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DGIM Innere Medizin
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Publiziert am: 14.12.2015

Grundlagen der klinischen Genetik

Verfasst von: Gabriele Gillessen-Kaesbach und Yorck Hellenbroich
Genetisch bedingte Erkrankungen finden sich in jedem Lebensalter mit unterschiedlicher Häufigkeit. Chromosomenstörungen sind die häufigste Ursache von Fehlgeburten im ersten Trimenon der Schwangerschaft. Eine besondere Bedeutung haben genetisch bedingte Krankheitsbilder im Kindesalter. Kardiovaskuläre Erkrankungen und Krebs sind die häufigste Todesursache im Erwachsenenalter. Während man früher hier eine multifaktorielle Genese annahm, kann man heute in vielen Fällen eine genetische Ursache nachweisen. Die Sequenzierung des gesamten menschlichen Genoms im Jahr 2003 stellt einen Meilenstein in der Geschichte der Humangenetik dar. Allerdings stellt sich nun die Frage, wie wir Ärzte mit diesen Informationen umgehen. Jede Fachrichtung in der Medizin muss sich heute mit genetischen Grundlagen, diagnostischen Methoden und der Interpretation genetische Befunde auseinandersetzen, um eine entsprechende genetische Beratung durchführen zu können. Seit dem 01.02.2010 ist das Gendiagnostikgesetz (GenDG) in Kraft getreten, das die Durchführung genetischer Untersuchung im Rahmen der medizinischen Diagnostik regelt. Es werden hier hohe Anforderungen an die Aufklärung, genetische Beratung und die rechtwirksame Einwilligung gestellt.

Einführung

Genetisch bedingte Erkrankungen finden sich in jedem Lebensalter mit unterschiedlicher Häufigkeit. Chromosomenstörungen sind die häufigste Ursache von Fehlgeburten im ersten Trimenon der Schwangerschaft. Eine besondere Bedeutung haben genetisch bedingte Krankheitsbilder im Kindesalter. Kardiovaskuläre Erkrankungen und Krebs sind die häufigste Todesursache im Erwachsenenalter. Während man früher hier eine multifaktorielle Genese annahm, kann man heute in vielen Fällen eine genetische Ursache nachweisen.
Vor 60 Jahren beschrieben Watson und Crick erstmalig die Helixstruktur der DNA. Seit dieser Zeit ist eine rasante Erkenntniszunahme in der Humangenetik zu verzeichnen. Die Sequenzierung des gesamten menschlichen Genoms im Jahr 2003 stellt einen Meilenstein in der Geschichte der Humangenetik dar. Allerdings stellt sich nun die Frage, wie wir Ärzte mit diesen Informationen umgehen. Jede Fachrichtung in der Medizin muss sich heute mit genetischen Grundlagen, diagnostischen Methoden und der Interpretation genetische Befunde auseinandersetzen, um eine entsprechende genetische Beratung durchführen zu können. Seit dem 01.02.2010 ist das Gendiagnostikgesetz (GenDG) in Kraft getreten, das die Durchführung genetischer Untersuchung im Rahmen der medizinischen Diagnostik regelt. Es werden hier hohe Anforderungen an die Aufklärung, genetische Beratung und die rechtwirksame Einwilligung gestellt.

Formale Genetik

Begrifflichkeiten

Genetische Erkrankungen können entweder durch Mutationen in einem einzelnen Gen (monogene Erkrankung) oder aber in selteneren Fällen durch genetische Veränderungen in zwei oder mehreren Genen (digene, oligogene oder polygene Erkrankung) verursacht werden. Davon abzugrenzen sind multifaktorielle Erkrankungen, die auf ein Zusammenspiel aus Umweltfaktoren und häufig noch nicht im Detail bekannten genetischen Risikofaktoren zurückzuführen sind. Wenn ein Krankheitsbild verschiedene genetische Ursachen haben kann, bezeichnet man dies als heterogen. Typische Beispiele hierfür sind die angeborene Innenohrschwerhörigkeit, die hereditäre motorisch-sensorischen Neuropathien (HMSN, Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung) oder auch der „Maturity Onset Diabetes of the Young“ (MODY), die sehr viele unterschiedliche genetische Ursachen haben können.
Die 46 Chromosomen des Menschen teilen sich in 2× 22 Autosomen und zwei Geschlechtschromosomen (Gonosomen, XX oder XY) auf. Alle Gene auf den Autosomen liegen daher im Zellkern in der Regel in doppelter Ausführung vor. Die einzelne Kopie eines Gens wird dabei als Allel bezeichnet. Von den meisten Genen haben wir daher zwei Allele, die sich häufig durch kleine Sequenzvarianten (sogenannte SNPs, „single nucleotide polymorphisms“) unterscheiden. Liegt eine Mutation nur auf einem von zwei Allelen vor, bezeichnet man diesen Zustand als heterozygot. Wenn dagegen beide Allele die gleiche Mutation aufweisen, liegt diese im homozygoten Zustand vor. Wenn auf den beiden Allelen eines Genes zwei unterschiedliche Mutationen vorliegen, nennt man dies compound (zusammengesetzt) heterozygot.

Erbgänge

Bei monogenen Erkrankungen unterscheiden wir drei klassische Erbgänge: den autosomal dominanten, den autosomal rezessiven und den X-chromosomal rezessiven Erbgang. Hinzu kommt dann noch der mitochondriale Erbgang. Grundlage für das Erkennen eines Erbgangs ist das Aufzeichnen eines Familienstammbaums. Dies erfolgt in der Regel über mindestens drei Generationen. Dabei sollte möglichst eine einheitliche Nomenklatur verwendet werden (Abb. 1) (Bennett et al. 2008).

Autosomal dominanter Erbgang

Verursacht eine Mutation auf einem Autosom bereits im heterozygoten Zustand die Ausprägung eines Krankheitsbildes, so liegt ein autosomal dominanter Erbgang vor. Merkmalsträger haben bei einem autosomal dominanten Erbgang ein 50%iges Risiko, die genetische Anlage an eigene Kinder weiterzugeben. Die Analyse eines Familienstammbaums kann deutliche Hinweise ergeben, dass eine vorliegende Erkrankung autosomal dominant vererbt wird, wenn sich Erkrankte in mehreren Generationen eines Stammbaums finden, keine Bevorzugung eines bestimmten Geschlechts besteht und die Erkrankung nicht unter Nachkommen eines gesunden Familienmitglieds auftritt (Abb. 2). Die klinische Ausprägung kann selbst innerhalb einer Familie bei vielen Erkrankungen mit einem dominanten Erbgang stark variieren, man spricht dann von einer variablen Expressivität. Entwickeln nicht alle Mutationsträger klinische Symptome, bezeichnet man dies als reduzierte Penetranz. Das Erkennen eines dominanten Erbgangs kann in solchen Fällen deutlich erschwert werden. Den Begriff kodominant verwendet man, wenn zwei unterschiedliche Allele eines Gens beide zur phänotypischen Ausprägung kommen. Beispiel hierfür ist das AB0-Blutgruppensystem. Eine dominante Mutation kann zu einem Funktionsverlust des entsprechenden Allels führen, sodass dadurch nicht mehr ausreichend Genprodukt für das Aufrechterhalten eines normalen Phänotyps gebildet wird. Man bezeichnet dies als Haploinsuffizienz. Eine Mutation kann aber selber durch einen Funktionszugewinn einen pathologischen Effekt haben. In diesem Fall spricht man vom dominant negativen Effekt. Beispiele hierfür sind die Achondroplasie oder auch die Chorea Huntington. Dominante Erkrankungen können in einer Familie auch neu auftreten, d. h., gesunde Eltern bekommen ein betroffenes Kind. Dabei handelt es sich meist um eine Neumutation. Die Häufigkeit von Neumutationen kann je nach Erkrankung sehr unterschiedlich sein. Sie liegt bei der Achondroplasie die Neumutationsrate beispielsweise bei über 80 %, bei der Chorea Huntington ist sie dagegen äußerst gering. Für einige Erkrankungen mit hoher Neumutationsrate wird als Risikofaktor ein erhöhtes väterliches Alter angenommen. In seltenen Fällen bekommen Paare mehr als ein Kind mit derselben scheinbaren Neumutation, obwohl sich diese im Blut der Partner nicht nachweisen lässt. Dann liegt vermutlich ein Keimzellmosaik vor. Hierunter versteht man das Vorliegen einer Mutation nur in einem Teil der Keimzellen bei einem der beiden Partner. Dies ist bei der genetischen Beratung von Paaren mit weiterem Kinderwunsch insbesondere bei Krankheitsbildern wie Muskeldystrophie Duchenne oder Osteogenesis imperfecta immer zu berücksichtigen.

Autosomal rezessiver Erbgang

Beim autosomal rezessiven Erbgang tritt eine Krankheit nur auf, wenn beide Allele des ursächlichen Gens eine Mutation aufweisen. In der Regel wird dann kein entsprechendes Genprodukt mehr gebildet. Typische Beispiele für autosomal rezessive Krankheitsbilder sind die meisten Stoffwechselerkrankungen oder auch die zystische Fibrose und die spinale Muskelatrophie. Die Eltern eines betroffenen Patienten sind in aller Regel jeweils heterozygote Anlageträger (Abb. 3). Das Wiederholungsrisiko für Geschwister eines betroffenen Patienten beträgt bei einem autosomal rezessiven Erbgang 25 %. Gesunde Geschwister sind mit einer Wahrscheinlichkeit von 66,6 % (=2/3) erneut heterozygote Anlageträger. Für deren Kinder würde nur dann ein erneutes Wiederholungsrisiko bestehen, wenn auch deren Partner zufällig heterozygote Anlageträger sind. Die Häufigkeit von heterozygoten Anlageträgern in der Bevölkerung nennt man Heterozygotenfrequenz. Sie berechnet sich nach dem Hardy-Weinberg-Gesetz (Abb. 4). Für eine Erkrankung mit einer Häufigkeit von 1:10.000 in der Bevölkerung errechnet sich daraus eine Heterozygotenfrequenz von 1:50. Da blutsverwandte Partner einen Teil ihrer Erbanlagen von einem Vorfahren gemeinsam haben, kommen autosomal rezessive Erkrankungen bei Verwandtenehen häufiger vor als in der Normalbevölkerung. So haben Cousin und Cousine ersten Grades beispielsweise 1/8 (12,5 %) ihrer Gene gemeinsam. Daraus resultiert ein Risiko von 1/16 (6,25 %), dass ein gemeinsames Kind für ein urgroßelterliches Allel eines Gens homozygot ist.

