostik in mehr als 800 Familien zurückgegriffen werden. Es hat sich gezeigt, dass letztendlich weniger als die Hälfte der Ratsuchenden die Gendiagnostik in Anspruch nimmt bzw. das Ergebnis auch erfahren will. Eine retrospektive Studie, die die prädiktive Diagnostik in Bezug auf HD im Huntington-Zentrum NRW über den Zeitraum von 1993–2004 evaluierte, zeigte interessanterweise, dass der Anteil der Ratsuchenden, die nach dem ersten Beratungsgespräch tatsächlich den Gentest in Anspruch nehmen, über die Jahre deutlich gesunken ist, von etwa 67 % in den ersten Jahren bis zu nur noch etwa 38 % zwischen 2000 und 2004. Eine prospektive Evaluation ergab, dass das Testverfahren insgesamt überwiegend als positiv empfunden wurde, aber geschlechtsspezifische Unterschiede die Entscheidung und die Verarbeitung des Gentests mit beeinflussen könnten (Ibisler et al. 2017)
In der Erstberatung werden im Wesentlichen Informationen über Krankheitsverlauf, Genetik, symptomatische Therapie und Möglichkeiten der neurologischen Frühdiagnostik gegeben. Es werden die persönlichen und familiären Konsequenzen angesprochen und die individuelle Motivation für den Test erörtert. Versicherungsfragen (z. B. Lebensversicherungen, Erwerbsunfähigkeit) sollten geregelt werden, bevor eine Entscheidung für den Gentest gefällt wird. Ist ein genetischer Test tatsächlich die beste Entscheidung in der individuellen Situation? Auch für die überschaubare Zukunft? Neben den möglichen individuellen Konfliktsituationen wird besonders auch auf die Unwiderruflichkeit des Wissens um die Gendiagnose hingewiesen. Eine Vertrauensperson (Partner/-in, Freund/-in) des Ratsuchenden wird nach Möglichkeit mit in die Gespräche einbezogen. Während des gesamten Beratungsablaufs stehen eine Psychologin und ein Sozialpädagoge als zusätzliche Ansprechpartner zur Verfügung. Gegebenenfalls kann durch diese Kontakte bereits frühzeitig eine langfristige Weiterbetreuung in die Wege geleitet werden (z. B. durch einen Psychotherapeuten, entsprechend ausgebildeten Hausarzt etc.), sofern später Bedarf besteht. Eine besondere Problematik ergibt sich, wenn neben dem Ratsuchenden weitere Personen vom Test sekundär betroffen werden; dies gilt z. B. für Personen mit 25 %igem Risiko, deren klinisch gesunde Vorfahren kein Interesse an prädiktiver Diagnostik haben. Pränatale Diagnostik bezüglich HD war bis 2009 im Rahmen einer intensiven humangenetischen Beratung grundsätzlich möglich, wurde jedoch nur sehr selten durchgeführt. Auf der Grundlage des Gendiagnostikgesetzes, das 2010 in Kraft getreten ist und genetische Untersuchungen beim Menschen sowie die Verwendung genetischer Proben und Daten regelt, sind pränatale genetische Untersuchungen für spätmanifestierende Erkrankungen jedoch nicht mehr erlaubt (s. auch Chorea-Leitlinien).
Manifestationen von Krankheitssymptomen im Kindes- oder Jugendalter betreffen weniger als 1 % der HD-Fälle. Die Krankheitszeichen sind im jungen Alter eher unspezifisch. In der Regel werden asymptomatische Kinder bei spät manifestierenden, nicht kausal therapierbaren Erkrankungen nicht getestet. In einzelnen Fällen wird aber bei uncharakteristischer neurologisch-psychiatrischer Symptomatik junger Menschen in bekannten HD-Familien eine Ausschlussdiagnostik durchgeführt. Ein sehr früher Krankheitsbeginn (auch im Sinne der Antizipation) ist praktisch immer auf paternale Vererbung des HD-Allels bzw. erhebliche Weiterexpansion ursprünglich bereits verlängerter Allele in der männlichen Keimbahn zurückzuführen.
Fallbeispiel
In der humangenetischen Beratung stellte sich die 27-jährige Frau M. vor. Ihr Vater, der im Alter von 50 Jahren verstorben war, hatte neben anderen gesundheitlichen Problemen auch Symptome der Huntington-Erkrankung (HD) gezeigt mit Hyperkinesen, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen und mäßiger depressiver Verstimmung. Differenzialdiagnostisch war HD diskutiert worden, eine molekulargenetische Untersuchung war aber vor seinem Tod nicht erfolgt. Weitere Personen mit neurologischen Erkrankungen waren in der Familie nicht bekannt. Frau M., die selbst symptomfrei war, wünschte für sich prädiktive HD-Diagnostik.
Im ersten humangenetischen Beratungsgespräch wurde im Anschluss an die Anamnese und die Erstellung des Familienstammbaums (Abb. 2) ausführlich über die klinische Ausprägung der HD, den Mechanismus der CAG-Verlängerung im Huntingtin-Gen als genetische Ursache von HD, die autosomal-dominante Vererbung sowie die Möglichkeiten und Probleme der prädiktiven genetischen Testung gesprochen. Als persönliche Vertrauensperson war der Ehemann von Frau M. in die Gespräche einbezogen. Gemeinsam wurde u. a. erörtert, welche Konsequenzen das Wissen über die Anlageträgerschaft für das zukünftige Leben des Paares hätte, z. B. in Bezug auf Berufsausübung, Partnerschaft, Familienplanung u. v. m. In Einklang mit den geltenden Richtlinien für prädiktive Mutationsdiagnostik bei spätmanifestierenden Erkrankungen wurde eine angemessene (in der Regel mindestens 4-wöchige) Bedenkzeit gefordert, während der die Risikoperson bzw. das Ehepaar gemeinsam die Zeit haben sollte, zu Hause noch einmal in Ruhe über die besprochenen Inhalte nachzudenken und zu diskutieren. Außerdem gehört ein Gespräch mit einer psychologisch oder psychotherapeutisch ausgebildeten Person zur prädiktiven Vorgehensweise, um sicherzustellen, dass die Ratsuchende über die psychische Stabilität verfügt, auch ein ungünstiges Testergebnis verarbeiten zu können. Frau M. meldete sich daraufhin nach 5 Wochen zur Blutentnahme und nach weiteren 6 Wochen zur Ergebnismitteilung. Hier musste sie erfahren, dass sie HD-Anlageträgerin ist (ein Huntingtin-Gen-Allel weist >40 CAGs auf). Frau M. nahm dieses Ergebnis im Beisein ihres Gatten traurig, aber gefasst auf.
Ein Jahr später stellten sich Frau M. und ihr Ehemann erneut in der humangenetischen Beratung vor, da Frau M. in der 9. Woche schwanger war und beide Partner übereinstimmend pränatale HD-Diagnostik wünschten. Zu diesem Zeitpunkt gab es keine rechtliche Bestimmung, die die Pränataldiagnostik auf spätmanifestierende Erkrankungen regelte, sodass eine pränatale HD-Untersuchung im Rahmen einer humangenetischen Betreuung grundsätzlich möglich war, wenn die Eltern dies ausdrücklich wünschten und die Geburt eines betroffenen Kindes eine zu große psychische Belastung für die Familie darstellen würde. In einem intensiven humangenetischen Beratungsgespräch wurde über die 50 %ige Wahrscheinlichkeit, dass das Kind ebenfalls HD-Anlageträger sein könnte, die Methoden der Amniozentese bzw. Chorionzottenbiopsie, aber auch die Tatsache gesprochen, dass durch den genetischen Test der mögliche Verlauf der Erkrankung beim Kind nicht vorhergesehen werden kann. Ehepaar M. entschied sich für die Durchführung einer Chorionzottenbiopsie und musste in der 11. SSW erfahren, dass der Fetus ebenfalls HD-Anlageträger ist. Die Schwangerschaft wurde daraufhin auf Wunsch der Eltern abgebrochen. Trotz schwerer psychischer Belastung entschied sich das Ehepaar für eine weitere Schwangerschaft mit Pränataldiagnostik. Dieses Mal ergab die molekulargenetische Untersuchung, dass der Fetus nicht HD-Anlageträger war, und es wurde eine gesunde Tochter geboren.
Aktuell (2017) stellt sich Frau M. erneut in der humangenetischen Beratung vor, weil sie Kinderwunsch hat. Sie ist weiterhin symptomfrei und möchte sich insbesondere über die Auswirkungen des Gendiagnostik-Gesetzes auf die Pränataldiagnostik für HD erkundigen. Hier muss sie erfahren, dass die Pränataldiagnostik auf spätmanifestierende Erkrankungen wie HD gesetzlich nicht mehr erlaubt ist. In Anbetracht ihrer persönlichen Geschichte fällt es ihr schwer, diese Regelung zu verstehen. Dieser Fall verdeutlicht exemplarisch die Schwierigkeiten und Konflikte von prädiktiver und pränataler genetischer Diagnostik im Spannungsfeld von persönlicher Lebenssituation, ethischen Fragestellungen, Gesellschaft und Gesetzgebung.

Hereditäre Neuropathien

Als Beispiel für eine klinisch und genetisch sehr heterogene Erkrankungsgruppe sollen hier die hereditären motorisch-sensiblen Neuropathien (HMSN) herausgegriffen werden. Hierzu gehören die Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung (CMT) und einige verwandte Neuropathieformen, die in den meisten Fällen einem autosomal-dominanten Erbgang folgen. Die im letzten Jahrzehnt gelungene Entschlüsselung der meisten genetischen Ursachen sowie der zunehmende Einsatz von NGS-basierten Methoden hat gezeigt, dass einige dieser Krankheitsentitäten aus genetischer Sicht weiter zu unterteilen sind (Rossor et al. 2015): Einem einzelnen, klinisch abgrenzbaren Krankheitsbild können Veränderungen in ganz verschiedenen Genen zugrunde liegen. Diesen Sachverhalt bezeichnet man als genetische Heterogenität (Locus-Heterogenität). Es wird darüber hinaus zunehmend deutlich, dass Veränderungen in einzelnen dieser Gene aber auch für mehrere, klinisch unterschiedene Erkrankungen verantwortlich sein können.

Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung (CMT)

Aufgrund elektrophysiologischer und histopathologischer Befunde wird die CMT aus klinischer Sicht im Wesentlichen in zwei Formen unterteilt. Bei den primär demyelinisierenden Neuropathien (Myelinopathien) besteht eine Erniedrigung der Nervenleitgeschwindigkeiten (<38 m/s), der im histopathologischen Bild eine primäre Schädigung der Myelinscheiden entspricht. Diese Gruppe umfasst CMT1 (autosomal-dominanter Erbgang), CMTX (X-chromosomaler Erbgang) und CMT4 (autosomal-rezessiver Erbgang). Demgegenüber sind bei den selteneren axonalen Formen (Axonopathien) primär die Nervenzellfortsätze betroffen; die Nervenleitgeschwindigkeiten (NLG) sind nicht oder nur gering reduziert (>38 m/s). Hierzu zählt die CMT2 (autosomal-dominant sowie autosomal-rezessiv vererbte Formen). Zunehmend werden allerdings auch sog. intermediäre Formen beschrieben, bei denen eine klare klinische Einteilung in demyelinisierend bzw. axonal nicht möglich ist (NLG 25–45 m/s). Zusätzlich gibt es einige Sonderformen mit spezifischen klinischen und histopathologischen Bildern (Hypo- und/oder Dysmyelinisierung etc.): u. a. Déjerine-Sottas-Syndrom (DSS, auch als CMT3 bezeichnet, autosomal-dominante und rezessive Formen), kongenitale Hypomyelinisierung („congenital hypomyelination“, CH), die hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Drucklähmungen („hereditary neuropathy with liability to pressure palsies“, HNPP) und die Riesenaxon-Neuropathie („giant axonal neuropathy“, GAN, Gigaxonin).
Allen genannten Formen konnten in den letzten Jahren zugrunde liegende Gene bzw. Genloci zugeordnet werden. Demgemäß trifft man eine weitere Unterteilung in CMT1A (PMP22), CMT1B (MPZ), CMT1C (LITAF), CMTX1 (GJB1) usw. (zur Übersicht Tab. 2). Soweit bislang bekannt, sind bei den Myelinopathien v. a. Gene betroffen, die in den myelinisierenden Schwann-Zellen exprimiert werden und deren Genprodukte für die spezifischen Funktionen dieses Zelltyps von Bedeutung sind. Die bislang näher untersuchten für die Axonopathien verantwortlichen Gene werden demgegenüber hauptsächlich im Neuron exprimiert und spielen eine Rolle bei der Funktion des Axons. Die enge zelluläre Interaktion und wechselseitige strukturelle und funktionelle Abhängigkeit von Nervenzellen und Schwann-Zellen führt dazu, dass eine Schädigung des einen Zelltyps sich immer auch auf den anderen Typ direkt auswirkt und umgekehrt. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass es über die in Tab. 2 dargelegte Klassifizierung hinausgehend erhebliche Überlappungen der Krankheitsbilder gibt. So können sich beispielsweise bestimmte Mutationen in MPZ oder GJB1 sowohl als CMT1 oder CMT2 manifestieren. Im Folgenden sollen die für die Diagnostik derzeit relevantesten Gene hier kurz beschrieben werden.
Tab. 2
CMT-Formen, bekannte Gene und weitere Charakteristika
Form
OMIM-Nummera
Gen
Expression
Neuropathie-Typ
Vererbung
NLG
CMT1: autosomal-dominant
CMT1A
118220
PMP22
Schwann-Zelle
demyelinisierend
dominant
↓↓
CMT1B
118200
MPZ
Schwann-Zelle
demyelinisierend
dominant
↓↓
CMT1C
601098
LITAF
Schwann-Zelle
demyelinisierend
dominant
↓↓
CMT1D
607678
EGR2
Schwann-Zelle
demyelinisierend
dominant
↓↓
CMT1E
118220
PMP22
Schwann-Zelle
demyelinisierend
dominant
↓↓
CMT1F
607734
NEFL
Schwann-Zelle
demyelinisierend
dominant
↓↓
CMTX: X-chromosomal
CMTX1
302800
GJB1
Schwann-Zelle
demyelinisierend
(dominant)
↓(↓)
CMTX2-3
302801/302802
?
Schwann-Zelle
demyelinisierend
X-rezessiv
↓(↓)
CMTX4
310490
AIFM1
Schwann-Zelle
demyelinisierend
X-rezessiv
↓(↓)
CMTX5
311070
PRPS1
Schwann-Zelle
demyelinisierend
X-rezessiv
↓(↓)
CMTX6
300906
PDK3
Schwann-Zelle
demyelinisierend
X-dominant
↓(↓)
HNPP: autosomal-dominant
HNPP
162500
PMP22
Schwann-Zelle
demyelinisierend
dominant
Entrapment
CMT2: axonal; autosomal-dominant oder -rezessiv
CMT2A1/2
118210/609260
KIF1B/MFN2
Neuron
axonal
dominant
CMT2B
600882
RAB7
Neuron
axonal
dominant
CMT2B1
605588
LMNA
Neuron
axonal
rezessiv
CMT2B2
605589
MED25
Neuron
axonal
rezessiv
CMT2C
606971
TRPV4
Neuron
axonal
dominant
CMT2D
601472
GARS
Neuron
axonal
dominant
CMT2E
607684
NEFL
Neuron
axonal
dominant
CMT2F
606595
HSPB1
Neuron
axonal
rezessiv
CMT2G
608591
?
Neuron
axonal
rezessiv
CMT2H/-2K
607731/607831
GDAP1/JPH1
Neuron
axonal
rezessiv
CMT2I/-2J
607677/607736
MPZ
Neuron
axonal
dominant/intermediär
CMT2L
608673
HSPB8
Neuron
axonal
dominant
CMT2M
606482
DNM2
Neuron
axonal
dominant/intermediär
CMT2N
613287
AARS
Neuron
axonal
dominant
CMT2O
614228
DYNC1H1
Neuron
axonal
dominant
CMT2P
614436
LRSAM1
Neuron
axonal
rezessiv
CMT2Q
615025
DHTKD1
Neuron
axonal
dominant
CMT2R
615490
TRIM2
Neuron
axonal
rezessiv
CMT2S
616155
IGHMB2
Neuron
axonal
rezessiv
CMT2T
616233
DNAJB2
Neuron
axonal
rezessiv
CMT2U
616280
MARS
Neuron
axonal
dominant
CMT2V
616491
NAGLU
Neuron
axonal
dominant
CMT2W
616625
HARS
Neuron
axonal
dominant
CMT2X
616668
SPG11
Neuron
axonal
dominant
CMT2Y
616687
VCG
Neuron
axonal
dominant
CMT2Z
616688
MORC2
Neuron
axonal
dominant
CMT4: autosomal-rezessiv
CMT4A
214400
GDAP1
Schwann-Zelle
demyelinisierend
rezessiv
↓↓
CMT4B1
601382
MTMR2
Schwann-Zelle
demyelinisierend
rezessiv
↓↓
CMT4B2
604563
SBF2
Schwann-Zelle
demyelinisierend
rezessiv
↓↓
CMT4B3
615284
SBF1
Schwann-Zelle
demyelinisierend
rezessiv
↓↓
CMT4C
601596
SH3ZC2
Schwann-Zelle
demyelinisierend
rezessiv
↓↓
CMT4D
601455
NDRG1
Schwann-Zelle
demyelinisierend
rezessiv
↓↓
CMT4E
605253
EGR2/MPZ
Schwann-Zelle
kongenitale Hypomyeliniserung
rezessiv
↓↓
CMT4F
614895
PRX
Schwann-Zelle
demyelinisierend
rezessiv
↓↓
CMT4G (Russe)
605285
HK1
Schwann-Zelle
demyelinisierend
rezessiv
↓↓
CMT4H
609311
FGD4
Schwann-Zelle
demyelinisierend
rezessiv
↓↓
CMT4J
611228
FIG4
Schwann-Zelle
demyelinisierend
rezessiv
↓↓
CMT4K
616684
SURF1
Schwann-Zelle
demyelinisierend
rezessiv
↓↓
CMTdi: intermediär; autosomal-dominant
CMTdiA
606483
?
Schwann-Zelle
intermediär
dominant
↓(↓)
CMTdiB
606482
DNM2
Schwann-Zelle
intermediär
dominant
↓(↓)
CMTdiC
608323
YARS
Schwann-Zelle
intermediär
dominant
↓(↓)
CMTdiD
607791
MPZ
Schwann-Zelle
intermediär
dominant
↓(↓)
CMTdiE
614455
INF2
Schwann-Zelle
intermediär
dominant
↓(↓)
CMTdiF
615185
GNB4
Schwann-Zelle
intermediär
dominant
↓(↓)
CMT3: Déjerine-Sottas-Syndrom
DSS – HMSN3
145900
PMP22
Schwann-Zelle
demyelinisierend
dominant
↓↓↓
DSS – HMSN3
145900
MPZ
Schwann-Zelle
demyelinisierend
dominant
↓↓↓
DSS – HMSN3
145900
PRX
Schwann-Zelle
demyelinisierend
dominant/rezessiv
↓↓↓
DSS – HMSN3
145900
EGR2
Schwann-Zelle
demyelinisierend
dominant
↓↓↓
CMT Charcot-Marie_Tooth-Erkrankung, DSS Déjerine-Sottas-Syndrom, HMSN hereditäre motorisch-sensible Neuropathie, NLG Nervenleitgeschwindigkeit.
aDie entsprechenden Einträge zu den jeweiligen Krankheitsentitäten in der öffentlich über das Internet zugänglichen OMIM-Datenbank (Online Mendelian Inheritance in Man) werden immer unmittelbar auf den aktuellen Wissensstand gebracht; zusätzliche molekulargenetische Informationen sind unter http://www.molgen.ua.ac.be/cmtmutations/erhältlich.

CMT1

Die autosomal-dominant vererbte CMT1 manifestiert sich in der Regel als demyelinisierende periphere Myopathie mit deutlich herabgesetzter Nervenleitgeschwindigkeit. Ursächlich für diese Verlaufsform sind meist Veränderungen im PMP22-Gen; darüber hinaus können Mutationen in den MPZ-, LITAF-, EGR2- und NEFL-Genen gefunden werden.
PMP22-Gen
Das vom PMP22-Gen kodierte integrale Membranprotein ist ein wesentlicher Bestandteil des kompakten Myelins im peripheren Nerven. Bei der überwiegenden Mehrheit der CMT1-Patienten (mind. 70 %) wird die Erkrankung durch eine Verdopplung (Duplikation) einer DNA-Region im Bereich von Chromosom 17p11.2–p12, die das PMP22-Gen und zusätzlich etwa 1,5 Mio. Basen (Mb) umfasst, hervorgerufen. Wie in Abb. 3 veranschaulicht, sind aufgrund der Duplikation insgesamt 3 Kopien des PMP22-Gens vorhanden. Sowohl bei Patienten mit Duplikation wie auch im entsprechenden transgenen Mausmodell wird PMP22 im Myelin überexprimiert. Dass tatsächlich die Dosiserhöhung des PMP22-Gens von pathogenetischer Bedeutung ist, ergibt sich aus der Beobachtung, dass Patienten mit homozygot vorliegender Duplikation (also 4 Genkopien) eine besonders schwere Krankheitsausprägung zeigen. Die reziproke Deletion der bei der CMT1A duplizierten PMP22-Genregion ist die häufigste Ursache der HNPP und liegt bei etwa 84 % der Patienten vor. Diese Patienten besitzen nur eine Kopie des PMP22-Gens. Punktmutationen im PMP22-Gen sind deutlich seltener und können zu Krankheitsbildern mit unterschiedlicher Symptomatik und variablem Schweregrad führen. Neben dem typischen CMT1A-Phänotyp wurden spezifische PMP22-Mutationen auch bei DSS, CH, HNPP und Subtypen mit zusätzlicher Symptomatik (z. B. sensorineurale Taubheit) gefunden.
MPZ-Gen
Das MPZ-Gen kodiert für das Zelladhäsionsprotein P0, das ebenfalls in die Zellmembran der Schwann-Zellen eingelagert ist und die vorherrschende Komponente im peripheren Myelin darstellt. Viele der beschriebenen Mutationen in MPZ manifestieren sich als demyelinisierender CMT1B-Phänotyp. Ebenso kann jedoch auch eine primär axonale Symptomatik (wie bei CMT2) beobachtet werden. Des Weiteren wurden MPZ-Mutationen u. a. auch bei Patienten mit spezifischen Begleitsymptomen (z. B. Verdickung des Nervus trigeminus, Taubheit, Pupillenanomalien), DSS und CH nachgewiesen. Mutationen im MPZ-Gen ergeben ein breites klinisches Spektrum von demyelinisierender oder axonaler Schädigung mit frühem oder spätem Symptombeginn sowie milder oder schwerer Verlaufsform und diversen Begleitsymptomen.
LITAF-Gen
Das LITAF-Gen, auch als SIMPLE-Gen bezeichnet, umfasst 4 Exons und kodiert für einen lipopolysaccharid-induzierten Tumor-Nekrose-Faktor α (TNFα), der eine Rolle in intrazelluären Proteinabbauprozessen zu spielen scheint. Bislang wurden nur wenige Mutationen in diesem Gen beschrieben, von denen die meisten in Exon 3 lokalisiert waren. Bislang entspricht die klinische Verlaufsform in den beschriebenen Fällen einer klassischen CMT1 (CMT1C).
EGR2-Gen
EGR2 (Early growth response 2)/Krox-20 ist ein Transkriptionsfaktor, d. h. ein Protein, das die Expression anderer Proteine durch Bindung an spezifische DNA-Strukturen im Bereich der jeweiligen Promotoren reguliert. EGR2 spielt eine zentrale Rolle in der Entwicklung des peripheren Nervensystems. Der Transkriptionsfaktor reguliert die Bildung verschiedener Myelinproteine (u. a. PMP22, P0 und Cx32, s. unten) und steuert die Expression von Enzymen, die für die Lipidsynthese benötigt werden. Dies macht verständlich, dass Mutationen im EGR2-Gen demyelinisierende Neuropathieformen auslösen können. Die Ausprägung und der Schweregrad der durch EGR2-Mutationen ausgelösten Krankheitsbilder können stark variieren, sogar zwischen Patienten mit identischer genetischer Veränderung. EGR2-Mutationen wurden bei schweren Verlaufsformen der CMT1, aber auch bei DSS und CH (in rezessiver Form) gefunden.

