Blastozölbiopsie/Kulturmedium
Eine mögliche Alternative zu den bisherigen Verfahren stellt die Entnahme und Untersuchung von DNA aus der Blastozölflüssigkeit der Blastozyste dar (Magli et al.
2016) oder aus dem Kulturmedium, in dem der Embryo kultiviert wurde. Der Vorteil beider Verfahren liegt auf der Hand, da weder vom Trophektoderm noch von der inneren Zellmasse Zellen entnommen werden. Die Untersuchung von Kulturmedium
stellt ein absolut nichtinvasives Verfahren dar. Einige Untersuchungen haben die prinzipielle Machbarkeit im Vergleich zur Trophektodermbiopsie gezeigt (Huang et al.
2019; Rubio et al.
2020); dennoch wird das Verfahren derzeit noch als experimentell bewertet (Leaver und Wells
2020).
Time-lapse Imaging und PGT
Time-lapse-Imaging
-Systeme (TLI) stellen eine neue Möglichkeit zur Erfassung der Entwicklung von Embryonen dar. Das Prinzip des TLI beruht auf einer kontinuierlichen Beobachtung der embryonalen Entwicklung mittels einer Kamera, welche in definierten Zeitintervallen Aufnahmen des Embryos in mehreren Fokusebenen generiert und diese digital speichert. Bei integrierten TLI-Systemen ist die Kamera fester Bestandteil einer Inkubatoreinheit. TLI ermöglicht es, bestimmte Ereignisse während der Entwicklung des Embryos einem definierten Zeitpunkt nach
Insemination zuzuordnen. Diese Verknüpfung der morphologischen Beurteilung mit der zeitlichen Entwicklung wird als Morphokinetik
bezeichnet. Morphokinetik ermöglicht eine völlig neue Art der Charakterisierung von Embryonen
hinsichtlich deren Entwicklungskompetenz und deren Implantationspotenzial. Die Kombination mehrerer morphokinetischer Variablen führte zur Entwicklung sogenannter morphokinetischer Algorithmen zur Vorhersage der Entwicklungsfähigkeit und/oder des Implantationspotenzials von Embryonen.
Mit Hilfe des TLI wurde untersucht, ob morphokinetische Daten eine Abschätzung des Aneuploidierisikos von Embryonen ermöglichen und ob ein prädiktiver Aneuploidiealgorithmus erstellt werden kann.
Eine erste Arbeit basierte auf PGT-A an Tag-5-Embryonen und einer Korrelation des Aneuploidierisikos mit der Zeit ab
Insemination bis zur Bildung des Blastozöls (tSB) und dem Erreichen der vollen Blastozyste (tB) (Campbell et al.
2013a,
b). Anhand einer Kombination der Zeitwerte für tSB und tB bestand für Embryonen ein niedriges, mittleres oder hohes Aneuploidierisiko
. Eine weitere Arbeit analysierte morphokinetische Daten von Tag-3-Embryonen in Korrelation zur Aneuploidiediagnostik nach Blastomerenbiopsie am Tag 3 (Basile et al.
2014). Die Ergebnisse beider Studien werden in der Fachliteratur sehr kontrovers diskutiert (Campbell et al.
2014; Ottolini et al.
2014). Die Diskussion ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass morphokinetische Korrelationen von Daten einer spezifischen Klinik nicht direkt auf andere Zentren angewandt werden können, sondern gegebenenfalls eine Adaption der Zeitwerte vorgenommen werden muss.
Ein vergleichbarer Algorithmus auf der Basis von Aneuploidiedaten nach PKD existiert momentan nicht. Generell muss festgehalten werden, dass TLI keine absolute Aneuploidiediagnose ermöglicht.
Unabhängig von der Diskussion um Aneuploidiealgorithmen konnte inzwischen jedoch mit TLI gezeigt werden, dass einige bis dahin nicht bekannte und zeitlich nicht definierte Teilungsmuster von Embryonen mit einer erhöhten Aneuploidierate einhergehen. Ein interessantes Teilungsmuster ist das sogenannte „Reverse Cleavage“, bei dem zwei Blastomeren miteinander fusionieren, die direkt zuvor durch Teilung einer Ausgangsblastomere entstanden sind (Liu et al.
2014). Da der Teilung eine Replikation der DNA vorausgegangen ist, enthält die fusionierte Blastomere einen doppelten Chromosomensatz im Vergleich zu den restlichen Blastomeren des Embryos. Interessanterweise kann eine derartige Polyploidie nur durch FISH, nicht aber durch aCGH oder NGS nachgewiesen werden. Hier stellt letztlich TLI die einzige Möglichkeit dar, um einen indirekten Rückschluss bezüglich einer vorliegenden
Aneuploidie zu ziehen.
Neben dem Reverse Cleavage betrifft dies auch Embryonen, die eine sogenannte direkte Teilung vom 1-Zellstadium zum 3-Zellstadium oder vom 2-Zellstadium zum 5-Zellstadium aufweisen (Rubio et al.
2012). Der Hintergrund dieser Teilungsmuster ist noch nicht hinreichend erforscht, doch scheint ein Zusammenhang mit Aberrationen der Spindel bzw. multiplen Spindelpolen zu bestehen (Kalatova et al.
2015). Embryonen mit diesen Teilungsmustern zeigen generell eine niedrigere Implantationsrate und in einigen Studien erhöhte Aneuploidieraten.
Bei Einsatz der PKD zur Aneuploidiediagnostik ist der zusätzliche Einsatz des TLI durchaus sinnvoll. PKD kann nur die in der Eizelle entstandenen
Aneuploidien detektieren, jedoch keine Chromosomenstörungen, die im Zuge der Embryonalentwicklung entstehen. Hier kann TLI unter Umständen zusätzliche Informationen liefern, um derartige Embryonen anhand aberranter Teilungsmuster zu identifizieren oder um nach Anwendung eines prädiktiven Algorithmus eine Auflistung nach dem Grad des Aneuploidierisikos zu ermöglichen. Zusätzlich können mit TLI alle jene morphologischen Kriterien optimal charakterisiert werden, die mit erhöhten Aneuploidieraten einhergehen, wie z. B. Multinukleation
oder Asymmetrie im 2- und 4-Zellstadium.
Eine Kombination von PGT und TLI ist insbesondere in Hinblick auf die Biopsie von Trophektodermzellen sinnvoll. Hierbei ergeben sich noch einige weitere Anwendungsmöglichkeiten, wie z. B. die Abschätzung des optimalen Biopsiezeitpunktes oder die Detektion jener Trophektodermbereiche, in denen sich degenerierte Zellen befinden, welche nicht in die entstehende Blastozyste integriert wurden (LaGalla et al.
2015).
Die Synergie von PGT und TLI zeigten zwei Studien, bei denen mit PGT-A als euploid charakterisierte Embryonen mit Hilfe von TLI anhand morphokinetischer Scoring-Modelle charakterisiert wurden. In Abhängigkeit vom Score ergaben sich signifikante Unterschiede in Hinblick auf das Implantations-Potenzial euploider Embryonen (Gazzo et al.
2020; Lee et al.
2019).