X-chromosomal rezessiver Erbgang

Typischerweise ist beim X-chromosomal rezessiven Erbgang nur das männliche Geschlecht betroffen, da Männer im Gegensatz zu Frauen nur ein X-Chromosom besitzen. Mütter eines betroffenen Jungen sind häufig Konduktorinnen, d. h., sie sind heterozygot für die genetische Veränderung auf dem X-Chromosom. In der Regel weisen Konduktorinnen von X-chromosomal rezessiven Erkrankungen keine Krankheitssymptome auf, in seltenen Fällen können sie aber eine abgeschwächte Symptomatik aufweisen. Konduktorinnen geben das betroffene X-Chromosom mit einer 50%igen Wahrscheinlichkeit an eigene Kinder weiter. Das Erkrankungsrisiko beträgt daher für Söhne 50 %, Töchter sind mit einer 50%igen Wahrscheinlichkeit erneut Konduktorinnen (Abb. 5). Ein betroffener Mann gibt sein X-Chromosom an alle Töchter weiter, die dann erneut Konduktorinnen sind. Söhne eines betroffenen Mannes erben dagegen vom Vater das Y-Chromosom und bleiben daher gesund. Typische Beispiele für X-chromosomal rezessive Erkrankungen sind die Hämophilie A, die Muskeldystrophie Duchenne oder das Fragile X-Syndrom. Im Gegensatz zum X-chromosomal rezessiven Erbgang ist beim X-chromosomal dominanten Erbgang neben dem männlichen Geschlecht auch das weibliche Geschlecht betroffen. Die Krankheit manifestiert sich dabei in der Regel im männlichen Geschlecht deutlich schwerer als im weiblichen Geschlecht. Dies kann soweit führen, dass die Erkrankung wie beispielsweise beim Rett-Syndrom im männlichen Geschlecht bereits pränatal letal verläuft. In diesem Fall gibt es dann nur weibliche Betroffene.

Mitochondriale Vererbung

Auch genetische Veränderungen in der mitochondrialen DNA (mtDNA) können vererbt werden. Da die Mitochondrien in den Spermien im Schwanzteil liegen, gelangen sie bei der Befruchtung nicht in die Eizelle. Daher wird nur die mütterliche mtDNA über die Eizelle an Nachkommen weitergegeben. Mutationen in der mtDNA werden folglich ausschließlich von Frauen an alle Kinder vererbt. Die mtDNA hat aufgrund einer fehlenden DNA-Reparatur eine sehr viel höhere Mutationsrate als die DNA im Zellkern. Da die mtDNA in der Regel in mehreren Kopien in einem Mitochondrium vorliegt und diese wiederum in vielen Kopien in jeder Körperzelle, können in Zellen neben normalen mtDNA-Molekülen auch Moleküle mit einer Mutation vorhanden sein. Diesen Zustand bezeichnet man als Heteroplasmie. Beispiele für mitochondriale Erbkrankheiten sind die Lebersche Optikusatrophie (Abb. 6) oder auch die mitochondriale Enzephalopathie mit Laktatazidose und schlaganfallähnlichen Episoden (MELAS). Mitochondrialen Erkrankungen ist häufig eine klinische Beteiligung von zentralen Nervensystem und Muskulatur gemeinsam.

Multifaktorielle Erkrankungen

Multifaktorielle Erkrankungen (oder auch komplexe Erkrankungen genannt) folgen keinem klassischen monogenen Erbgang. Sie entstehen aus einem Wechselspiel aus vielen genetischen Faktoren und exogenen Ursachen (Umweltfaktoren). Der Übergang von monogenen Erkrankungen hin zu multifaktoriellen Erkrankungen ist teilweise fließend, da z. B. bei vielen autosomal dominant erblichen Erkrankungen die Gründe für eine verminderte Penetranz oder auch eine variable Expressivität nicht geklärt sind. So ist bei der Chorea Huntington die Penetranz beispielsweise nahezu 100 %, dagegen liegt sie beim autosomal dominant erblichen Brust- und Eierstockkrebs für das Mammakarzinom bei bis zu 85 % und für das Ovarialkarzinom in der Größenordnung von 50 % (Meindl et al. 2011). Für homozygote Mutationsträger im HFE-Gen (Hämochromatose) geht man im geschlechtsabhängig von einer Penetranz von 10 bis 50 % aus (Tab. 1).
Tab. 1
Beispiele für Manifestationswahrscheinlichkeiten bei unterschiedlichen (genetisch bedingten) Krankheiten. (Modifiziert nach Bundesärztekammer 2003)
Krankheit
Manifestationswahrscheinlichkeit
Chorea Huntington
Nahezu 100 %
Retinoblastom (RB-Mutation)
90 %
Mammakarzinom (BRCA1- oder BRCA2-Mutation)
Bis zu 85 %
Ovarialkarzinom (BRCA1- oder BRCA2-Mutation)
Bis zu 50 %
Hämochromatose
Geschlechtsabhängig 10–50 %
Morbus Alzheimer (heterozygot ApoE4)
6–13 %
Chronisch rezidivierende Pankreatitis (SPINK1-Mutation)
1–2 %
Multifaktorielle Erkrankungen sind in der Regel deutlich häufiger als monogene Erkrankungen. Zu ihnen zählen die meisten „Volkskrankheiten“, aber auch einige angeborene Fehlbildungen wie z. B. Lippen-Kiefer-Gaumenspalten oder Neuralrohrdefekte. Multifaktorielle Erkrankungen können teilweise deutliche Geschlechtsunterschiede bei der Häufigkeit in der Bevölkerung aufweisen. So ist die angeborene Hüftgelenksluxation oder auch die Multiple Sklerose im weiblichen Geschlecht deutlich häufiger als im männlichen Geschlecht, die Pylorusstenose ist dagegen umgekehrt im männlichen Geschlecht sehr viel häufiger. Bei der Einschätzung des Wiederholungsrisikos für Geschwisterkinder oder Nachkommen von Betroffenen ist man bei multifaktoriellen Erkrankungen in der Regel auf empirische Daten angewiesen. Als Carter-Effekt bezeichnet man dabei das Phänomen, dass das Wiederholungsrisiko größer ist, wenn bei Erkrankungen mit Geschlechtsunterschieden das seltenere Geschlecht betroffen ist. So ist das Wiederholungsrisiko für Kinder eines Mannes mit Multipler Sklerose höher als bei einer Frau mit dieser Erkrankung.

Genetische Beratung

Grundprinzip einer genetischen Beratung ist das Recht des Patienten auf umfassende Aufklärung und Selbstbestimmung. Die genetische Beratung ist ein Kommunikationsprozess, der dem Ratsuchenden helfen soll, medizinisch-genetische Zusammenhänge zu verstehen, Entscheidungsalternativen zu bedenken und so informierte, eigenständige und tragfähige Entscheidungen zu treffen, insbesondere bezüglich der Inanspruchnahme einer genetischen Untersuchung (Deutsche Gesellschaft für Humangenetik 2011; European Society of Human Genetics 2003). Die Inanspruchnahme einer genetischen Beratung muss freiwillig sein. Die Gesprächsführung sollte non-direktiv und ergebnisoffen erfolgen. Dies bedeutet insbesondere, dass die Entscheidung hinsichtlich der Familienplanung oder der Inanspruchnahme pränataler Diagnostik ausschließlich beim Ratsuchenden liegt. Zu einer genetischen Beratung gehört üblicherweise zunächst die Klärung der persönlichen Fragestellung des Ratsuchenden, das Erheben der Anamnese und Aufzeichnen eines Familienstammbaums, die Einsicht in Vorbefunde und ggf. eine klinische Untersuchung des Ratsuchenden oder anderer Familienmitglieder. Auf Grundlage der so erhobenen Verdachtsdiagnose kann sich eine genetische Laboruntersuchung anschließen, die im Idealfall zu einer möglichst genauen medizinisch-genetischen Diagnose führt. Eine genetische Beratung kann daher häufig mehrere Gespräche im zeitlichen Abstand umfassen. Dem Ratsuchenden sollten anschließend ausführliche genetische und klinische Informationen zu der diagnostizierten Erkrankung gegeben werden, dabei sind insbesondere genetische Risiken für Familienangehörige und mögliche Nachkommen zu thematisieren. Die Berechnung eines genetischen Risikos stellt dabei einen zentralen Bestandteil einer genetischen Beratung dar. Sie sollte die Möglichkeit einer verminderten Penetranz oder eines Keimzellmosaikes berücksichtigen. Bei multifaktoriellen Erkrankungen ist in der Regel auf empirische Risikoziffern zurückzugreifen. Für die genaue Risikoberechnung sind Grundkenntnisse der Wahrscheinlichkeitsrechnung notwendig. Hierzu zählt insbesondere das Bayes-Theorem (Abb. 7) für bedingte Wahrscheinlichkeiten, welches typischerweise bei Erkrankungen mit verminderter Penetranz oder altersabhängiger Manifestationswahrscheinlichkeit zur Anwendung kommt (Ogino und Wilson 2004).
Der Inhalt der genetischen Beratung wird für den Ratsuchenden in einem in verständlicher Sprache verfassten Brief zusammengefasst. Neben den nüchternen medizinisch-genetischen Sachverhalten spielen auch psychologische Aspekte bei einer genetischen Beratung eine gewichtige Rolle, da nicht selten die Diagnose einer genetisch bedingten Erkrankung zu Schuldgefühlen und Ängsten bei den Patienten führt.
Ein häufiger Anlass für eine humangenetische Beratung sind Kinder mit Fehlbildungen oder Störungen der psychomotorischen Entwicklung. Dabei ist eine Diagnosestellung insbesondere für die Einschätzung des Wiederholungsrisikos für weitere Kinder der Eltern von großer Bedeutung. Bei schwerwiegenden Erkrankungen müssten dann auch die Möglichkeiten und Grenzen einer pränatalen Diagnostik thematisiert werden. Ähnliches gilt auch für humangenetische Beratungen von Schwangeren, bei denen z. B. ultrasonographisch Auffälligkeiten beim Feten nachgewiesen wurden oder ein Altersrisiko besteht. Dabei kommt es insbesondere bei Erwägung eines Schwangerschaftsabbruchs nicht selten zu erheblichen psychischen und ethischen Konflikten der Ratsuchenden. Hierbei müssen die persönliche Weltanschauung der Patienten einschließlich der religiösen Wertvorstellungen respektiert werden. Die Inanspruchnahme einer vorgeburtlichen Diagnostik präjudiziert bei einem pathologischen Befund in keinem Fall zwangsläufig einen Schwangerschaftsabbruch.
Eine weitere häufige Fragestellung bei einer humangenetischen Beratung sind genetisch bedingte Erkrankungen in der Familie (z. B. Geschwister oder Eltern des Ratsuchenden). Bei autosomal und X-chromosomal rezessiven Erbgängen kann dabei eine genetische Testung auf Anlageträgerschaft (Heterozygotentestung) eine zentrale Rolle spielen, da das Ergebnis einen wichtigen Einfluss auf die weitere Familienplanung des Ratsuchenden haben könnte. Die genetische Beratung hat besonders bei der prädiktiven Diagnostik für spätmanifestierende autosomal dominant erblichen Erkrankungen (z. B. neurodegenerative Erkrankungen oder erbliche Tumorerkrankungen) eine große Bedeutung (Bundesärztekammer 2003). Hierunter versteht man die genetische Testung eines gesunden Menschen auf Anlagen für Erkrankungen im weiteren Lebensverlauf. Sie erlaubt somit die Vorhersage des späteren Auftretens oder der Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Krankheit. Vor einer solchen Testung und auch danach ist gemäß Gendiagnostikgesetz eine genetische Beratung durch einen entsprechend qualifizierten Arzt (z. B. Facharzt für Humangenetik) durchzuführen, Voraussetzung ist ferner die Volljährigkeit des Patienten. Dem Patienten ist nach der Beratung eine angemessene Bedenkzeit bis zur Entscheidung über die Einwilligung zur genetischen Testung einzuräumen. Eine Unterstützung durch einen Psychologen oder Psychotherapeuten sollte bei Bedarf angeboten und bzw. vermittelt werden.
Auch die Blutsverwandtschaft von Paaren ist ein regelmäßiger Anlass für eine humangenetische Beratung. Das Risiko für angeborene Erkrankungen (sog. Basisrisiko) ist beispielsweise für Kinder von Cousin und Cousine ersten Grades ungefähr doppelt so hoch (ca. 8 % vs. 4 %). Dies ist besonders auf das erhöhte Auftreten von autosomal rezessiven Erkrankungen zurückzuführen. Wenn in der Familie bereits eine entsprechende Krankheit aufgetreten ist, kann vor einer Familienplanung eine gezielte Testung auf Anlageträgerschaft erfolgen. Eine ungezielte Heterozygotentestung im Sinne einer Screeninguntersuchung wird dagegen in Deutschland in der Regel nicht durchgeführt.
Störungen der Fertilität und habituelle Aborte sind ebenfalls häufige Indikationen für eine genetische Beratung. So können beispielsweise balancierte Translokationen bei Paaren zu wiederholten Fehl- oder Totgeburten führen.
Nicht zuletzt führen auch Fragen bezüglich teratogener Risikofaktoren, z. B. Einnahme von Medikamenten oder Suchtmitteln, Strahlenbelastung oder Infektionen in der Schwangerschaft, zur Inanspruchnahme einer humangenetischen Beratung. Ähnliches gilt für die Beurteilung möglicher mutagener Effekte auf die Keimzellen durch eine vorangegangene Chemotherapie und Bestrahlung (Tab. 2).
Tab. 2
Häufige Anlässe für eine humangenetische Beratung.
- Verdacht auf genetisch bedingte Erkrankung bei dem Ratsuchenden selber
- Genetisch bedingte Erkrankung in der Familie des Ratsuchenden, prädiktive Diagnostik
- Krebserkrankungen in der Familie
- Kind mit Fehlbildungen oder psychomotorischer Entwicklungsstörung
- Schwangerschaft (Alter der Mutter, Fehlbildungen beim Kind), pränatale Diagnostik
- Mutagene Effekte durch Chemo- oder Radiotherapie bei einem der Partner
- Teratogene Effekte durch Medikamente, Strahlenbelastung, Infektion, Suchtmittel
- Verwandtenehe