CMTX

Bei einer erblichen motorisch-sensiblen Neuropathie mit X-chromosomalem Erbgang spricht man von CMTX. Am häufigsten (90 %) werden Mutationen im GJB1-Gen auf dem X-Chromosom gefunden (CMTX1); darüber hinaus sind weitere seltene X-chromosomale Genorte bekannt (Tab. 2).
GJB1-Gen
GJB1 trägt die Information für das Gap-Junction-Protein Connexin-32 (Cx32), das eine Kanalfunktion für kleine Moleküle zu haben scheint. Mutationen im GJB1-Gen sind nach der PMP22-Duplikation die zweithäufigste CMT-Ursache. Inzwischen wurden >300 verschiedene Mutationen beschrieben. Männliche Patienten sind in der Regel klinisch schwerer betroffen; Frauen zeigen meist eine mildere Symptomatik. Während sich die Erkrankung bei betroffenen Männern vorwiegend als demyelinisierende Neuropathie mit deutlich herabgesetzter Nervenleitgeschwindigkeit manifestiert, wurden v. a. bei Frauen auch CMT2-typische Verlaufsformen mit weitgehend normaler Nervenleitgeschwindigkeit dokumentiert.

CMT2

Unter CMT2 werden axonale (nicht demyelinisierende) hereditäre Neuropathien zusammengefasst, bei denen die Nervenleitgeschwindigkeit in der Regel nicht oder nur gering reduziert ist. Mit molekulargenetischen Methoden wurden bislang ca. 20 verschiedene Subtypen unterschieden (Tab. 2), von denen jedoch nur wenige per Sanger-Sequenzanalyse routinemäßig untersucht werden. Klinisch zeigen sich große Überlappungen zwischen CMT1 und CMT2, was sich auch in der Tatsache widerspiegelt, dass Mutationen im MPZ-Gen – wie oben bei CMT1 erläutert – nicht selten auch bei CMT2 gefunden werden.
MFN2-Gen
Mutationen im MFN2-Gen sind für etwa 5–20 % der Fälle von CMT2 verantwortlich (Typ CMT2A2). MFN2 kodiert für Mitofusin 2, eine GTPase, die in der äußeren Mitochondrienmembran lokalisiert ist. Es wird vermutet, dass Defekte im Mitofusin-Protein den Energiehaushalt für den axonalen mitochondrialen Transport beeinflussen. Das MFN2-Gen umfasst 19 Exons, über die die bislang beschriebenen über 40 Mutationen verteilt sind, wobei gehäuft Mutationen in und um die GTPase-Domäne lokalisiert sind. Da es sich hierbei um eine umfangreiche Diagnostik handelt, ist die Indikationsstellung für die Sanger-Sequenzierung im Einzelfall zu prüfen.

CMT4

Als CMT4 wird eine Gruppe seltener demyelinisierender Neuropathien zusammengefasst, die autosomal-rezessiv vererbt werden.
Periaxin-Gen
Mutationen im Periaxin(PRX)-Gen sind bei Patienten mit CMT4F (durch schwere neuropathische Schmerzen gekennzeichnet) sowie bei Formen von DSS bekannt. Periaxin wird in myelinisierenden Schwann-Zellen exprimiert. Durch alternatives Spleißen entstehen zwei Isoformen, S- und L-Periaxin. Während S-Periaxin im Zytoplasma lokalisiert ist, formt L-Periaxin einen Komplex mit verschiedenen anderen Proteinen im Bereich der Zellmembran und dient der Verankerung des Zytoskeletts der Schwann-Zelle in der extrazellulären Matrix. Eine gestörte Periaxin-Funktion führt zur Instabilität der Schwann-Zelle.
GDAP1-Gen
Wie für MPZ beschrieben, können auch Mutationen im GDAP1(Ganglioside-induced differentiation-associated protein 1)-Gen sowohl demyelinisierende wie auch axonale CMT-Formen hervorrufen. GDAP1-Mutationen wurden in mehreren tunesischen Familien mit autosomal-rezessiver demyelinisierender CMT (CMT4A) sowie in spanischen Familien mit axonaler Neuropathie gefunden.
MTMR2- und NDRG1-Gene
Bei den schwer verlaufenden CMT4B1 und CMT4D handelt es sich ebenfalls um autosomal-rezessive, demyelinisierende CMT-Formen mit spezifischen klinischen und pathologischen Charakteristika. Bei CMT4B1 bzw. CMT4D wurden Mutationen im MTMR2(Myotubularin-related protein 2)-Gen bzw. im NDRG1(N-myc downstream-regulated gene 1)-Gen identifiziert. Über die genaue Funktion der kodierten Proteine und ihre pathogenetische Rolle bei der Krankheitsentstehung ist bislang allerdings wenig bekannt. Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Gene, in denen Mutationen für sehr seltene CMT4-Formen ursächlich sind (Tab. 2).
DNA-Diagnostik
Aufgrund der klinisch oft schwierigen differenzialdiagnostischen Abgrenzbarkeit der verschiedenen hereditären Neuropathien untereinander und zu anderen, nicht erblich bedingten Neuropathieformen – insbesondere in fortgeschrittenen Krankheitsstadien – haben die molekulargenetischen Nachweisverfahren große Fortschritte in der Diagnosestellung erbracht. In den meisten Fällen kann die invasive Entnahme von Nervenbiopsien bereits umgangen werden. Um einzugrenzen, nach welchen genetischen Veränderungen gesucht werden muss, ist eine exakte klinische Befunderhebung wichtige Voraussetzung für die DNA-Diagnostik.
Duplikationen und Deletionen der PMP22-Genregion als weitaus häufigste Ursachen der CMT1 bzw. HNPP können mittels „multiplex ligation dependent probe amplification“ (MLPA-Analyse) nachgewiesen werden. Aufwendiger ist die Analyse von Punktmutationen in mehr als 40 Genen, die für verschiedene Krankheitstypen verantwortlich sind. Während bislang hauptsächlich die Sanger-Sequenzierung der häufigsten Gene eingesetzt wurde, gewinnen NGS-basierte Panel-Untersuchungen für derart heterogene Erkrankungen wie die HMSN zunehmend an Bedeutung (Abb. 4). Dabei spielen zur Auswahl des jeweils geeigneten Panels nach wie vor sowohl die klinische Einteilung in demyelinisierend bzw. axonal als auch die Erstellung eines Familienstammbaums und der Versuch der Einordnung in einen Erbgang (autosomal-dominant, X-chromosomal, autosomal-rezessiv) eine mitentscheidende Rolle. So sollte z. B. bei demyelinisierender Neuropathie mit vermutlich dominanter Vererbung (mehrere Betroffene im Stammbaum in aufeinanderfolgenden Generationen) erst die PMP22-Duplikation untersucht und bei negativem Befund eine Panel-Untersuchung für CMT1 angestrebt werden. Wenn der Familienstammbaum dagegen für eine X-chromosomale Vererbung spricht (nur Männer bzw. Jungen erkrankt oder Frauen deutlich schwächer betroffen als Männer), sollte zuerst das GJB1-Gen untersucht werden. Bei Verdacht auf eine axonale HMSN (CMT2) kann dagegen direkt die entsprechende Panel-Untersuchung in die Wege geleitet werden. Auch bei negativer oder unvollständiger Familienanamnese kann eine Untersuchung der PMP22-Duplikation und danach ggf. eine Panel-Untersuchung in Erwägung gezogen werden, da in einem nicht unerheblichen Teil der Fälle auch Neumutationen beobachtet werden. Aufgrund der zunehmenden Erkenntnisse über die genetischen Grundlagen der CMT kann sich die diagnostische Strategie auch in Zukunft immer wieder ändern. Daher sollten genetische Untersuchungen in enger Kooperation zwischen klinisch betreuenden Ärzten und Humangenetikern erfolgen. Trotz der deutlich besseren Aufklärungsrate bei Panel-Diagnostiken gegenüber der Sanger-Sequenzierung einzelner Gene sollte den Patienten verdeutlicht werden, dass sich auch mit diesem Ansatz nicht alle Fälle lösen lassen und dass möglicherweise unklare Varianten entdeckt werden könnten, deren Pathogenität zunächst unklar bleibt.