Dysmorphologie

Eindeutig zu viel erhoffen sich manche Ärzte davon, dass Klinische Genetiker „per Blick“, quasi auf einem „diagnostischen Richtweg“, zur Problemlösung gelangen. Obwohl inzwischen zahlreiche Retardierungssyndrome bekannt sind, die auch durch bestimmte morphologische Veränderungen gekennzeichnet sind, ist doch die Zahl der bisher nicht klassifizierbaren und damit nicht benennbaren Krankheitsbilder ungleich größer, sodass es auf nicht absehbare Zeit weiter darauf ankommen wird, potenziell bedeutsame morphologische Veränderungen zu erkennen und in diagnostischer Hinsicht zu deuten (Ausdruck gestörter Embryogenese? Eher Folge gestörter Stoffwechselfunktion? Möglicherweise infektiöse Ursache?), um auf dieser Grundlage das diagnostische Procedere zu entwickeln. Denn auch die Anamneseerhebung und Untersuchung nach klinisch-genetischen Gesichtspunkten soll nicht bedeuten, dass „einfach noch mehr gemacht“ wird, vielmehr hat sie das Ziel, das Spektrum der diagnostischen Möglichkeiten einzuengen. Eine unbestreitbare Aufgabe aller am diagnostischen Prozess Beteiligter kann nur ein möglichst gezieltes, zeit- und kostensparendes Vorgehen sein, das insbesondere im Interesse des Patienten selbst liegt. Noch anders ausgedrückt, sehen wir die Funktion der Klinischen Genetik darin, diagnostische Hypothesen („Diagnosekandidaten“) zu formulieren, um diese dann mithilfe zytogenetischer, molekularzytogenetischer und insbesondere molekulargenetischer Methoden zu überprüfen.

Faziale Phänotypanalyse

Viele Dysmorphie- und Fehlbildungssyndrome haben eine charakteristische Fazies, die wesentlich zur Diagnosestellung beitragen. Typische Beispiele sind das Cornelia-de-Lange-Syndrom, das Rubinstein-Taybi-Syndrom oder das Kabuki-Syndrom. Um diese fazialen Merkmale zu erkennen, bedarf es einer fazialen Phänotypanalyse, die die Kenntnis bestimmter Begrifflichkeiten voraussetzt.
Bei der fazialen Phänotypanalyse sollte man systematisch vorgehen und die einzelnen Regionen genau beschreiben.

Kranium

Der knöcherne Schädel zeigt eine Reihe von Auffälligkeiten, die bei der Gestalterkennung und Syndromzuordnung von Bedeutung sind. Es sollte zunächst eine objektive Messung des Schädelumfangs erfolgen. Die Messwerte sollten dann mithilfe einer Perzentilenkurve bewertet werden. Ein Kopfumfang kleiner als 2 Standardabweichungen (SD) wird als Mikrozephalie, ein Umfang größer als 2 SD wird als Makrozephalie bezeichnet. Wichtig ist hierbei auch die Unterscheidung zwischen prä- und postnatalem Beginn. Mikrozephalie und Makrozephalie können sowohl isoliert wie auch als Teil von syndromalen Krankheitsbildern auftreten.
Die normale Schädelform wird durch die zeitgerechte Fusion der Schädelnähte gewährleistet. Eine vorzeitige Verknöcherung einzelner Schädelnähte führt zu charakteristischen pathologischen Schädelformen. Pathologische Schädelformen können aber auch durch die Einwirkung mechanischer Kräfte (Deformation) z. B. bereits intrauterin erfolgen. Eine unspezifische Brachyzephalie (abgeflachter Hinterkopf) liegt bei Patienten mit Down-Syndrom vor. Eine Brachyzephalie kann aber auch durch eine vorzeitige, bilaterale Verknöcherung der Koronarnähte entstehen. Demgegenüber ist die Skaphozephalie (Kahnschädel), eine pathologische Form der Dolichozephalie (Langschädel) zu nennen, die durch eine vorzeitige Verknöcherung der Sagittalnahtbedingt ist. Einer Trigonozephalie wird durch eine vorzeitige Verknöcherung der metopen Naht verursacht. Die Turrizephalie (Turmschädel) entsteht als Folge einer vorzeitigen Verknöcherung der Lambdanaht, Koronarnaht und metopen Naht. Eine Turrizephalie ist charakteristisch z. B. für das Apert-Syndrom. Eine einseitige Verknöcherung der Koronarnaht führt zu einer asymmetrischen Verformung des Schädels (Plagiozephalus), die häufig mit einer Gesichtsasymmetrie einhergeht. Wenn mehrere Schädelnähte gleichzeitig verknöchern, kann dies zu bizarren Veränderungen der Schädelform führen. Die Synostose aller Schädelnähte führt zu einer besonders schwer veränderten Schädelform, dem Kleeblattschädel.
In die Beurteilung des Gesichts sollte auch die Beurteilung der Stirn eingehen. So unterscheidet man eine hohe Stirn (Silver-Russell-Syndrom, Pallister-Killian-Syndrom), von einer niedrigen Stirn, die häufig auch durch einen tiefen anterioren Haaransatz (Rubinstein-Taybi-Syndrom) vorgetäuscht werden kann. Eine geringe Stirnhöhe (Abflachung des Kraniums) kann Folge einer Beckenendlage sein und normalisiert sich dann im Laufe der Zeit. Für einige Krankheitsbilder (Prader-Willi-Syndrom, Miller-Dieker-Syndrom, Opitz-BBBSyndrom) sind flache bitemporale Eindellungen charakteristisch.
Auch die Beschreibung des Haaransatzes gehört zur vollständigen Analyse des Gesichts. Charakteristisch sind ein „frontal upsweep“ (Stirnwirbel mit Umkehrung der Richtung des Haarwuchses) sowie ein „widow‚s peak“ wie er beim Aarskog-Syndrom vorkommt. Unabhängig davon spielen Muster der Kopfbehaarung eine z. T. wesentliche diagnostische Rolle. Erinnert sei an die generell spärliche Kopfbehaarung beim Tricho-Rhino-Phalangealen-Syndrom Typ 1 (TRPS1) sowie an die spärlichen, häufig gelockten Haare bei Krankheitsbildern aus der Gruppe der Noonan-Syndrome und an die besonders temporoparietal spärliche Behaarung beim Pallister-Killian-Syndrom.

Mittelgesicht und Nase

Der mittlere Abschnitt des Gesichts, das sog. Mittelgesicht, wird entscheidend geprägt durch seine Gesamtentwicklung. Eine Hypoplasie lässt das Gesicht flächig erscheinen, bei stärkerer Ausprägung sogar wie eingedellt („dished out“). Typisch sind flache Gesichter z. B. für bestimmte Skelettdysplasien, insbesondere aus der Gruppe der Typ-II-Kollagenopathien, aber auch für eine Reihe von Chromosomenanomalien (z. B. Trisomie 21). und syndromale Krankheitsbilder anderer Ätiologie. Der Eindruck eines prominenten („vorspringenden“) Mittelgesichts wird oft erst hervorgerufen oder noch verstärkt durch eine begleitende Mikrozephalie sowie Mandibulahypoplasie mit Mikrogenie, z. B. beim Rubinstein-Taybi-Syndrom. Auch eine umschriebene Hypoplasie z. B. des Jochbeins („Wangenknochen“) z. B. beim Franceschetti-Syndrom oder vorwiegend der Maxilla (mit dem Effekt einer relativen Progenie) kann das Gesicht wesentlich prägen.
Ein wichtiges Kriterium für die Beurteilung einer fazialen Dysmorphie stellen die Formmerkmale der Nase dar. Für die Beurteilung grundlegend sind die Größe der Nase, ihre Prominenz, die Breite und Höhe der Nasenwurzel und auch der Nasenspitze. Die Nasenbodenebene mit den Nasenlöchern kann nicht nur antevertiert sein (und damit eher fetale Verhältnisse widerspiegeln), sondern auch Veränderungen aufweisen, die für die Diagnose maßgeblich sein können. Beispiele wären die dreieckige Form der Nasenbodenebene beim Cornelia-de-Lange-Syndrom, der prominente vordere Teil des Nasenseptums (Nasensteg; Columella) beim Rubinstein-Taybi-Syndrom und auch beim Mowat-Wilson-Syndrom oder umgekehrt die wie eingezogen wirkende Columella beim ATRX-Syndrom.
Eine größere diagnostische Rolle kann aber die Gesamtform (Gestalt) der Nase spielen, die bei manchen Krankheitsbildern sehr charakteristisch und damit diagnostisch maßgeblich ist. Beispiele hierfür wären die Form der Nasen beim Kabuki-Syndrom, beim Floating-Harbor-Syndrom oder beim Sotos-Syndrom.

Augenregion

Die Augenregion einschließlich der Brauen und Wimpern ist oft für den Gesamteindruck des Gesichts von maßgeblicher Bedeutung. Wichtige Merkmale sind der Augenabstand (Hypo-/Hypertelorismus) sowie die Relation zwischen der Distanz der medialen Canthi (DMC) zur Interpupillardistanz (IPD) (Abb. 8). Während ein Hypertelorismus regelmäßig von einem Telecanthus begleitet wird (deswegen auch als sekundärer Telecanthus bezeichnet), charakterisiert den primären Telecanthus ein abnorm weiter Abstand zwischen den medialen Canthi, während die Interpupillardistanz im Normbereich liegt. Dieser Befund ist typisch für Patienten mit dem Waardenburg-Syndrom Typ I. Von diagnostischer Bedeutung kann auch der Lidspaltenverlauf sein (von medial nach lateral ansteigend oder abfallend). Die Lidspaltenweite und damit die Größe der Augen (d. h. das Sichtbarsein des Bulbus) ist ein weiteres Kriterium, das zu beachten ist. Beispiele sind die horizontal weiten Lidspalten beim Kabuki-Syndrom und die engen Lidspalten bei den Syndromen, die mit einer Form der Blepharophimose einhergehen, die besonders ausgeprägt ist beim Blepharophimose-Ptosis-Epikanthus-inversus-Syndrom (BPES). Nicht unerwähnt bleiben dürfen auch die besonderen Formmerkmale der Lider, z. B. die Aussackung des Unterlids beim Franceschetti-Syndrom, die geringer ausgeprägt auch manche Patienten mit Kabuki-Syndrom zeigen, und die „Spielarten“ des Epikanthus sowie die Formvarianten des Oberlids. Schließlich kann die Form der Augenbrauen eine wesentliche Facette der Fazies darstellen. Hervorragende Beispiele sind die charakteristisch geformten Brauen beim Cornelia-de-Lange-Syndrom, beim Kabuki-Syndrom und beim Mowat-Wilson-Syndrom.

Mund- und Kinnregion

Auch die Mundregion ist eine komplexe Struktur, die zur Gestaltserkennung beiträgt. Sie beginnt mit einer Beurteilung der häutigen Oberlippe (lang/kurz, schmal/vorgewölbt). Das Philtrum (medianer Abschnitt zwischen Nase und Schleimhautoberlippe) besteht aus den Philtrumleisten und der dadurch gebildeten Philtrumrinne. Die Philtrumleisten können sehr flach oder sogar weitestgehend „verstrichen“ sein (Alkoholembryopathie, Cornelia-de-Lange-Syndrom) oder aber deutlich erhaben wie z. B. beim Weaver-Syndrom. Beurteilungskriterien sind auch die Mundgröße sowie Fülle und Form der Lippen. Das Kinn zeigt bei vielen Dysmorphiesyndromen charakteristische Veränderungen. So spricht man bei der Mandibulahypoplasie, die zu einem zurückverlagerten Kinn führt, von Retrogenie, während eine geringe Kinnhöhe (Distanz zwischen Unterlippe und Kinnspitze) mit Mikrogenie beschrieben wird, die allerdings häufig mit einer Retrogenie einhergeht. Ein besonders langes Kinn findet sich bei Patienten mit Sotos-Syndrom und Fragilem-X-Syndrom. Die Inspektion der Mundhöhle erlaubt eine Beurteilung der Zähne (Zahnstatus, Zahnform), der Zunge und insbesondere des Gaumens und der Uvula. Zahnunterzahl (Hypodontie oder sogar Oligodontie), insbesondere in Kombination mit einer Fehlform (z. B. konisch) wäre typisch für eine ektodermale Dysplasie. Relativ kleine Zähne mit zu großen Zahnabständen (Diastemata) finden sich u. a. bei Patienten mit Williams-Beuren-Syndrom, während ungewöhnlich große, breite Schneidezähne Patienten mit KBG-Syndrom charakterisieren.
Auch Größenanomalien der Zunge können ein wichtiges Symptom darstellen, so findet sich eine Makroglossie bei Patienten mit Beckwith-Wiedemann-Syndrom. Zungentumoren sind hinweisend für die OFD-Syndrome. Am harten Gaumen unterscheidet man zwischen der physiologischen und der hohen, spitzbogigen („gotischer Gaumen“) Wölbung. Ebenso von Bedeutung sind die geringeren Ausprägungen einer Spaltbildung in Form der oft nur tastbaren submukösen Gaumenspalte, die typischerweise mit einer funktionellen Beeinträchtigung der Gaumensegelfunktion einhergeht und das offene Näseln (Rhinolalia aperta) verursacht (Deletion 22q11.2). Eine gespaltene Uvula findet sich typischerweise bei Patienten mit einem Phänotyp (Loeys-Dietz-Syndrom), der dem Marfan-Syndrom sehr ähnelt.

Ohren

Die Position, Größe und insbesondere die Form der Ohrmuscheln sind grundlegende und relevante Beurteilungskriterien. Wesentliche Abweichungen von der Norm, in einem Teil der Fälle aber auch eher diskrete Veränderungen, können entscheidend zur Diagnosefindung beitragen. Zu beachten ist aber auch die große physiologische Variationsbreite, wenn es um die Form der Ohrmuscheln geht! Die Beschreibung und Interpretation etwaiger Anomalien ist nur möglich, wenn die Anatomie der normal gestalteten Ohrmuschel bekannt ist. Zum „Grundinventar“ gehören deshalb die Kenntnis von Begriffen wie Helix, Anthelix, Tragus und Antitragus sowie Concha mit ihrer Cymba und ihrem Cavum. Kleine Ohrmuscheln (Mikrotie) sind häufig auch dysmorph, während auffällig große Ohrmuscheln oft regelrecht geformt sind und dann ein Merkmal bestimmter Makrosomie-Makrozephalie-Retardierungssyndrome (Sotos-Syndrom, Weaver-Syndrom) darstellen. Ungewöhnlich „reliefreiche“ („crumpled ears“) Ohrmuscheln haben Patienten mit kontraktureller Arachnodaktylie (Beals-Hecht-Syndrom); große, abstehende Ohrmuscheln mit oft hypoplastischer Helix und zusätzlicher Aufgabelung der Anthelix (crus tertius) können ein wesentliches faziales Symptom des Kabuki-Syndroms sein. Zu den diskreten, aber bedeutsamen Ohrmuschelanomalien gehört die vermehrt umgeschlagene („overfolded“) Helix der Patienten mit Townes-Brocks-Syndrom, das „Kerbenohr“ in Kombination mit grübchenartigen Vertiefungen auf der Rückseite der Helix oder der Ohrmuschel beim Wiedemann-Beckwith-Syndrom oder die angehobenen, z. T. fast horizontal gestellten, fleischigen Ohrmuscheln beim Mowat-Wilson-Syndrom.