Spastische Spinalparalysen

Die spastischen Spinalparalysen (SSP) werden in der humangenetischen Literatur synonym auch als spastische Paraplegien (SPG) bezeichnet bzw. die erblichen Formen hereditäre oder familiäre spastische Paraplegien (HSP bzw. FSP) genannt. Die Grundklassifikation erfolgt aus klinischem Blickwinkel zumeist vereinfachend in reine und komplizierte SPG oder HSP. Neben den Symptomen der reinen HSP (spastische Muskeltonuserhöhung in den unteren Extremitäten, gesteigerte Muskeleigenreflexe, Babinski-Zeichen, Muskelschwäche, reduziertes Vibrationsempfinden, Blasenentleerungsstörungen) treten bei komplizierter HSP eventuell einige zusätzliche Zeichen auf (mentale Retardierung, Epilepsie, Demenz, Ataxie, Taubheit, Optikusatrophie u. a.). Die Ausprägung der klinischen Symptomatik ist sehr variabel, sowohl bei verschiedenen Betroffenen innerhalb derselben Familie als auch im Vergleich zwischen unverwandten Patienten. Erste Krankheitszeichen können in jedem Alter einsetzen. Ein Häufigkeitsgipfel des Manifestationsalters findet sich vor dem 6. und ein zweiter zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. SSP können dem autosomal-dominanten (ca. 75 %), dem autosomal-rezessiven (ca. 20 %) oder selten einem X-chromosomal-rezessiven Erbgang folgen.
DNA-Diagnostik
HSP stellen äußerst heterogene Krankheitsbilder dar. Mittlerweile sind über 70 verschiedene SPG-Genorte identifiziert worden, von denen bei den meisten das betroffene Gen genau bekannt ist, und die Zahl steigt weiter (Übersicht bei Fink 2014). Genetische Diagnostik muss daher in enger Kooperation mit den klinisch betreuenden Ärzten erfolgen, um einzugrenzen, welche Diagnostik beim jeweiligen Patienten sinnvoll ist. In Familien, in denen die Stammbaumerhebung auf eine autosomal-dominant vererbte HSP hinweist, werden in Deutschland am häufigsten (ca. 40 %) Mutationen im Spastin-Gen (SPG4) nachgewiesen. Dabei handelt es sich zumeist um „private“, d. h. oft familientypische genetische Veränderungen. Das SPG4-Gen besteht aus 17 Exons, die einzeln mittels PCR amplifiziert und durch direkte Sequenzanalyse untersucht werden können. Darüber hinaus wird eine sog. MLPA-Analyse durchgeführt, mit der größere Deletionen oder Duplikationen entdeckt werden. Bei weiteren ca. 10 % der Familien mit autosomal-dominanter HSP werden Mutationen im Atlastin-Gen (SPG3) und bei ca. 6 % im REEP1-Gen (SPG31) gefunden. In sporadischen Fällen (d. h. ein einzelner Betroffener bei negativer Familienanamnese) wird nur in etwa 10 % eine Mutation im SPG4-Gen identifiziert. Das Vorhandensein mehrerer betroffener Kinder bei gesunden (oft konsanguinen) Eltern kann Hinweis auf eine autosomal-rezessiv vererbte HSP sein. In einigen Familien mit autosomal-rezessiver HSP wurden Mutationen im Paraplegin-Gen (SPG7) nachgewiesen. Insbesondere bei Hinweisen auf eine komplexe, rezessiv vererbte HSP-Form mit zusätzlichem Vorliegen eines dünnen Corpus callosum und mentaler Retardierung sollte eine Untersuchung des SPG11-Gens erfolgen, in dem bei dieser klinischen Untergruppe in etwa 40–70 % der Fälle eine Mutation entdeckt wird. Die anderen Genorte/Gene für autosomal-rezessive HSP sind extrem selten betroffen und wurden z. T. nur bei einzelnen Familien beschrieben, sodass eine routinemäßige einzelne Untersuchung dieser Gene nicht sinnvoll ist. Bei ausschließlich männlichen Betroffenen und evtl. zusätzlichem Vorliegen eines Hydrozephalus sollte an eine seltene X-chromosomal rezessive HSP-Form gedacht werden. Aufgrund der großen Heterogenität werden jedoch auch bei der SPG-Diagnostik mittlerweile v. a. NGS-basierte Panel-Untersuchungen unter Berücksichtigung der Stammbauminformation eingesetzt werden.

Amyotrophe Lateralsklerose

Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist durch Degeneration von Motoneuronen im motorischen Kortex, Hirnstamm und Rückenmark bedingt. Mit einer Prävalenz von etwa 5 auf 100.000 ist die ALS eine nicht so seltene, letal verlaufende neurodegenerative Erkrankung. In über 90 % aller Fälle tritt die ALS sporadisch auf; etwa 10 % der Fälle sind familiär. Bei der überwiegenden Mehrheit dieser familiären Fälle ist der autosomal-dominante Erbgang zu beobachten, jedoch sind selten auch autosomal-rezessive oder X-chromosomale Erbgänge beschrieben (Übersicht bei Boylan 2015). Der rapid progrediente Krankheitsverlauf mit einer mittleren Dauer von etwa 3 Jahren ist hierbei klinisch nicht wesentlich vom sporadischen Typ zu unterscheiden, allerdings liegt das mittlere Erkrankungsalter mit 46 Jahren etwa 10 Jahre unter dem Manifestationsalter bei der sporadischen ALS. Die Penetranz der dominant vererbten ALS ist altersabhängig: Im Alter von 85 Jahren haben etwa 80 % der Mutationsträger Krankheitssymptome entwickelt, einige Betroffene können also bis zum Tod symptomfrei bleiben. Auch innerhalb einer einzelnen Familie können Manifestationsalter und Erkrankungsverlauf deutlich schwanken. Die familiäre ALS ist genetisch heterogen. Bei etwa 23–30 % der familiären Formen wird die Verlängerung eines Hexanukleotid-Blocks auf Chromosom 9 (Chromosome 9 open reading frame 72, C9ORF72) als krankheitsursächliche Veränderung gefunden, es handelt sich also um eine Mikrosatelliten-Expansionserkrankung (Abschn. 3.2). Klinisch zeigt sich hierbei eine starke Überlappung zur frontotemporalen Demenz (FTD), und das gleichzeitige Auftreten einer FTD beim Patienten (sog. FTD-ALS) oder einer positiven Familienanamnese für FTD wird bei bis zu 50 % der ALS-Patienten, die eine C9ORF72-Expansion tragen, beobachtet. Bei weiteren 15–20 % der familiären Formen werden Mutationen im Gen für Cu/Zn-Superoxid-Dismutase (SOD1) auf Chromosom 21q22 gefunden. Daneben wurden in den letzten Jahren einige weitere Gene für die familiäre ALS beschrieben (das Gen für das Tar-DNA-Bindeprotein 43 [TARDBP] auf Chromosom 1q, das FUS/TLS-Gen auf Chromosom 16, das Angiogenin-Gen [ANG] auf Chromosom 14q und das Gen für das VAMP-assoziierte Protein B und C [VAPB] auf Chromosom 20q). Eine seltene juvenile autosomal-dominante Verlaufsform mit Erkrankungsbeginn vor dem 25. Lebensjahr und langsamer Progredienz wird durch Mutationen im Senataxin(SETX)-Gen hervorgerufen. Neben der dominant vererbten ALS gibt es auch sehr seltene juvenile Formen, für die ein autosomal-rezessiver Erbgang zu beobachten ist. Auch bei den rezessiven Formen liegt genetische Heterogenität vor: Für einen Teil der Fälle konnten Mutationen im Alsin-Gen auf Chromosom 2q oder im Optineurin-Gen auf Chromosom 10 nachgewiesen werden; ein weiterer Genort wird auf Chromosom 15q vermutet.
Pathomechanismus
Der zum selektiven Zelluntergang von Motoneuronen führende Pathomechanismus ist noch nicht ganz klar. Insbesondere die Funktion des C9orf72-Proteins ist bislang weitgehend ungeklärt. Während Normalallele bis zu 25 Wiederholungen des GGGGCC-Hexanukleotidblocks aufweisen, sind bei Betroffenen mit ALS/FTD meist >60 bis zu mehreren Tausend Repeats nachweisbar; eine genaue Grenze, ab wie vielen Repeats von einer pathogenen Wirkung auszugehen ist, wurde allerdings bislang nicht definiert. Verschiedene pathogenetische Mechanismen werden diskutiert, u. a. eine toxische Wirkung der gebildeten RNA oder eine unzureichende Funktion des C9orf72-Proteins im haploiden Zustand (sog. Haploinsuffizienz). Die anderen identifizierten Gene für die familiäre ALS kodieren für Proteine, die an verschiedenen zellulären Mechanismen beteiligt sind, u. a. Oxidation, axonaler Transport, DNA/RNA-Prozessierung und Apoptose. Diese Beobachtung könnte darauf hindeuten, dass für die Pathogenese der ALS verschiedene Prozesse eine Rolle spielen, die alle letztendlich zu Neurodegeneration führen. Die meisten Erkenntnisse liegen bislang für die SOD1-assoziierte Form der familiären ALS vor. Die vom SOD1-Gen kodierte Cu/Zn-Superoxid-Dismutase katalysiert den Abbau des instabilen, hochreaktiven Superoxid-Anions zu Sauerstoff und Wasserstoffperoxid, hat also eine zentrale Funktion im Schutz vor den zytotoxischen Effekten reaktiver Sauerstoffspezies. Das Enzym ist als Homodimer aus zwei identischen Untereinheiten aufgebaut. Jede Untereinheit besitzt ein aktives Zentrum, das jeweils ein Kupfer- und ein Zinkatom enthält. Das SOD1-Gen umfasst 5 Exons und wird in vielen Gewebstypen exprimiert. Insgesamt wurden über 100 unterschiedliche Mutationen in diesem Gen identifiziert, vorwiegend Missense-Mutationen (zum Austausch einzelner Aminosäuren führende Einzelbasenaustausche), daneben einzelne Stop-Codon-Mutationen, kleine Deletionen und Spleißstellenmutationen. Unterschiedliche SOD1-Mutationen scheinen nach gegenwärtigem Kenntnisstand keinen signifikanten Einfluss auf das Manifestationsalter zu haben, führen aber zu signifikanten Unterschieden der mittleren Erkrankungsdauer in einer Familie, die zwischen wenigen Monaten und mehreren Jahrzehnten variieren kann. Zu erwähnen sind außerdem einzelne Mutationen mit sehr niedriger Penetranz, die bei scheinbar sporadischem Auftreten der ALS vorliegen können. Die detaillierte Familienanamnese und DNA-Analyse ergab in solchen Fällen, dass es sich tatsächlich um ererbte Mutationen handelt, die nur sehr selten zur Krankheitsausprägung führen. Zudem ist eine rezessiv vererbte Mutation bekannt (D90A), die offenbar nur in homozygotem Zustand krankheitsauslösend wirkt, auch dann nur mit geringer Penetranz.
Der genaue pathogenetische Mechanismus der einzelnen SOD1-Mutationen ist bislang weitestgehend ungeklärt. Tierexperimentelle Untersuchungen deuten darauf hin, dass weniger eine Abnahme der Enzymaktivität der Superoxid-Dismutase, z. B. über Strukturveränderungen des Enzyms oder beschleunigten Abbau, sondern eher mutationsbedingte neuartige, veränderte Funktionen der Superoxid-Dismutase (sog. „gain of function“) mit vermehrter Produktion toxischer Metabolite eine Rolle zu spielen scheinen. Durch beide Mechanismen könnte es letztlich zu einer Störung des zellulären Gleichgewichts in der Umsetzung freier Radikale kommen. Insgesamt ergeben die vorliegenden experimentellen Daten starke Anhaltspunkte dafür, dass oxidative zytotoxische Mechanismen am Zelltod der Motoneurone beteiligt sind.
Im Gegensatz zur familiären ALS, die durch Mutationen in jeweils einem einzelnen Gen hervorgerufen und nach den Mendel‘schen Gesetzen vererbt wird, handelt es sich bei dem überwiegenden Teil aller ALS-Erkrankungen um sporadische Fälle, für die eine komplexe multifaktorielle Entstehung (wie bei multipler Sklerose, Abschn. 8) vermutet wird. Hierbei spielen vermutlich viele verschiedene Gene eine Rolle, jeweils mit nur sehr geringer Auswirkung auf die Krankheitsausprägung, die in komplexer Interaktion untereinander sowie mit Umweltfaktoren zusammen letztlich die Krankheitsentstehung beeinflussen. In einem kleinen Teil der sporadischen ALS-Fälle werden allerdings auch Mutationen in den o. g. Genen für autosomal-dominante ALS gefunden, und auch modifizierende Faktoren bei gleichzeitigem Vorliegen von Mutationen in mehreren Genen werden diskutiert.
DNA-Diagnostik
Bei Vorliegen einer familiären ALS (d. h. mindestens zwei betroffene Familienmitglieder in der Anamnese) besteht prinzipiell die Möglichkeit einer molekulargenetischen Untersuchung der am häufigsten betroffenen Gene (v. a. C9ORF72 und SOD1). Bei der Stammbaumerhebung sollte hier unbedingt auch auf Formen der Demenz, v. a. FTD, geachtet werden, da insbesondere bei Auftreten von FTD und ALS innerhalb einer Familie eine Untersuchung der C9ORF72-Expansion sinnvoll ist. Bei Verdacht auf einen autosomal-rezessiven Erbgang kann ggf. eine Mutationsanalyse des Alsin-Gens durchgeführt werden. Allerdings ist zu bedenken, dass es sich jeweils um aufwendige Diagnostiken handelt, die nur bei einem Teil der Familien letztlich zur Identifikation der krankheitsverursachenden Mutation führen, sodass die Möglichkeiten und Grenzen der genetischen Untersuchungen sowie die Relevanz für die entsprechende Familie im Vorfeld kritisch erörtert werden sollten. Wenn in einer Familie die auslösende Mutation in einem der o. g. Gene bereits bekannt ist, erfordert der diagnostische oder präsymptomatische Nachweis bei weiteren Familienmitgliedern erheblich weniger technischen Aufwand. Insbesondere bei Anwendung zur präsymptomatischen Diagnostik muss die genetische Testung in ein umfassendes humangenetisches Beratungskonzept eingebunden sein, entsprechend der oben exemplarisch erläuterten Vorgehensweise bei M. Huntington und anderen spät manifestierenden Erkrankungen (Abschn. 3.1). Auch für die familiäre ALS gilt hierbei, dass aufgrund der erheblichen phänotypischen Variabilität auf der Basis des Genotyps selbst innerhalb einer einzelnen Familie keine Prognose über Erkrankungsalter und -verlauf gestellt werden kann; zudem ist bei der Beratung auch die unvollständige Penetranz der ALS zu berücksichtigen.