Terminologie angeborener Entwicklungsstörungen

Eine allgemein akzeptierte Nomenklatur für angeborene Anomalien existiert – zumindest gilt dies für den deutschsprachigen Raum – bisher nicht. Dabei hat es aber in der Vergangenheit besonders auf internationaler Ebene wiederholt Versuche gegeben, zu einer einheitliche Klassifikation und Nomenklatur zu kommen. Spranger et al. (1982) haben als Ergebnis einer internationalen Arbeitstagung in Mainz im Jahre 1978 eine ausführliche Zusammenstellung aller wesentlichen Begriffe zur Beschreibung von Entwicklungsanomalien veröffentlicht.
Unter einer Fehlbildung versteht man den morphologischen Defekt eines Organs, eines Teils davon oder einer Körperregion als Ergebnis eines abnormen embryonalen Entwicklungsprozesses. Beispiele für eine Fehlbildung sind der Balkenmangel, die Gaumenspalte, ein Herzfehler oder die Hypospadie. Sonderformen derartiger Entwicklungsstörungen stellen die Hypoplasie, die Aplasie und ihre Extremform, die Agenesie, dar. Während die Hypoplasie eines Organs oder einer Körperregion Ausdruck einer verminderten Zellzahl ist, bezeichnet Aplasie das Fehlen eines Körperteils/Organs als Folge einer zwar vorhandenen, aber nicht entwickelten Anlage (Primordium). Bei der Agenesie fehlt das Organ ebenfalls, hier allerdings als Folge einer fehlenden Anlage. Ebenfalls als primäre Entwicklungsstörung ist die Dysplasie aufzufassen. Sie beschreibt eine abnorme Gewebsdifferenzierung (Dyshistogenese) mit dem Ergebnis einer Formveränderung. Als Beispiele wären anzuführen die Osteogenesis imperfecta, das Marfan-Syndrom oder die polyzystische Nierenerkrankung. Lokalisierte (regionale) Dysplasien stellen beispielsweise Hämangiome oder auch die Angiofibrome bei der tuberösen Sklerose dar.
Auch sekundär kann es nach ursprünglich normal verlaufender embryonaler Entwicklung zu Veränderungen der Masse oder der Form eines Organs/Gewebes kommen; die zugrunde liegenden Prozesse und das jeweilige Ergebnis werden mit Begriffen wie Deformation, Disruption und Atrophie beschrieben. Deformation bezeichnet die abnorme Form/Größe oder auch Position eines Teils des Körpers als Folge der Einwirkung mechanischer Kräfte. Dabei können Faktoren wirksam werden, die von außen („extrinsic“) die fetale Entwicklung beeinträchtigen, beispielsweise in Form einer Raumbeengung infolge Uterusanomalie oder Fruchtwassermangels. Auf der anderen Seite können diese Faktoren auch vom Fetus selbst („intrinsic“) ausgehen. So kann die eingeschränkte fetale Beweglichkeit bei den kongenitalen Muskeldystrophien oder bestimmten Defekten des Zentralnervensystems zu schweren Deformationen der großen und kleinen Gelenke führen. Beispiele für postnatale Deformationen wären die Varisierung der unteren Extremitäten („O-Beine“) infolge Rachitis oder der Plagiozephalus infolge zerebraler Bewegungsstörung.
Eine Disruption (sekundäre Fehlbildung) kennzeichnet einen morphologischen Defekt eines Organs (oder Organteils) oder einer Körperregion als Folge einer exogenen Störung eines ursprünglich normalen Entwicklungsprozesses. Derartige „Störfaktoren“ sind beispielsweise bestimmte intrauterine Infektionen (Rötelnvirus), medikamentöse Teratogene (Thalidomid) oder mechanische Einwirkungen in Form sog. Amnionbänder. Schließlich bezeichnet man die Abnahme einer ursprünglich normal entwickelten Gewebs- oder Organmasse infolge verminderter Zellgröße/Zellzahl als Hypotrophie bzw. Atrophie bei schwerer Ausprägung.
Eine Assoziation beschreibt eine statistisch gehäufte, über den Zufall hinausgehende, mehr oder weniger konstanter Kombination von Anomalien, ohne dass eine Aussage über die Pathogenese und insbesondere nichts über die Ätiologie dieser kombinierten Fehlbildung gemacht wird. Die Verwendung des Begriffs impliziert ausdrücklich eine ätiologische (kausale) Heterogenität. Als Beispiel kann die VATER-Assoziation (Akronym aus „Vertebral, Anal, Tracheo-Ösophageal und Renal/Radial anomalies“) genannt werden.
Beim polytopen Entwicklungsfelddefektliegen zwar auch zwei oder mehr räumlich voneinander getrennte Anomalien vor, diese erklären sich aber aus der gestörten Embryogenese eines postulierten „polytopen Entwicklungsfeldes“. Beispiele hierfür wären kombinierte akrorenale Anomalien oder akrofaziale Dysostosen.
Eine ganze Reihe (Kaskade) von Anomalien, die sich auf eine einzige bekannte (oder wahrscheinliche) primäre Anomalie oder einen mechanischen Faktor zurückführen lassen, wird als Sequenz bezeichnet. Ein Beispiel hierfür wäre die (Pierre-)Robin-Sequenz. Pathogenetisch bewirkt eine einzige, primäre Anomalie, nämlich eine ausgeprägte Hypoplasie der Mandibula, die Verlagerung der embryonalen Zunge nach dorsal und kranial und hat damit eine Verschlussstörung der Gaumenfortsätze zur Folge mit dem Ergebnis einer breiten, U-förmigen Gaumenspalte. Aus diesen anatomischen Defekten wiederum ergeben sich zwangsläufig mehr oder weniger ausgeprägte funktionelle Störungen wie Glossoptosis, Atem- und Ernährungsstörungen, die wiederum mit der Gefahr hypoxämischer Hirnschäden und/oder einer Dystrophie des Kindes verbunden sind.
Weitere Beispiele sind die Potter(Oligohydramnion)-Sequenz und auch die Myelomeningozele, die eine komplexe anatomische und funktionelle Symptomatik umfasst, die sich letztlich aus einem einzigen embryonalen Basisdefekt, einer Verschlussstörung des Neuralrohrs (sog. Neuralrohrdefekt), ableitet.
Der Begriff Syndrom kennzeichnet ein ätiologisch definiertes Muster multipler Anomalien. Die Anwendung dieses Begriffs schließt ein, dass die vorliegenden Anomalien pathogenetisch zusammnenhängen, wobei aber typischerweise dieser Zusammenhang nicht in dem Maße aufgeklärt ist wie bei der Sequenz oder beim polytopen Entwicklungsfelddefekt.

Gendiagnostikgesetz (GenDG)

Die Erforschung des menschlichen Genoms hat in den letzten Jahren gewaltige Fortschritte gemacht. Durch neue molekulargenetische Methoden hat sich unser Wissen besonders im Hinblick auf Krankheitsursachen, Einschätzung des Krankheitsrisikos bis hin zur Entwicklung krankheitsspezifischer Therapien enorm erweitert. Die durch genetische Untersuchungen gewonnenen Informationen haben nicht nur einen erheblichen Einfluss auf die gesundheitliche Entwicklung, sondern sind auch relevant für Fragen, die die eigene Lebensplanung betreffen. Jede genetische Untersuchung bedarf einer ausführlichen genetischen Beratung, die über Aussagekraft und Konsequenzen der genetischen Diagnostik in nicht direktiver Form informieren soll.
Das am 01.02.2010 in Kraft getretene Gendiagnostikgesetz (GenDG, Abschn. 8) regelt den Umgang mit genetischen Untersuchungen sowie die Verwendung genetischer Proben und Daten beim Menschen. Die Umsetzung des GenDG in den verschiedenen Teilbereichen erfolgt im Rahmen von Richtlinien (§ 23 GenDG), die von der am Robert Koch-Institut eingerichteten Gendiagnostik-Kommission erarbeitet werden.
Ein wesentliches Ziel des GenDG ist es, „die Voraussetzungen für genetische Untersuchungen zu bestimmen und eine Benachteiligung auf Grund genetischer Eigenschaften zu verhindern, um insbesondere die staatliche Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Würde des Menschen und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung zu wahren“ (§ 1 GenDG). Dies bedeutet, dass für Menschen mit einer genetischen Erkrankung oder deren Angehörigen die Möglichkeit, eine genetische Beratung mit hoher Qualität in Anspruch zu nehmen, gesichert wird. Zusätzlich werden im GenDG Regelungen für den Umgang mit genetischen Untersuchungen zu medizinischen Zwecken einschließlich pränataler genetischer Untersuchungen, Untersuchungen zur Abstammung sowie für den Bereich privater Versicherungen getroffen. Auch der Umgang und die Lagerung von genetischen Proben werden geregelt.

Aufklärung und genetische Beratung gemäß GenDG

Im GenDG wird zwischen Aufklärung und genetischer Beratung unterschieden. Vor einer genetischen Untersuchung muss eine Aufklärung durch den verantwortlichen Arzt über das Wesen der Untersuchung, mögliche Ergebnisse und Konsequenzen der genetischen Untersuchung erfolgen. Außerdem muss in diesem Rahmen ein schriftliches Einverständnis für die geplante genetische Untersuchung eingeholt werden. Bei nicht einwilligungsfähigen Personen muss eine Einwilligung des gesetzlichen Vertreters vorliegen. Der Arzt muss diesen Vorgang schriftlich dokumentieren. Wichtig ist hier, dass der Ratsuchende seine Einwilligung zu jedem Zeitpunkt widerrufen kann (Recht auf Nichtwissen). Bei nicht behandelbaren Krankheiten ist die genetische Beratung zur Ergebnismitteilung verpflichtend, wohingegen sie natürlich auch bei behandelbaren Krankheiten sinnvoll ist.
Die genetische Beratung soll dem Ratsuchenden oder der Familie helfen, medizinische und genetische Sachverhalte zu verstehen, die dann die Basis für eine selbstständige Entscheidung darstellen. Sie soll aber auch das Recht auf Nichtwissen gewährleisten. Die genetische Beratung soll allgemein verständlich und ergebnisoffen erfolgen. Im GenDG wird besonderer Wert darauf gelegt, dass der ratsuchenden Person nicht nur Informationen über mögliche medizinische, sondern auch über psychosoziale und psychische Konsequenzen der Untersuchung mitgeteilt werden. Zusätzlich soll auf bestehende Selbsthilfegruppen hingewiesen werden und, wenn möglich, Kontakte zu anderen Betroffenen vermittelt werden. Der Inhalt der genetischen Beratung soll schriftlich dokumentiert werden und auf Wunsch dem Ratsuchenden in schriftlich verständlicher Form zur Verfügung gestellt werden.
Das GenDG unterscheidet zwischen genetischer Beratung bei diagnostischen, prädiktiven und vorgeburtlichen genetischen Untersuchungen. Die genetische Beratung soll der Arzt bei jeder diagnostischen Untersuchung anbieten, wohingegen sie bei jeder prädiktiven Beratung angeboten werden muss. Für den Ratsuchenden bleibt die Wahrnehmung des Angebots als Ausdruck seines Selbstbestimmungsrechts freiwillig. Während diagnostische genetische Untersuchungen von jedem Arzt nach Aufklärung und schriftlicher Einwilligung vorgenommen werden können (§ 7 Abs. 1,1) darf entsprechend § 7 Abs. 1,2 eine prädiktive genetische Untersuchung nur von Ärzten für Humangenetik oder von Ärzten, die sich entsprechend für genetische Untersuchungen qualifiziert haben, durchgeführt werden.
Eine prädiktive Diagnostik, das bedeutet eine Diagnostik, die vor Ausbruch einer spät auftretenden erblichen Erkrankung durchgeführt wird, hat für die ratsuchende Person eine große Bedeutung. Zu den Krankheiten, die prädiktiv diagnostiziert werden können, gehören z. B. erbliche Formen von Darmkrebs, Brustkrebs, Eierstockkrebs oder Schilddrüsenkrebs, Chorea Huntington oder auch autosomal rezessive Krankheitsbilder wie die Hämochromatose oder bestimmte Formen einer spinalen Muskelatrophie. Die prädiktive Diagnosestellung kann der Manifestation der Krankheit unter Umständen um Jahrzehnte vorausgehen. Durch eine solche Untersuchung kann zum einen ein Krankheitsausschluss und damit eine psychische Entlastung der Ratsuchenden Person erfolgen. Zum anderen kann der molekulargenetische Nachweis einer Genveränderung aber auch präventive oder therapeutische Konsequenzen haben. Für spät manifestierende neurodegenerative Erkrankungen wie z. B. Chorea Huntington, für die es bisher keine ursächliche Therapie gibt, kann der Ausschluss oder Nachweis einer krankheitsverursachenden Mutation große Bedeutung für die Lebens- und Familienplanung haben. Es ist aber auch zu berücksichtigen, dass die prädiktive Diagnostik für die ratsuchende Person psychische, soziale oder auch finanzielle Probleme mit sich bringen kann. Nach genetischer Beratung sollte dem Ratsuchenden eine angemessene Bedenkzeit im Hinblick auf die Durchführung der genetischen Untersuchung zur Verfügung gestellt werden.
Bei einer prädiktiven genetischen Untersuchung muss vor der genetischen Untersuchung und nach Vorliegen des Untersuchungsergebnisses eine genetische Beratung durch eine ärztliche Person angeboten werden, die die Qualifikation nach § 7 Abs. 1 und 3 GenDG erfüllen muss. Vor und nach prädiktiven genetischen Untersuchungen können bei Bedarf Unterstützungsangebote z. B. durch Psychologen oder Psychotherapeuten angeboten bzw. vermittelt werden. Prädiktive genetische Untersuchungen bei Minderjährigen dürfen nur mit Zustimmung des gesetzlichen Personensorgeberechtigten vorgenommen werden, wenn präventive oder therapeutische Maßnahmen möglich sind. Prädiktive genetische Untersuchungen im Zusammenhang mit einem Arbeitsverhältnis sollten nur dann durchgeführt werden, wenn der Test dem Schutz des Arbeitnehmers dient und es um den voraussehbaren Ausbruch einer genetischen Krankheit geht, die mit dem Arbeitsverhältnis in unmittelbarem Zusammenhang steht.
Auch die Ergebnismitteilung ist im GenDG (§ 11) genau geregelt. So dürfen die Ergebnisse genetischer Untersuchungen dem Ratsuchenden nur durch die verantwortliche ärztliche Person mitgeteilt werden. Für die Übermittlung von Laborbefunden gilt, dass diese nur der ärztlichen Person mitgeteilt werden dürfen, die die Analyse in die Wege geleitet haben. Es ist zu beachten, dass der Ratsuchende auch hier jederzeit die Möglichkeit hat, die Einwilligung zu widerrufen.