Alzheimer-Demenz

Die Alzheimer-Demenz (AD) ist die häufigste Ursache von Demenz im höheren Lebensalter. Wie bei der ALS (Abschn. 6) scheint die Erkrankung in der Mehrheit der Fälle multifaktoriell bedingt zu sein, d. h., mehrere, zumeist noch unbekannte genetische Faktoren und Umwelteinflüsse wirken bei der Entstehung zusammen. Mit dem Apolipoprotein-E(ApoE)-Gen ist seit einigen Jahren einer der genetischen Einflussfaktoren bekannt, die zur Prädisposition für die AD beitragen (AD2). Einen wichtigen Zugang zum Verständnis der molekularen Pathogenese bieten darüber hinaus die seltenen, monogen ausgelösten Varianten der AD mit häufig frühem Manifestationsalter, für die ein autosomal-dominanter Erbgang nachweisbar ist. Hier konnten drei verschiedene Gene identifiziert werden, die in der Mehrzahl der betroffenen Familien der Erkrankung zugrunde liegen. Bereits etwas länger bekannt ist das Gen für das Amyloid-β-Vorläuferprotein (Amyloid-β protein precursor, APP; AD1); die beiden anderen Gene kodieren für zwei eng verwandte Proteine, Presenilin 1 und Presenilin 2 (PSEN1 [AD3] und PSEN2 [AD4]; Übersicht bei Van Cauwenberghe et al. 2015; Tab. 3). Weitere monogen bedingte AD-Formen sind auf andere chromosomale Regionen zurückzuführen, und auch mitochondriale Polymorphismen erscheinen in manchen Fällen als Risikofaktoren für AD.
Tab. 3
Bekannte Gene/Genloci für Alzheimer-Demenz
Phänotyp
OMIM-Nummer
Gen/Locus
M. Alzheimer 1, familiär
104300
APP
21q21.3
M. Alzheimer 2, APOE*4 assoziiert
104300
APOE
19
M. Alzheimer 3
104300
PSEN1
14q
M. Alzheimer 4
104300
PSEN2
1q31
M. Alzheimer 5
104300
AD5
12p11.23–q13.12
M. Alzheimer 6
104300
AD6
10q24
M. Alzheimer 7
104300
AD7
10p13
M. Alzheimer 8
104300
AD8
20p
M. Alzheimer 9, spät, Suszeptibilität
104300
AD9
19p13.2
M. Alzheimer 10
104300
AD10
7q36
M. Alzheimer 11
104300
AD11
9q22
M. Alzheimer 12
104300
AD12
18p12–q22
M. Alzheimer 13
104300
AD13
1q21
M. Alzheimer 14
104300
AD14
1q25
M. Alzheimer 15
104300
AD15
3q22–q24
M. Alzheimer 16
104300
AD16
Xq21.3
M. Alzheimer 17
104300
AD17
6p21.2
M. Alzheimer 18
104300
ADAM10
15q21.3
M. Alzheimer 19
104300
PLD3
19q13.2
M. Alzheimer, spät, Suszeptibilität
104300
NOS3, PLAU
7q36.1, 10q22.2
M. Alzheimer, Suszeptibilität
104300
HFE, PACIP1, SORL1, A2M, BLMH, MPO, ACE, LRP1, TF, VEGF, ABCA2, TNF, APBB2
mitochondriale Mutationen
Aus histopathologischer Sicht sind die klinisch und genetisch abgrenzbaren Erkrankungsformen der AD nicht unterscheidbar. Zu den charakteristischen, wenn auch nicht streng krankheitsspezifischen Veränderungen gehört neben Nervenzellverlust und intrazellulärer Neurofibrillenansammlung die extrazelluläre Ablagerung von neuritischen Plaques. Hauptbestandteil der Plaques sind Amyloid-β(Aβ)-Fibrillen, die durch proteolytische Spaltung aus dem Vorläuferprotein APP entstehen und aufgrund ihrer Struktureigenschaften starke Aggregationsneigung besitzen. Nicht nur die krankheitsauslösende Wirkung von Mutationen im APP-Gen, sondern auch Erkenntnisse zu den anderen, bislang bekannten genetischen Komponenten – ApoE, PSEN1 und PSEN2 – lassen darauf schließen, dass dem Metabolismus von APP bzw. Aβ eine zentrale Rolle in der molekularen Pathogenese der AD zukommt.

Monogene Formen der Alzheimer-Demenz

Die meisten autosomal-dominant vererbten, familiären Formen der AD scheinen durch Mutationen im APP-Gen oder in den Presenilin-Genen bedingt zu sein. Diese Subtypen zeigen gewisse Unterschiede im Manifestationsalter und Erkrankungsverlauf. Mutationen im APP-Gen (lokalisiert auf Chromosom 21q21.2) werden bei etwa 10–15 % der autosomal-dominant vererbten AD gefunden. Das Erkrankungsalter in diesen Familien liegt zumeist zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr. Mutationen im PSEN1-Gen (Chromosom 14q24.3) führen zu einem besonders aggressiven Krankheitsverlauf, häufig mit Manifestation im Alter zwischen 30 und 60 Jahren. Man schätzt, dass etwa 30–70 % der autosomal-dominanten AD-Fälle auf Mutationen im PSEN1-Gen zurückzuführen sind. Selten werden dagegen Mutationen im PSEN2-Gen, das auf Chromosom 1q31–q42 angesiedelt ist, gefunden. Zur Identifizierung dieses letztgenannten Gens haben Familienstudien in einigen weit verzweigten Großfamilien ursprünglich wolgadeutscher Herkunft entscheidend beigetragen. Aufgrund gemeinsamer Vorfahren findet man in diesen miteinander verwandten Familien eine einzelne, gemeinsame krankheitsauslösende Mutation (Gründereffekt). PSEN2-Mutationen gehen mit einem etwas späteren Erkrankungsalter einher, das innerhalb einer einzelnen Familie stark variabel ist und meist zwischen 40 und 70, z. T. aber auch bei mehr als 80 Jahren liegt.
Die physiologische Funktion und pathogenetische Bedeutung von APP und den Presenilinen ist immer noch nicht vollständig geklärt. Alle 3 Gene werden nicht nur in verschiedenen ZNS-Regionen, sondern in einer Vielzahl weiterer Körpergewebe exprimiert. Vermittelt durch offenbar sehr komplexe Regulationsvorgänge entstehen aus dem APP-Gen durch alternatives Spleißen des primären RNA-Transkripts verschiedene Protein-Isoformen, die zudem im Rahmen von intrazellulären Transportvorgängen unterschiedlichen posttranslationalen Modifikationen unterworfen sind (Phosphorylierung, Glykosylierung etc.). Im Bereich des C-Terminus weisen APP-Moleküle eine membrandurchspannende Domäne auf und sind auf diese Weise in der äußeren Zellmembran oder in intrazellulären Membransystemen verankert. Aus membranständigem APP können durch verschiedene Wege der proteolytischen Prozessierung, an der u. a. β- und γ-Sekretasen beteiligt sind, unterschiedliche Spaltprodukte entstehen, die in den Extrazellularraum sekretiert werden. Hierzu gehört u. a. das 39–43 Aminosäuren umfassende Aβ-Peptid. Das zunächst lösliche Aβ kann sich zu den sog. Aβ-Fibrillen zusammenlagern, die starke Tendenz zu weiterer Aggregation miteinander besitzen. Für eine bestimmte Domäne des APP-Proteins nimmt man eine Funktion als Protease-Inhibitor an. Für verschiedene APP-Isoformen, wie auch für das lösliche Aβ, geben Zellkulturexperimente Hinweise auf neuroprotektive, trophische Wirkungen. Demgegenüber hat das fibrilläre Aβ neurotoxische Effekte, möglicherweise z. T. vermittelt durch die Entstehung freier Radikale und die Aktivierung von Entzündungsreaktionen. Interessanterweise sind alle bislang bekannten Mutationen im APP-Gen in den Bereichen lokalisiert, die für das Aβ-Peptid kodieren. Sowohl in vitro als auch in vivo führen die APP-Mutationen zu verstärkter Sekretion von Aβ bzw. zu vermehrter Produktion von Aβ-Formen mit besonders starker Aggregationstendenz (insbesondere dem 42 Aminosäuren langen Aβ42).
Die PSEN1- und PSEN2-Proteine sind Bestandteil des γ-Sekretase-Komplexes, der für die proteolytische Spaltung von APP verantwortlich ist. Im PSEN1-Gen sind bisher >160, im PSEN2-Gen nur wenige unterschiedliche Mutationen bekannt. Auch bei den Presenilinen beobachtet man alternative Spleißprodukte (mehrere reife mRNAs) und proteolytische Spaltung. Bestimmte Spaltprodukte sind ebenfalls in den neuritischen Plaques nachweisbar. Für das PSEN2-Protein gibt es Hinweise auf eine hemmende Wirkung bei Apoptosevorgängen bzw. andererseits eine im Zelltod resultierende Aktivierung dieser Prozesse, wenn Mutationen vorliegen. Den entscheidenden Verknüpfungspunkt zum APP-Metabolismus liefern Beobachtungen, dass Mutationen in den PSEN1- und PSEN2-Genen sowohl in Zellkultur- bzw. Tierexperimenten als auch in vivo bei den betroffenen Patienten zu vermehrter Produktion von Aβ42 führen.
Veränderungen im Aβ- bzw. APP-Metabolismus sind also den verschiedenen monogenen AD-Formen gemeinsam und könnten den entscheidenden Schlüssel zum Verständnis der kausalen Pathogenese liefern (Amyloid-Hypothese bei AD; Awasthi et al. 2016). Ob allerdings die beobachtete Steigerung der Aβ-Produktion bzw. Ablagerung direkt krankheitsauslösend wirkt oder nur weitere zugrunde liegende Prozesse widerspiegelt, bleibt noch ebenso unklar wie die genaue pathogenetische Beziehung zum Verlust von Synapsen und zur Nervenzelldegeneration. Die Entstehung von intrazellulären Neurofibrillenbündeln aus phosphoryliertem Tau-Protein scheint eher von sekundärer Bedeutung zu sein.

Multifaktoriell bedingte Formen der Alzheimer-Demenz

Bei der weit überwiegenden Mehrheit der Patienten manifestiert sich AD im späteren Lebensalter nach dem 65. Lebensjahr, mit zunehmender Prävalenz in den höheren Altersgruppen. Bei diesen Patienten finden sich in der Familienanamnese häufig weitere betroffene Verwandte, andere Fälle erscheinen rein sporadisch. In Anbetracht der oft unsicheren Diagnosestellung (keine Autopsie) sowie der möglichen Unvollständigkeit von Stammbauminformationen kann diese Abgrenzung in der Praxis natürlich oft schwierig sein. Ganz anders als bei den monogenen Fällen ist bei diesen AD-Formen nicht von einem einzelnen, krankheitsauslösenden Gen auszugehen, sondern von einer Kombination aus mehreren, noch zu bestimmenden genetischen bzw. Umweltfaktoren. In verschiedenen Familien können dabei unterschiedliche Kombinationen genetischer Faktoren weitergegeben werden und eine unterschiedlich stark ausgeprägte Prädisposition für die AD bewirken. Ebenso können in verschiedenen Populationen oder ethnischen Gruppen die betreffenden Prädispositionsfaktoren in unterschiedlicher Häufigkeit vorhanden sein und den Unterschieden in der Epidemiologie der AD zugrunde liegen.
Erkrankungsrisiko an AD und ApoE-Gen
Durch eine große Anzahl ausgedehnter Studien in verschiedenen Populationen wurde ein Zusammenhang zwischen dem Erkrankungsrisiko an AD und den Allelen des auf Chromosom 19q13.2 lokalisierten ApoE-Gens bestätigt. ApoE hat als Plasmalipoprotein eine Funktion im Lipidtransport und -umsatz und ist immunhistochemisch in neuritischen Plaques (sowie in Amyloidablagerungen anderer Genese) nachweisbar. Das Protein kommt in 3 häufigen Ausprägungsformen vor, ApoE2, ApoE3 und ApoE4, die sich jeweils nur in ein oder zwei Aminosäuren unterscheiden. Die entsprechenden Allele haben in der kaukasischen Bevölkerung eine Häufigkeit von 77 % (ApoE3), 8 % (ApoE2) bzw. 15 % (ApoE4). Das ApoE4-Allel ist bei Alzheimer-Patienten deutlich überrepräsentiert und stellt einen Risikofaktor für die AD dar. Demgegenüber kommt ApoE2 bei AD-Betroffenen signifikant seltener vor als bei gesunden Kontrollpersonen und besitzt einen protektiven Effekt hinsichtlich der Erkrankung. Aufgrund des diploiden Chromosomensatzes sind immer zwei ApoE-Allele vorhanden. Für jeden der möglichen Genotypen kann aus der Häufigkeitsverteilung bei AD-Patienten im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen ein relatives Erkrankungsrisiko ermittelt werden. Dabei wird die Erkrankungswahrscheinlichkeit von Trägern des weder prädisponierenden noch schützenden Genotyps ApoE3/ApoE3 als Referenzwert gesetzt. Wenn man von den Daten für „sporadische“ AD-Fälle mit Manifestation nach dem 65. Lebensjahr ausgeht, ergibt sich z. B. für die Genotypen ApoE3/ApoE4 bzw. ApoE4/ApoE4 eine Risikoerhöhung etwa um den Faktor 4 bzw. 19, für den Genotyp ApoE2/ApoE3 eine Erniedrigung der Erkrankungswahrscheinlichkeit etwa um den Faktor 3. Beim Risikoallel ApoE4 handelt es sich also um einen Prädispositionsfaktor, der weder notwendig noch hinreichend für die Entwicklung einer AD ist. Ebenso kann es trotz des Schutzfaktors ApoE2 zur Ausprägung einer AD kommen. Zusätzlich zum allgemeinen Erkrankungsrisiko zeigt sich auch ein Effekt auf das Erkrankungsalter.
Bei AD-Patienten mit den Genotypen ApoE3/ApoE4 bzw. ApoE4/ApoE4 ist das mittlere Manifestationsalter signifikant niedriger, bei Trägern des Genotyps ApoE2/ApoE3 ist es ins höhere Alter verschoben. Darüber hinaus nimmt in Autopsiebefunden bei AD-Patienten mit der Anzahl der ApoE4-Allele die Dichte der Amyloid-Plaques zu, und bei klinisch unauffälligen Trägern des ApoE4-Allels treten Neurofibrillenveränderungen früher auf als bei Personen ohne dieses Risikoallel. Besondere klinische Relevanz könnten Beobachtungen darüber gewinnen, dass der therapeutische Nutzen spezifischer Medikamente wie den Cholinesterasehemmstoffen vom ApoE-Genotyp abhängig sein kann. Auch eine Reihe experimenteller Befunde gibt Hinweise auf eine funktionelle Bedeutung von ApoE in der Pathogenese der AD: So fördert ApoE3 in Zellkulturuntersuchungen das Wachstum von Neuronen, während ApoE4 das Nervenzellwachstum hemmt. ApoE4 bindet in vitro stärker an Aβ als ApoE3 und ApoE2, und es fördert die Aggregation zu fibrillärem Aβ stärker als die beiden anderen Varianten. Aus In-vitro-Studien ist weiterhin ein dosisabhängiger Schutzeffekt von ApoE gegen die neurotoxische Wirkung von Aβ und die Schädigung durch freie Radikale bekannt, der von ApoE2 über ApoE3 zu ApoE4 absinkt. Insgesamt gesehen unterstützen also die Befunde zum ApoE-Gen das Konzept, dass in der Pathogenese der AD von unterschiedlichen, primär initiierenden Faktoren ausgelöste, möglicherweise miteinander interagierende Stoffwechselvorgänge als gemeinsame Endstrecke in einen Prozess münden, durch den es über ein chronisches Ungleichgewicht im APP/Aβ-Metabolismus schließlich zur Nervenzelldegeneration kommt.
Ähnlich wie bei der multiplen Sklerose (Abschn. 8) wurden in den letzten Jahren zahlreiche weitere Assoziationen mit AD insbesondere durch genomweite Assoziationsstudien (GWAS) identifiziert; hierzu gehören u. a. Variationen in Genen, die für den Sortilin-Rezeptor 1 (SORL1), den Komplement-1-Rezeptor (CR1) und Clusterin (CLU) kodieren, sowie in den Genen BIN1, PICALM und ABCA7 (Übersicht bei Van Cauwenberghe et al. 2015). Der Beitrag eines jeden einzelnen dieser Gene zur gesamten Risikoerhöhung für die Entwicklung der Alzheimer-Erkrankung scheint dabei aber gering zu sein.
Diagnostik und Beratung
Wie generell bei humangenetischen Fragestellungen ist in Bezug auf die AD eine möglichst detaillierte Erhebung des Familienstammbaums anzustreben. Nur in den seltenen Fällen, in denen sich deutliche Hinweise auf einen autosomal-dominanten Erbgang ergeben oder ein sehr frühes Erkrankungsalter vorliegt, erscheint es gegenwärtig sinnvoll, eine umfassende Mutationsanalyse in den Presenilin-Genen oder im APP-Gen in die Wege zu leiten. Wenn in einer Familie die auslösende Mutation bereits bekannt ist, erfordert der diagnostische oder präsymptomatische Nachweis bei weiteren Familienmitgliedern erheblich weniger technischen Aufwand. Wie bei allen spätmanifesten Erkrankungen wird eine prädiktive Gendiagnostik für AD bei gesunden Risikopersonen nur im Rahmen der humangenetischen Beratung angeboten. Dabei müssen alle Anforderungen an ein umfassendes, interdisziplinäres Betreuungskonzept erfüllt sein, wie es exemplarisch für die Huntington-Krankheit in Abschn. 3.1 dargestellt ist. Der Bedarf für prädiktive AD-Diagnostik erscheint bislang allerdings vergleichsweise gering.
Bei klinisch symptomatischen Personen stellt die ApoE-Genotypisierung ein zusätzliches diagnostisches Mittel dar, insbesondere in frühen Stadien der Erkrankung und bei unsicherer differenzialdiagnostischer Abgrenzbarkeit. Hierbei macht der Nachweis eines ApoE4-Allels die klinische Diagnose wahrscheinlicher, das Fehlen des Risikoallels bzw. das Vorhandensein eines ApoE2-Allels setzt die Diagnosewahrscheinlichkeit herab. Aufgrund der mangelnden Sensitivität und Spezifität dieser Untersuchung kann sie jedoch die klinische Diagnose nur unterstützen, in keinem Fall aber sichern. Wenn die Familienanamnese – wie in der Mehrzahl der Fälle – keine Anhaltspunkte für einen definierbaren Erbgang bietet, sind über die Erkrankungswahrscheinlichkeit eines Nachkommen nur allgemeine, aus empirischen Datensammlungen abgeleitete Risikoangaben möglich, die für den individuellen Einzelfall allerdings nur geringe Aussagekraft haben. Eine präsymptomatische ApoE-Genotypisierung ist zwar grundsätzlich im Rahmen eines humangenetischen Beratungsprozesses (Abschn. 1) möglich, stellt aber praktisch keine sinnvolle Alternative dar, da sie nur eine vage Einengung des Erkrankungsrisikos, aber keinesfalls Gewissheit über die mögliche spätere Erkrankung liefert.