Qualifikation für die genetische Beratung

Aufgrund der Forderungen des GenDG wird der Beratungsbedarf, insbesondere was den Bereich der Pränataldiagnostik angeht, deutlich gesteigert und kann von der Gruppe der Fachärzte für Humangenetik nicht allein bewältigt werden. Daher hat der Gesetzgeber angeordnet, dass die genetische Beratung nur von Ärzten mit einer besonderen Qualifikation durchgeführt werden dürfen. Hierzu hat die Gendiagnostik-Kommission eine entsprechende Richtlinie erarbeitet. Fragestelllungen, die über die eignen Fachgrenzen hinausgehen, sollen auch in Zukunft im Wesentlichen durch Fachärztinnen und Fachärzte für Humangenetik oder Ärzten mit der Zusatzbezeichnung Medizinische Genetik erfolgen. Durch diese Qualifikation soll die Ärztin/der Arzt in die Lage versetzt werden, genetische Daten interpretieren und einordnen zu können, um sie dann in verständlicher Form dem Ratsuchenden vermitteln zu können. Hierzu zählen neben der Erörterung medizinischer und genetischer Sachverhalte im Zusammenhang mit genetischen Krankheiten auch psychische, soziale und ethische Aspekte. Der Ratsuchende muss auf diese Weise in die Lage versetzt werden, genetische Daten zu verstehen und eine Grundlage zu erhalten, autonome Entscheidungen im Hinblick auf die Inanspruchnahme genetischer Untersuchungen und der Befundmitteilung zu treffen.
Die Qualifikation unterscheidet sich von der einer/s Fachärztin/Facharztes für Humangenetik und Ärztin oder Arzt mit Zusatzbezeichnung Medizinische Genetik und wird – unabhängig davon, ob sie diagnostische oder prädiktive Beratungen betrifft – als „fachgebundene Qualifikation zur genetischen Beratung“ bezeichnet. Der Begriff der fachgebundenen Qualifikation soll ausdrücken, dass die Beratung innerhalb der eigenen Fachgrenzen erfolgen soll. Es wird in der Richtlinie ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bei Fragestellungen, die das eigene Fachgebiet überschreiten, eine Überweisung zur Fachärztin/Facharzt für Humangenetik oder zu Ärztinnen und Ärzten mit der Zusatzbezeichnung Medizinische Genetik erfolgen soll.
Die Qualifikation unterscheidet zwischen einer Qualifikationsmaßnahme für die fachgebundene genetische Beratung und einer Qualifikationsmaßnahme für die fachgebundene genetische Beratung im Kontext der vorgeburtlichen Risikoabklärung

Qualifikationsinhalte für die fachgebundene genetische Beratung

Die Qualifikationsinhalte der Richtlinie umfassen drei Teile:
  • Basisteil
  • Psychosozialer und ethischer Teil
  • Fachspezifischer Teil.
Die detaillierte Darstellung ist der Richtlinie über die Anforderung über die Anforderung an die Qualifikation zur Genetischen Beratung zu entnehmen (siehe Gendiagnostik-Kommission 2011).

Diagnostische Methoden in der klinischen Genetik

Klassische Zytogenetik

Die Zellen des menschlichen Körpers enthalten einen Chromosomensatz mit 46 Chromosomen (diploider Chromosomensatz) (Abb. 9). Männer und Frauen unterscheiden sich durch die Geschlechtschromosomen. Frauen haben zwei X-Chromosomen (46,XX), Männer ein X- und ein Y-Chromosom (46,XY). Eine Ausnahme stellen die Keimzellen dar, die jeweils nur 23 Chromosomen (haploider Chromosomensatz) aufweisen. Die Darstellung von Chromosomen ist generell aus allen teilungsfähigen Geweben möglich. In der Regel erfolgt die Analyse aus Lymphozyten des peripheren Blutes. Chromosomen werden durch ein Zentromer in einen kurzen Arm (p) und einen langen Arm (q) unterteilt.
Bei etwa 0,5 % der Neugeborenen findet sich eine Chromosomenstörung. Chromosomenaberrationen stellen eine wesentliche genetische Ursache für Spontanaborte dar. Während man chromosomale Veränderungen bis vor ca. zehn Jahren nur mithilfe des Lichtmikroskops darstellen konnte, ist es heute durch die Einführung der Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) und molekularzytogenetischer Methoden wie der CGH-Array-Analyse möglich, genomweit auch submikroskopische Veränderungen zu identifizieren. Im postnatalen Bereich ist die CGH-Array-Analyse dabei, die klassische Zytogenetik zu ersetzen.
Man unterscheidet zwischen numerischen Aberrationen und strukturellen Aberrationen (Abb. 10). Bei der numerischen Aberration ist die Gesamtzahl der Chromosomen verändert. Bei Trisomien ist ein einzelnes Chromosom dreifach vorhanden. Der häufigste Mechanismus, der zu einer numerischen Chromosomenstörung führt, ist eine Fehlverteilung („Non-Disjunction“) in der Meiose I und der Meiose II. Seltener (5 %) erfolgt die Fehlverteilung durch ein postzygotisches, mitotisches „Non-Disjunction“. Von klinischer Bedeutung sind vor allem die Trisomien 13, 18 und 21, die meisten anderen Trisomien sind letal. Mit dem Leben vereinbar sind Mosaiktrisomien der Chromosomen 8 und 16. Monosomien von Autosomen sind nicht mit dem Leben vereinbar, wohingegen partielle Monosomien mit dem Leben vereinbar sind. Bei einer Triploidie liegt jedes Chromosom dreifach vor (69 Chromosomen). Triplodien finden sich ursächlich bei ca. 20 % aller Aborte.
Strukturelle Chromosomenaberrationen sind seltener als numerische Aberrationen und entstehen durch Brüche an einem oder mehreren Chromosomen. Man unterscheidet zwischen balancierten und unbalancierten Chromosomenstörungen. Bei balancierten Chromosomenstörungen liegt in der Regel kein Zugewinn oder Verlust von genetischem Material vor. Träger von balancierten Chromosomenstörungen sind also meistens klinisch gesund. Nur in Fällen, in denen durch den Bruchpunkt ein Gen zerstört wird, kann es zu phänotypischen Auswirkungen kommen. Strukturelle Aberrationen wie eine Deletion (Verlust) oder Duplikation (Zugewinn) von genetischem Material führen in der Regel zu phänotypischen Auffälligkeiten. Unbalancierte Translokationen gehen häufig sowohl mit einer Deletion (partielle Monosomie) wie auch mit einer Duplikation (partielle Trisomie) von genetischem Material einher. In der Regel ist der Phänotyp überwiegend mit der partiellen Monosomie assoziiert. Strukturelle Chromosomenstörungen treten meist spontan auf, können aber auch als Folge ionisierender Strahlen, viraler Infektionen oder Chemikalien entstehen. Einige genetisch bedingte Krankheitsbilder (z. B. Fanconi-Syndrom, Nijmegen-Breakage-Syndrom) gehen ebenfalls mit einer erhöhten Brüchigkeit einher. Weitere strukturelle Aberrationen sind Inversionen, Isochromosomen und Ringchromosomen.
In seltenen Fällen findet sich bei der Chromosomenanalyse ein Markerchromosom. Hierunter versteht man überzählige Chromosomen, die häufig nur mittels der Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung näher charakterisiert werden können. Einige der Markerchromosomen werden als „small supernumerary marker chromosomes“ (sSMC) bezeichnet. Die häufigsten sSMCs sind Derivate der Chromosomen 15 und 22. Zu den Markerchromosomen gehören auch Isochromosomen des kurzen Arms von Chromosom 12. Der hieraus entstehende klinisch erkennbare Phänotyp wird als Pallister-Killian-Syndrom bezeichnet.
Bei etwa 1 % der Menschen finden sich chromosomale Polymorphismen, die besonders häufig an den kurzen Armen der akrozentrischen Chromosomen lokalisiert sind. Der häufigste chromosomale Polymorphismus beim Menschen findet sich im Heterochromatinblock des Chromosoms 9 (9qh+). In der Regel haben diese Veränderungen keine klinische Relevanz.
Indikationen für eine zytogenetische Untersuchung sind:
  • Wachstumsrückstand, der häufig schon pränatal vorliegt
  • Niedriges Geburtsgewicht
  • Entwicklungsrückstand wie verzögerte statomotorische und geistige Entwicklung, insbesondere Sprachentwicklungsstörungen
  • Faziale Dysmorphien wie z. B. Synophrys, auffällige Lidachse, pathologischer Augenabstand und andere sind häufig Ausdruck einer Chromosomenstörung. Viele chromosomal bedingte Krankheitsbilder sind allein aufgrund der fazialen Dysmorphien zu erkennen (Wolf-Hirschhorn-Syndrom, Katzenschrei-Syndrom etc.).
  • Kleinere und größere Fehlbildungen: Viele Chromosomenstörungen gehen mit Organfehlbildungen und Fehlbildungen des Skeletts einher. Besonders das Nebeneinander von mehreren Fehlbildungen ist sehr hinweisend auf eine Chromosomenstörung.
  • Multiple Fehlgeburten.