Multiple Sklerose

In Deutschland leiden ungefähr 120.000 Patienten an multipler Sklerose (MS). Die Erkrankung manifestiert sich meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr und führt mit fortschreitendem Verlauf zunehmend zur Behinderung. Damit ist MS die häufigste Ursache für neurologische Beschwerden und Invalidität im jungen Erwachsenenalter. Aufgrund der Häufigkeit, des langen Verlaufs und des erheblichen Schweregrads der Behinderung könnte dieses Leiden aus sozialmedizinischem Blickwinkel allein mindestens ebenso bedeutungsvoll sein wie alle monogen vererbten neurogenetischen Erkrankungen zusammengenommen.
Pathogenese
Die kausale Pathogenese bei MS gibt noch immer viele Rätsel auf. Charakteristisch für MS sind Demyelinisierungsherde (Plaques) im Zentralnervensystem. Ursache der Plaque-Entstehung sind akute Entzündungsreaktionen, in denen Myelinscheiden bildende Oligodendrozyten, Glia und die Axone immunologisch angegriffen und zerstört werden. Am überzeugendsten erscheinen daher nach wie vor Erklärungsansätze für das Krankheitsgeschehen in Form von Autoimmunitätsreaktionen mit Manifestation im Gehirn und im Rückenmark. Die Immunpathogenese wird durch T-, B-Lymphozyten, Makrophagen und Antikörper vermittelt. Auslösende Faktoren werden zwar in Infektionen des Kindes- oder frühen Jugendalters vermutet, konnten aber nur auf breiter epidemiologischer Basis in vagen Zusammenhang mit der späteren Reaktion des Immunsystems gegen den eigenen Organismus gestellt werden. Die krankheitsrelevanten Autoantigene sowie die entsprechenden T-Lymphozytenrezeptoren sind beim Menschen im Gegensatz zu artifiziellen Tiermodellen bei Labornagern unbekannt. Sowohl Bestandteile der Myelinscheiden der zentralen Neurone, spezifisch prozessierte Abbauprodukte zytoplasmatischer Substanzen wie auch noch weitere unbekannte Stoffe erscheinen als nominale Autoantigene bei der MS prinzipiell möglich und im Einzelfall plausibel. Die Reaktion des Immunsystems gegen Selbstantigene könnte auf einen Toleranzverlust zurückzuführen sein oder auf pathologische Ungleichgewichte im Netzwerk der zahlreichen Immunmediatoren. Weitere neuropathologische Phänomene betreffen die Regeneration der betroffenen Strukturen (sowie deren Funktionswiederherstellung), postinfektiöse Gliose und letztlich auch Neurodegeneration.
Zur Erforschung der Zusammenhänge bei der MS könnten Proben des betroffenen Gewebes, v. a. auch aus den ganz frühen Stadien der Erkrankung, einen direkten Zugangsweg darstellen; allerdings sind Nervengewebsbiopsien in der Praxis natürlich kaum verfügbar. Auch ist die praktische Bedeutung der Tiermodelle für das tiefergehende Verständnis der Vorgänge beim Menschen nur begrenzt, da zumeist genetisch homogene, ingezüchtete Ratten- oder Mäusestämme auf Autoimmunreaktionen im ZNS nach externer antigener Stimulation untersucht werden. Große Familienstudien beim Menschen ergaben keinen einfachen oder einheitlichen Erbgang. Zwar ist das Erkrankungsrisiko für erstgradig Verwandte etwa 10- bis 15-fach gegenüber dem Risiko in der Allgemeinbevölkerung erhöht, und Zwillingsstudien weisen auch auf eine deutliche genetische Komponente hin, aber eine nur 30 %ige Übereinstimmungsrate in Bezug auf die Erkrankung bei genetisch identischen Zwillingen zeigt auch, dass zusätzliche Faktoren an der Pathogenese beteiligt sein müssen.
Multiple Sklerose als multifaktoriell bedingte Erkrankung
MS ist demnach auch in einzelnen Familien keine monogen vererbte, sondern eine multifaktoriell bedingte Erkrankung, deren Manifestation lediglich von einer genetischen Prädisposition ermöglicht und mitbestimmt wird. Die MS-Veranlagung ist dabei vermutlich am besten erklärt durch Zusammenwirken vieler verschiedener Gene, die bislang nur zum Teil bekannt sind und im Einzelnen jeweils wohl vergleichsweise kleine Beiträge für die familiäre Häufung leisten. Die zusätzlich notwendigen Umwelteinflüsse sind ebenso noch weitgehend unbekannt (Abb. 5; Übersicht in Lill 2014).
Die Suche nach Genen für multifaktorielle Erkrankungen wie MS wurde zu Beginn von zwei experimentellen Ansätzen bestimmt. Zum einen wurden aufwendige Gesamtgenom-Untersuchungsverfahren auf genetische Kopplung mit Tausenden hochinformativer Mikrosatelliten-Marker durchgeführt, die für MS zusammenfassend in verschiedenen menschlichen Populationen ergaben, dass es wohl nur einen genetischen Haupt-Locus im HLA-Komplex gibt. Daneben wurden in ausgewählten Patienten-Kontroll-Kollektiven Kandidatengene aus dem neuroinflammatorischen und/oder neurodegenerativen Spektrum untersucht, die z. T. widersprüchliche Ergebnisse zeigten. Seit einigen Jahren sind genomweite Assoziationsstudien (GWAS) möglich, bei denen mittels Chip-Analyse mehrere Hunderttausend bis zu einer Million Einzelbasenaustausche („single nucleotide polymorphisms“, SNPs) simultan typisiert und auf eine Assoziation mit der Erkrankung untersucht werden können. Zahlreiche GWAS wurden seitdem für MS veröffentlicht (Überblick in Bashinskaya et al. 2015), die übereinstimmend die bei Weitem stärkste Assoziation mit der HLA-Region bestätigten. Das Risikoallel, HLA-DRB1*1501, führt zu einem etwa 3-fach erhöhten Risiko für MS. Darüber hinaus wurden >100 zusätzliche Gene außerhalb der HLA-Region als Suszeptibilitätsgene identifiziert, deren einzelner Beitrag zur Risikoerhöhung für MS aber jeweils gering ist. Insgesamt können die bislang gefundenen Gene/Variationen auch nur ca. 27 % der erblichen Komponente von MS erklären (davon allein 20 % durch den HLA-Locus). Man geht daher davon aus, dass vermutlich weitere genetische Ursachen (z. B. sehr seltene Sequenzvariationen, die bei den GWAS nicht miterfasst werden, oder epigenetische Mechanismen wie Methylierung oder Histonmodifikation) ebenfalls eine Rolle spielen, die bislang aber nicht umfassend untersucht wurden. Auch der Einfluss von Gen-Gen- und Gen-Umwelt-Interaktionen wird vermutlich in Zukunft intensiver ergründet werden.
Die meisten der bislang identifizierten Gene, für die eine Rolle in der Pathogenese der MS vermutet wird, spielen eine Rolle in der Immunantwort, und zahlreiche überlappende Assoziationen mit anderen Autoimmunerkrankungen wurden beobachtet. Im Folgenden sollen einzelne Gene, die in mehreren GWAS übereinstimmend eine deutliche Assoziation mit MS zeigten, kurz vorgestellt werden.
Interleukin-7-Rezeptor (IL7R)
Interleukin 7 (IL-7) ist ein Zytokin, das hauptsächlich die Proliferation, Differenzierung und negative Selektion von T-Zellen beeinflusst. Die Wirkung von IL-7 wird durch die Bindung an den IL-7-Rezeptor (IL7R) vermittelt, der sich aus einer spezifischen α-Untereinheit und einer allgemeinen γc-Untereinheit zusammensetzt. Das IL7RA-Gen, das für die α-Untereinheit kodiert, liegt auf Chromosom 5p13, in einer Region, die in Kopplungsanalysen Hinweise für eine Kopplung mit MS zeigte. Die am stärksten mit MS assoziierte Variation, die in mehreren GWAS sowie ausgewählten Patienten-Kontroll-Kollektiven übereinstimmend bestätigt wurde, ist lokalisiert in einer wichtigen Transmembrandomäne von IL7R und führt zu einem Austausch von Threonin zu Isoleucin (T244I). Funktionelle Studien zeigen, dass diese Variation vermutlich den Spleißvorgang, also das regelrechte „Heraustrennen“ der relevanten Information der Exons von den informationslosen Introns, beeinflusst. Die genaue Wirkung dieser funktionell relevanten Variation sowie ggf. weiterer Polymorphismen in IL7RA auf die IL-7/IL7R-Achse und die klinische Ausprägung von MS bleibt allerdings noch unklar und ist gegenwärtig Gegenstand der Forschung.
Interleukin-2-Rezeptor (IL2R)
Auch im Gen, das für die α-Untereinheit des IL-2-Rezeptors kodiert (IL2RA auf dem Chromosom 10p15), wurden durch GWAS signifikant mit MS assoziierte Variationen identifiziert. Insbesondere zwei SNPs im Intron 1 zeigten hoch signifikante Assoziationen mit der Erkrankung, die teilweise in Folgestudien bestätigt wurden. Allerdings waren nicht in allen Populationen die gleichen SNPs assoziiert. Es mehren sich daher die Hinweise, dass genetische Variation im IL2RA-Gen eine Rolle für die Pathogenese der MS zu spielen scheint, und die wichtige Bedeutung der IL-2/IL2R-Achse bei der Regulierung immunologischer Prozesse macht eine solche Rolle auch biologisch plausibel, aber die genaue Eingrenzung der krankheitsassoziierten Variationen bleibt noch vorzunehmen. Interessanterweise zeigen auch andere Autoimmunerkrankungen wie Typ-1-Diabetes, Morbus Basedow und rheumatoide Arthritis Assoziationen mit Polymorphismen in IL2RA, sodass eine teilweise gemeinsame genetische Grundlage für Erkrankungen mit Autoimmunphänomenen vermutet werden darf. Diese Hypothese wird auch durch Untersuchungsergebnisse für weitere Gene (s. unten) bestärkt.
C-Type lectin domain family 16, member A (CLEC16A)
Variationen im CLEC16A-Gen zeigten in GWAS signifikante Assoziationen sowohl zu MS wie auch zu Typ-1-Diabetes. Darüber hinaus wurden Assoziationen ebenso mit rheumatoider Arthritis und Morbus Crohn beschrieben. Auch hier sind die jeweils assoziierten Polymorphismen zwischen den verschiedenen Erkrankungen z. T. unterschiedlich, und weitere Untersuchungen sind nötig, um die Bedeutung dieses Gens für die Pathogenese von Autoimmunerkrankungen näher zu ergründen.
CD58
Eine GWAS gab darüber hinaus Hinweise für eine Assoziation des CD58-Locus auf Chromosom 1p13 mit MS. Genauere Untersuchungen dieses Locus zeigten, dass ein SNP in Intron 1 dieses Gens offenbar einen protektiven Effekt bezüglich der MS-Erkrankung hat. Das protektive G-Allel an dieser Position war in vitro assoziiert mit einer höheren CD58-Expression in lymphoblastoiden Zelllinien und auch in mononukleären Zellen aus dem Blut von MS-Patienten. Darüber hinaus wurde bei MS-Patienten, die sich gerade in Remission befanden, eine höhere CD58-Expression gefunden als bei MS-Patienten im akuten Schub, was zusätzlich den protektiven Effekt dieses Locus unterstreicht. Der genaue pathogenetische Mechanismus ist noch nicht bekannt. Möglicherweise könnte verstärkte CD58-Expression über Hochregulierung des Transkriptionsfaktors FoxP3 zu einer Zunahme regulatorischer T-Zellen führen, die protektiv auf die MS-Entstehung bzw. den Verlauf einwirken. Weitere funktionelle und genetische Untersuchungen sind nötig, um die Rolle des CD58-Gens für MS abschließend zu beurteilen.
Aufgrund der Komplexität der genetischen Komponenten bei MS sind großangelegte Studien mit Untersuchung mehrerer Zigtausend Patienten und Kontrollen unter Einbeziehung von demografischen Variablen und Umweltfaktoren nötig, um valide Aussagen über die genetischen Grundlagen treffen zu können. Die Bildung von internationalen Konsortien hat in den letzten Jahren dieser Problematik Rechnung getragen, und großangelegte GWAS mit >10.000 Patienten und Kontrollen haben sowohl bekannte Suszeptibilitätsgene bestätigt als auch neue identifiziert. Darüber hinaus werden zunehmend statt der Betrachtung einzelner Polymorphismen Netzwerkanalysen vorangetrieben, die zahlreiche Loci im Kontext ihrer molekularen Netzwerke analysieren. Ein besseres Verständnis der genetischen Grundlagen von MS bietet letztlich auch die Chance, neue Therapiekonzepte zu entwickeln bzw. personalisierte Therapien möglich zu machen.
Pharmakogenetik
Aufgrund der Komplexität der Pathogenese stellt die MS-Therapie nach wie vor eine ganz besondere Herausforderung dar. Auch wenn sich in den letzten Jahren eine Reihe von immunmodulierenden Substanzen in der MS-Therapie durchgesetzt haben, die insgesamt hinsichtlich ihrer Effektivität und Sicherheit gute Ergebnisse zeigen (wie z. B. Interferon β, Glatirameracetat, Natalizumab), gibt es doch neben Patienten, die gut auf die entsprechenden Therapien ansprechen, auch eine nicht geringe Zahl sog. Non-Responder, die keine klinische Verbesserung oder starke Nebenwirkungen durch die Therapie zeigen. Für Interferon β beispielsweise wird die Rate der Patienten, die trotz Therapie weiterhin Krankheitsschübe und eine klinische Verschlechterung zeigen, mit bis zu 50 % angegeben. Klinische und Laborparameter allein sind oft nicht ausreichend für die Beurteilung von Prognose und Therapieerfolg. Die Definition entsprechender Patientengruppen auf der Basis genetischer Parameter könnte daher neben der Abklärung kausalpathogenetischer Gesichtspunkte mitentscheidend für therapeutische Indikationen, Kontraindikationen sowie die Reduktion unerwünschter Nebeneffekte werden.
Eine Reihe von Studien zur Pharmakogenetik sind in den letzten Jahren veröffentlicht worden; in den meisten wurden genetische Einflüsse auf das Ansprechen auf Interferon β untersucht. Während die ersten Studien dieser Art im Kandidatengenverfahren gezielt einzelne funktionell interessante Gene, wie z. B. die Interferon-Rezeptor-Gene, beinhalteten, wurden mittlerweile auch wenige GWAS bezüglich Therapieerfolg von Interferon β mittels Chip-Analyse veröffentlicht (Byun et al. 2008; Clarelli et al. 2017). Hierbei wurden einige Gene identifiziert, in denen Polymorphismen mit dem Ansprechen auf Interferon β assoziiert waren, u. a. Glypican 5, NINJ2 und TBXAS1. Insgesamt sind die Ergebnisse verschiedener Studien allerdings bislang sehr unterschiedlich, und einheitlich bestätigte pharmakogenetische Assoziationen, die Konsequenzen für die klinische Betreuung haben, fehlen noch. Ein Grund für diese diskrepanten Ergebnisse könnte sein, dass bislang keine einheitliche Definition für Responder und Non-Responder angewandt wurde, sodass die Ergebnisse einzelner Studien schwer vergleichbar sind. Es besteht jedoch die berechtigte Hoffnung, dass unter Berücksichtigung von einheitlichen klinischen Definitionen inkl. Dauer der Nachbeobachtungszeit sowie der Bildung von internationalen Konsortien mit einer großen Anzahl an Patienten in Zukunft genetische Faktoren gefunden werden können, die in Kombination mit den klinischen Daten eines Patienten die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Medikation maßgeblich mitbestimmen. Die Abwendung vom Prinzip des Trial and Error hin zur individuell oder gruppenspezifisch zugeschnittenen Therapie mit bestmöglicher Wahrscheinlichkeit auf Erfolg und möglichst wenig Nebeneffekten wäre sowohl für die Patienten als auch für die betreuenden Ärzte von großer Bedeutung und könnte zusätzlich die Therapiekosten mindern. Wann ein solcher Ansatz allerdings tatsächlich Einzug in die klinische Praxis halten wird, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht genau abgesehen werden.

Ausblick

Zu den größten aktuellen und zukünftigen Herausforderungen für Molekulargenetiker und genetische Berater zählt im Bereich der monogenen Erkrankungen die Interpretation und Vermittlung der großen Datenmengen, die zunehmend mittels NGS-basierter Methoden gewonnen werden. Während die derzeit bereits eingesetzten Panel-Analysen insbesondere bei stark heterogenen Erkrankungen wie z. B. bei der HMSN und den SPGs (Abschn. 4 und 5) zu einer erhöhten Aufklärungsrate bei immerhin umgrenzter Wahrscheinlichkeit für unklare Varianten oder Zusatzbefunde führen können, wird die Ausweitung auf exom- oder sogar genomweite Sequenzanalyse zunächst zu einer Vielzahl schwer interpretierbarer Befunde führen, deren Bedeutung mitunter nur im Verlauf und unter enger Zusammenarbeit von Klinikern und Humangenetikern klärbar sein wird.
Darüber hinaus gibt es trotz – oder vielleicht sogar aufgrund – der vielen GWAS-Ergebnisse der letzten Jahre weiterhin viele ungelöste Fragen bei den häufigen multifaktoriell bedingten Erkrankungen, insbesondere auch denjenigen mit Neurodegenerationszeichen. Zwei Vertreter dieser Gruppe, die AD und die MS, wurden hier exemplarisch herausgegriffen (Abschn. 7 und 8) und monogen bedingten, neurodegenerativen Entitäten gegenübergestellt. Von multifaktoriellen Erkrankungen ist praktisch die gesamte Bevölkerung betroffen – insbesondere in Anbetracht der stetig zunehmenden Lebenszeiterwartung. Die Vererbung dieser Volkskrankheiten wird zutreffendermaßen als komplex bezeichnet. Hinter dem rein deskriptiven Begriff verbergen sich viele unbekannte Fakten und allgemeines Unverständnis in der Integration von Einzelbefunden. In der genetischen Beratung ist man bislang in den meisten Fällen letztendlich auf die Mitteilung von rein empirischen Wiederholungsrisiken angewiesen, die den speziellen Fall in seinen Besonderheiten gar nicht berücksichtigen können. Mittels effizienterer Untersuchungsverfahren wird es in der nahen Zukunft möglich sein, die zahlreichen genetischen Prädispositionen für Krankheiten mit multifaktorieller Genese einigermaßen exakt zu definieren. Erste Schritte in diese Richtung sind bei einigen Krankheiten bereits gemacht (z. B. ApoE-Typisierung bei AD). Spezifische Kombinationen von vielgestaltigen Ausprägungsformen (Polymorphismen) mehrerer verschiedener Gene werden individuell definierbare Risikoziffern ergeben. Auf dieser Basis könnte prinzipiell für jeden einzelnen Menschen eine Vorhersage darüber möglich sein, welches Risiko er trägt, später von so häufigen neurodegenerativen Erkrankungen wie Morbus Parkinson, AD oder MS betroffen zu sein. Der Aussagewert derartiger Testergebnisse wird heute oftmals viel zu hoch eingeschätzt, es bleiben Wahrscheinlichkeitsangaben mit sehr großen Vertrauensintervallen, die meist schwer zu interpretieren und zu vermitteln sind. Die Konsequenzen dieser molekulargenetischen Möglichkeiten betreffen aber potenziell eine große Anzahl von Menschen, die sich zum Zeitpunkt der Gentests noch bester Gesundheit erfreuen. Wie bereits heute bei den monogenen Erkrankungen sollte auch hinsichtlich dieser erweiterten prädiktiven Diagnosemöglichkeiten als wichtigster Grundsatz jeder humangenetisch orientierten ärztlichen Beratung gelten, den Patienten bzw. Ratsuchenden in seiner individuellen, selbstverantwortlichen Entscheidung über die Anwendung genetischer Diagnoseverfahren zu unterstützen. Bewahrt werden muss das Prinzip der Selbstbestimmung des Einzelnen darüber, welches Wissen er über seine genetischen Anlagen erlangen (und an andere weitergeben) will.
Ein eher zurückhaltender Umgang mit prädiktiven Diagnosemöglichkeiten ist nicht zuletzt deshalb angezeigt, weil gegenwärtig für die meisten schwerwiegenden neurogenetischen Erkrankungen keine wirksamen, kausalen Behandlungsverfahren oder Präventionsmaßnahmen zur Verfügung stehen. Die Identifizierung der zugrunde liegenden Gene lässt die Entwicklung effizienter Therapieansätze greifbar erscheinen, stellt jedoch nur den ersten Schritt im Verständnis der molekularen Wirkmechanismen dar. Die heute bereits verfügbaren therapeutischen Maßnahmen bei neurogenetischen Erkrankungen werden in den entsprechenden Kapiteln dieses Buches abgehandelt.
Gentherapie erregt immer große Aufmerksamkeit, oftmals eher wegen der eigentlich zu erwartenden Rückschläge bei innovativen Behandlungsverfahren. Die kurative therapeutische Anwendbarkeit der Gentherapie in der Behandlung neuromuskulärer Erkrankungen liegt aber trotz hoffnungsvoller Ergebnissen in Tiermodellen für die allermeisten (monogen bedingten) Leiden noch in unbestimmter Zukunft. Auch in der Entwicklung gentherapeutischer Methoden haben sich im Laufe der letzten Jahre vielfältige und neuartige Zugangswege ergeben. Es ist aber noch sehr viel Grundlagenarbeit zu leisten, bevor sich einigermaßen klar abzeichnen wird, welche der verschiedenen Strategien (Vektoren, Applikationsweisen, Therapieschemata) bei welchem Krankheitsbild erfolgversprechend erscheinen, wahrscheinlich zunächst bei neuromuskulären Erkrankungen wie bei Morbus Duchenne. Parallel erlauben neue Ansätze mit Stammzellen in Tiermodellen zusätzlichen Optimismus. Wie in anderen Bereichen der medizinischen Genetik und humangenetischen Beratung muss hier der verantwortliche, besonnene Umgang mit den durch die medizinische Wissenschaft eröffneten Möglichkeiten an erster Stelle stehen; auf dieser Grundlage kann berechtigte Hoffnung auf Fortschritte in der Behandlung neurogenetischer Erkrankungen geweckt werden.

Facharztfragen

1.
Erläutern Sie den Stellenwert molekulargenetischer Untersuchungen bei der Diagnostik der CMT-Erkrankungen (inkl. Möglichkeiten und Grenzen).
 
2.
Erläutern Sie den Begriff „genetische Heterogenität“ am Beispiel der autosomal-dominant vererbten spinozerebellären Ataxien oder der erblichen spastischen Spinalparalysen.
 
3.
Erklären Sie den Unterschied zwischen differenzialdiagnostischer und prädiktiver genetischer Diagnostik mit den entsprechenden Vorgehensweisen am Beispiel der Huntington-Erkrankung.
 
4.
Was ist bekannt zu den genetischen Grundlagen bei Volkskrankheiten wie z. B. der multiplen Sklerose?
 
5.
Spielen pharmakogenetische Erkenntnisse (zukünftig) eine Rolle in der MS-Therapie?
 
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