Beispiele für Chromosomenstörungen

Autosomale Chromosomenaberrationen
Trisomie 21 (Down-Syndrom)
Die klinischen Zeichen der Trisomie 21 wurden 1866 erstmalig von dem englischen Arzt J. Langdon Down unter dem Namen „mongolische Idiotie“ beschrieben. Der Begriff des Mongolismus sollte aber heute nicht mehr verwendet werden. 1959 wurde von Lejeune und Mitarbeitern ein überzähliges Chromosom 21 als Ursache des Down-Syndroms erkannt. Die Trisomie 21 ist die erste nachgewiesene Chromosomenstörung beim Menschen.
Die Trisomie 21 tritt bei Neugeborenen mit einer Häufigkeit von 1:650 auf und ist damit nicht nur die häufigste Chromosomenstörung, sondern auch die häufigste Ursache von geistiger Behinderung beim Menschen. Das Risiko, ein Kind mit einer Trisomie 21 zu bekommen, steigt ab einem mütterlichen Alter von 35 Jahren und liegt im Alter von 40 Jahren bereits bei 1:350. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei etwa 60 Jahren und ist in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen. Etwa 15 % der Kinder mit Trisomie 21 versterben im ersten Lebensjahr an den Folgen schwerer Herzfehler oder gastrointestinaler Fehlbildungen. Die Trisomie 21 ist ursächliche für einen großen Teil der Fehlgeburten insbesondere in der Frühschwangerschaft verantwortlich.
Klinische Auffälligkeiten
Die Diagnose einer Trisomie 21 erfolgt fast immer als Blickdiagnose beim Neugeborenen aufgrund einer Kombination insbesondere fazialer Dysmorphien (Abb. 11). Diagnostisch hinweisend sind eine Brachyzephalie, ein hypoplastisches Mittelgesicht mit flachem Nasenrücken, von innen nach außen ansteigende Lidachsen, ein Epikanthus und ein kleiner meist aufgrund der muskulären Hypotonie offen gehaltener Mund mit sichtbarer Zunge. Spezifisch sind auch die Brushfield-Flecken in der Iris. Die Ohren sind meist klein und tief angesetzt. Der Hals ist kurz und breit.
Bei Kindern und Erwachsenen mit Trisomie 21 liegen eine ausgeprägte Muskelhypotonie sowie eine Hypermobilität der Gelenke vor. Bei vielen Kindern finden sich Nabel- und Leistenbrüche sowie eine Rektusdiastase. Zusätzlich zeigen sich eine Brachydaktylie sowie ein weiter Abstand zwischen 1. und 2. Zehe (Sandalenfurche). Häufig findet sich eine beidseitige Vierfingerfurche.
Etwa 4–5 % der Patienten haben einen Herzfehler, am häufigsten einen Atrioventrikularkanal (AV-Kanal), seltener finden sich isolierte Ventrikelseptumdefekte (VSD), isolierte Vorhofseptumdefekte (ASD) oder ein offener Ductus Botalli. Gastrointestinale Fehlbildungen haben eine Häufigkeit von 12 %, wobei besonders auf eine Duodenalatresie und einen Morbus Hirschsprung zu achten ist.
Während die Geburtsmaße meist im unteren Normbereich liegen, entwickelt sich später ein postnataler Kleinwuchs mit einer Erwachsenengröße zwischen 140 und 160 cm. Sowohl die motorische wie auch die sprachliche Entwicklung sind retardiert (IQ zwischen 20 und 50).
Bei Kindern mit Trisomie 21 besteht eine erhöhte Infektneigung, außerdem sollte auf ein erhöhtes Risiko (ca. 1 %) im Hinblick auf eine meist lymphatische Leukämie (ALL) geachtet werden, aber auch andere Leukämieformen werden beschrieben. Bei Neugeborenen (selten bereits intrauterin) kann ein transitorisches myeloproliferatives Syndrom auftreten. Das Risiko für eine Hypothyreose ist deutlich erhöht. Rezidivierende Otitiden sind häufig die Ursache für einen Hörverlust. Bei Erwachsenen besteht außerdem ein hohes Risiko, einen Morbus Alzheimer zu entwickeln. Ursächlich wird die vermehrte Bildung von Amyloid-Precursor-Protein (APP) beschrieben, dessen Gen auf dem Chromosom 21 lokalisiert ist.
Diagnostik
Die klinische Verdachtsdiagnose sollte durch eine zytogenetische Untersuchung bewiesen oder ausgeschlossen werden. Für die genetische Beratung ist es unverzichtbar zu wissen, ob – wie in etwa 95 % der Fälle – eine freie Trisomie 21 (47,XX,+21 oder 47,XY+21) oder eine Translokationstrisomie 21 vorliegt, die in einigen Fällen auf einer familiären Robertson-Translokation beruht. Frauen mit einer Translokation 14;21 haben ein Risiko von 10 % für Kinder mit einer Trisomie 21. Mosaike, also das Vorliegen einer normalen Zelllinie neben trisomen Zellen, ist mit ca 2 % eher selten.
Therapie
Die Therapie ist im Wesentlichen symptomatisch. Aufgrund der o. g. medizinischen Komplikationen sollte eine Anbindung an ein sozialpädiatrisches Zentrum erfolgen. Viele Menschen mit Trisomie 21 erreichen durch optimale Förderung im schulischen und sozialen Bereichen ein gewissen Grad von Selbstständigkeit.
Trisomie 18 (Edwards-Syndrom)
1960 erfolgte die Erstbeschreibung des Edwards-Syndrom durch John Edwards und Kollegen. Die Häufigkeit ist mit 1:3000 deutlich geringer als die der Trisomie 21. Auch hier besteht eine enge Korrelation zum mütterlichen Alter. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist sehr gering und beträgt in der Regel nur wenige Tage oder Wochen. Allerdings gibt es immer wieder Berichte in der Literatur über Patienten, die das Erwachsenenalter erreicht haben.
Klinische Auffälligkeiten
Es zeigt sich bereits intrauterin eine deutliche Wachstumsverzögerung und Mikrozephalie. Fakultativ werden eine verdickte Nackenfalte, Fehlbildungen des Gehirns, des Herzens, der Niere oder des Gastrointestinaltrakts beobachtet. In seltenen Fällen zeigen sich auch Spalthände oder Reduktionsfehlbildungen. Diagnostisch hilfreich ist eine typische Fingerstellung: der Zeigefinger überkreuzt den Mittelfinger, der kleine Finger den Ringfinger (Abb. 12).
Diagnostik
Die Diagnosestellung erfolgt postnatal durch eine Chromosomenanalyse aus Blutlymphozyten. Pränatal kann durch eine molekularzytogenetische Untersuchung aus Chorionzotten oder Amnionzellen der Karyotyp bestimmt werden. Die nicht erbliche Form, auch freie Trisomie 18 (47,XX,+18 oder 47,XY,+18 ) genannt, überwiegt deutlich. Sehr selten zeigen sich Translokationstrisomien oder Mosaike. Partielle Trisomien gehen häufig mit einem deutlich milderen Phänotyp einher.
Therapie
Die wesentliche Maßnahme nach Diagnosestellung ist eine ausführliche genetische Beratung der Eltern. Je nach Prognose steht die Korrektur der Fehlbildungen im Vordergrund. Häufig ist eine Ernährung nur mithilfe einer Magensonde möglich. Es ist fast immer davon auszugehen, dass die Kinder, die das erste Lebensjahr überleben, eine schwerste psychomotorische Behinderung aufweisen.
Trisomie 13 (Pätau-Syndrom)
Die Trisomie 13 wurde 1960 erstmalig von Klaus Pätau und Kollegen beschrieben und weist eine Häufigkeit von etwa 1:10.000 auf. Es besteht auch hier eine Abhängigkeit zum mütterlichen Alter. Der überwiegende Teil der Kinder mit Trisomie 13 verstirbt im ersten Lebensjahr. Überlebende Kinder zeigen eine ausgeprägte psychomotorische Retardierung und Epilepsie.
Klinische Zeichen
Sehr charakteristisch sind eine beidseitige Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, eine postaxiale Polydaktylie und Skalpdefekte. Häufig findet sich bereits pränatal eine schwere Hirnfehlbildung (Holoprosenzephalie).
Diagnostik
Überwiegend zeigt sich die vererbbare Form der freien Trisomie (47,XX,+13 oder 47,XY,+13). Bei ca. 25 % findet sich eine Translokationstrisomie, meistens handelt es sich um eine unbalancierte Robertson-Translokation rob(13q;14q).
Therapie
Abhängig von der Prognose steht die Korrektur der Fehlbildungen in Abhängigkeit von ihrer Schwere im Vordergrund. Auch hier ist eine umfassende genetische Beratung der Eltern unbedingt notwendig.
Gonosomale Chromosomenstörungen
Im Vergleich zu den autosomalen Chromosomenstörungen führt die Fehlverteilung der Geschlechtschromosomen in der Regel zu milderen Phänotypen, insbesondere im Hinblick auf die geistige Entwicklung.
Turner-Syndrom (Ullrich-Turner-Syndrom, UTS; 45,X)
Das Krankheitsbild wurde zunächst 1929 von Ullrich und 1938 von Turner beschrieben. Die zytogenetische Klärung der Ursache einer Monosomie X wurde erst 1959 durch Charles Ford geklärt. Die Inzidenz beträgt etwa 1:2500 neugeborene Mädchen. Die Monosomie X ist die häufigste Ursache von Aborten.
Klinische Zeichen
Das klinische Bild unterscheidet sich in den verschieden Lebensaltern (Abb. 13). Pränatal finden sich im Ultraschall eine intrauterine Wachstumsverzögerung sowie eine deutlich erhöhte Nackentransparenz im Sinne eines zystischen Hygroms oder aber auch ein generalisierter Hydrops. Im weiteren Verlauf werden Herzfehler oder Nierenfehlbildungen auffällig. Beim Neugeborenen sind Geburtsgewicht und Länge meist unterdurchschnittlich. Lymphödeme an Hand- und Fußrücken sind nahezu pathognomonisch. Bei einigen Neugeboren findet sich ein Pterygium colli (Flügelfell) als Ausdruck eines obliterierten zystischen Hygroms. Es fällt ein tiefer Nackenhaaransatz auf, oft mit inversem Haaransatz. Die fazialen Dysmorphien (Epikanthus, Ptosis, weiter Augenabstand) können in diesem Alter noch sehr diskret sein. Der Thorax hat häufig eine Schildform (Schildthorax) mit weit auseinanderstehenden Mamillen. Es zeigt sich eine Brachydaktylie mit hypoplastischen Nägeln. Ein Teil der Mädchen hat einen angeborenen Herzfehler (bikuspide Aortenklappe, Aortenisthmusstenose, valvuläre Aortenstenose, Mitralklappenprolaps). Selten können Trinkprobleme auftreten, die sich meist spontan bessern. Im Kleinkindalter sollten Mittelohrentzündungen rechtzeitig behandelt werden, um eine Schallleitungsschwerhörigkeit zu vermeiden. Die Wachstumsgeschwindigkeit vermindert sich, gegen Ende des Kleinkindalters liegt das Längenmaß meist unterhalb der dritten Perzentile. Kleinwuchs und das Ausbleiben der Pubertät sind häufig Anlass, die Mädchen in einer Wachstumssprechstunde vorzustellen. Die Endgröße bei nicht behandelten Mädchen liegt zwischen 140 und 150 cm. Bei einer radiologischen Untersuchung der linken Hand findet sich in der Regel ein verkürztes Metakarpale IV (positives Metakarpalzeichen). Außerdem liegt eine Gonadendysgenesie vor, die Ovarien sind bindegewebig verändert („Streak“-Gonaden). Endokrinologisch zeigt sich ein hypergonadotroper Hypogonadismus. Im Erwachsenenalter entwickeln viele Frauen eine Adipositas. Die Intelligenz ist in der Regel normal, kann aber auch leicht unterhalb des familiären Durchschnittswerts liegen. Im mathematischen Bereich kann eine Teilleistungsschwäche vorhanden sein.
Diagnostik
Die Diagnosestellung erfolgt häufig erst im Schulalter aufgrund des proportionierten Kleinwuchses und der ausbleibenden Pubertät.
Zytogenetische Diagnostik. Bei etwa der Hälfte der Patientinnen zeigt sich eine Monosomie X (45,X). Bei etwa 7 % liegt ein chromosomales Mosaik vor (45,X/46,XX). Bei Mosaikbefunden kann ein milderer Phänotyp mit spontaner Pubertät vorhanden sein. Die Monosomie X entsteht in der Regel postzygotisch, was auch die häufigen Mosaikbefunde erklärt. Wichtig ist auch der Nachweis eines Mosaiks mit einer männlichen Zelllinie (45,X/46,XY), die häufig nur durch molekularzytogenetische Untersuchungen dargestellt werden kann. In diesen Fällen besteht ein Risiko für Gonadoblastome. Auch strukturelle Aberrationen wie eine Deletion Xp, ein Ringchromosom X oder Isochromosom X [i(Xq)] können für ein Ullrich-Turner-Syndrom verantwortlich sein. Die phänotypischen Auffälligkeiten werden durch einen Verlust von Genen, die auf dem kurzen Arm lokalisiert sind, verursacht. Es ist bekannt, dass der Kleinwuchs durch eine Haploinsuffizienz des SHOX-Gens entsteht.
Endokrinologisch finden sich erniedrigte Basalwerte für die Gonadotropine sowie ein auffälliger LH/RH-Test im Sinne eines hypergonadotropen Hypogonadismus.
Therapie
Die Therapie des Kleinwuchses steht im Vordergrund und wird von den Krankenkassen als Indikation für eine Kostenübernahme angesehen. Später wird zusätzlich eine Therapie mit Sexualhormonen notwendig. Hierunter kommt es Monatsblutungen und zur Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale. Wegen des Risikos einer Aortendissektion wird bei Frauen mit Turner-Syndrom eine regelmäßige Kontrolle durch Echokardiographie empfohlen.
Klinefelter-Syndrom (47,XXY)
Die Erstbeschreibung erfolgte durch Harry Klinefelter 1942. Erst 1959 konnte Patricia Jacobs die zugrunde liegende zytogenetische Auffälligkeit aufklären. Das Klinefelter-Syndrom ist mit einer Inzidenz von 1:1000 die häufigste gonosomale Chromosomenstörung. Männliche Infertilität durch Azoospermie ist in ca. 10 % auf ein Klinefelter-Syndrom zurückzuführen. Das überzählige X-Chromosom stammt zur Hälfte vom Vater, zur Hälfte von der Mutter.
Klinische Zeichen
Vor der Pubertät sind die Jungen in der Regel unauffällig. Die Diagnosestellung erfolgt aufgrund einer unvollständigen und spät auftretenden Pubertät, einer Gynäkomastie, eines Hochwuchses und eines kleinen Hodenvolumens oder im Rahmen einer invasiven Pränataldiagnostik. Bei einigen Jungen fallen eine Entwicklungsverzögerung sowie Konzentrations- und Verhaltensprobleme auf. Häufig erfolgt die Diagnosestellung erst im Erwachsenenalter bei der Abklärung einer Infertilität. In der Pubertät entwickelt sich häufig eine stammbetonte Adipositas und eine Gynäkomastie.
Diagnostik
Die Diagnosestellung erfolgt zytogenetisch mittels einer Chromosomenanalyse (47,XXY). Endokrinologisch zeigt sich ein hypergonadotroper Hypergonadismus. Im Spermiogramm findet sich eine Azoospermie oder eine Oligospermie. Bei erwachsenen Männern besteht ein erhöhtes Risiko für Varikose, Diabetes mellitus und trophischen Hautveränderungen. Männer mit Klinefelter-Syndrom haben im Vergleich zu normalen Männern ein ca. 20-fach erhöhtes Risiko für Brustkrebs.
Therapie
Bei früher Diagnose sollte eine Substitutionstherapie mit Testosteron etwa im Alter von 12–14 Jahren begonnen werden (250 mg/Monat). Eine Therapie mit Testosteron sollte auch dann erfolgen, wenn die Diagnose erst im Erwachsenenalter gestellt wurde, u. a. wegen des erhöhten Osteoporoserisikos. Durch die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin (ICSI, Tesis) besteht die Möglichkeit, eigene Nachkommen zu haben.
Krankheitsbilder mit veränderter Zahl der Geschlechtschromosomen
Triple-X-Syndrom (Trisomie X; 47,XXX)
Bei etwa 1 auf 1000 neugeborenen Mädchen findet sich eine Trisomie X (47,XXX), die häufig lebenslang unbekannt bleibt. Fast immer stammt das zusätzliche Chromosom von der Mutter als Folge einer Fehlverteilung („Non-Disjunction“). Der überwiegende Anteil von Mädchen und Frauen ist phänotypisch unauffällig. Viele Frauen mit einem überzähligen X-Chromosom werden nicht diagnostiziert. Allerdings gibt es auch Patientinnen, die einen Hochwuchs, Teilleistungsschwächen besonders im sprachlichen Bereich sowie ein vermindertes Selbstbewusstsein aufweisen. Es ist nicht bekannt, durch welche Faktoren der Phänotyp beeinflusst wird. Der Befund eines Triple-X-Syndroms im Rahmen der Pränataldiagnostik stellt eine hohe Anforderung an die genetische Beratung.
Höhergradige Aneuploidien
Die Anwesenheit zusätzlicher Geschlechtschromosomen (48,XXXX, 49,XXXXX oder 48,XXYY, 49,XYYY) sind sehr selten und gehen mit einer deutlichen Einschränkung der geistigen Entwicklung sowie von Fehlbildungen einher.

Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung

Die Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) ermöglicht eine hochauflösende Darstellung der Chromosomen und von Teilen der Chromosomen in allen Phasen des Zellzyklus (Abb. 14). Die Darstellung in der Interphase findet eine besondere Anwendung als sog. Schnelldiagnostik in der invasiven Pränataldiagnostik. Die Nachweisgrenze der konventionellen Zytogenetik liegt bei etwa 5 Mb. Im Gegensatz dazu gelingt es mithilfe der FISH auch Deletionen bis ca. 0,1 Mb zu entdecken. Bei der FISH wird die einzelsträngige DNA mit komplementärer DNA (DNA-Sonden), die mit einem Fluoreszenzfarbstoff versehen sind, hybridisiert. Für die Diagnostik von Mikrodeletionssyndromen werden lokusspezifische Sonden verwendet (Abb. 14). Die Fluoreszenzsignale werden mit speziellen Mikroskopen detektiert. Wenn die DNA-Sonde bindet, erkennt man ein Fluoreszenzsignal; bei einer Deletion fehlt dieses Signal. Für viele Mikrodeletionssyndrome liegt ein erkennbarer Phänotyp vor. In diesen Fällen kann der Einsatz einer lokusspezifischen Sonde die Diagnose ausschließen oder beweisen. Wir wissen aber heute, dass das phänotypische Spektrum sehr groß sein kann, was eine eindeutige klinische Zuordnung erschwert. In diesen Fällen helfen neue Methoden, wie die vergleichende genomische Hybridisierung (CGH), die auf der DNA-Chip-Technologie beruht, auch weniger charakteristische Phänotypen ätiologisch zu klären. Zur Klärung unterschiedlicher Fragestellungen stehen nicht nur lokusspezifische Sonden, sondern auch Sonden, die das ganz Chromosom oder einzelne Chromosomenarme anfärben („whole chromosome painting“) oder Zentromersonden, zur Verfügung.

Vergleichende Genomhybridisierung

Die vergleichende Genomhybridisierung („comparative genomic hybridisation“, CGH) wurde zunächst in der Tumorzytogenentik angewendet. Die Array-CGH (Abb. 15) stellt eine neue Technik zum Nachweis kleinster struktureller Chromosomenveränderungen dar, die mit den konventionellen Methoden der Zytogenetik nicht erkannt werden können. Bei dieser Methode werden mit unterschiedlichen Fluoreszenzfarbstoffen markierte DNA-Proben eines Patienten und einer Kontrolle gegen tausende auf einem Trägermaterial immobilisierte DNA-Fragmente (z. B. Oligonukleotide oder BAC-Klone) aus dem Erbgut hybridisiert. Durch Vergleich der Fluoreszenzintensität der Patienten- und Kontrollproben können mit diesem Verfahren je nach Auflösungsvermögen des eingesetzten Arrays Deletionen und Duplikationen von weniger als 100 Kilobasen erkannt werden. Insbesondere für die Abklärung bei Kindern mit einer Entwicklungsverzögerung ist die Array-CGH heute die Methode der Wahl und hat zu einer Verbesserung der Ursachenklärung von 15–20 % geführt.
Eine Array-CGH sollte bei u. a. bei Patienten mit einer Intelligenzminderung, multiplen angeborenen Fehlbildungen oder Patienten mit Dysmorphien angewandt werden.

Ausgewählte Beispiele: alte und neue Mikrodeletionssyndrome

Unter einem Mikrodeletionssyndrom versteht man ein Fehlbildungs-Retardierungssyndrom, das auf einer kleinen, durch konventionelle Methoden der Zytogenetik nicht erkennbaren Deletion (submikroskopische Deletion) oder Duplikation beruht. Durch die Einführung der Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) konnte nachgewiesen werden, dass eine wachsende Zahl syndromaler Krankheitsbilder auf Mikrodeletionen beruht. Bei den meisten dieser Mikrodeletionssyndrome gehen mehrere Gene in der Deletionsregion verloren, man spricht deswegen auch von „contiguous gene syndromes“.
Mithilfe der Array-CGH ist es gelungen, eine Vielzahl neuer Mikrodeletionssyndrome zu identifizieren, die allerdings nicht immer einen eindeutig klinisch erkennbaren Phänotyp aufweisen. Außerdem können mithilfe diese Technik, insbesondere beim Einsatz hochauflösender Arrays, genetische Veränderungen detektiert werden, deren klinische Relevanz zum jetzigen Zeitpunkt noch unklar ist. In diesen Fällen ist häufig eine anschließende Testung der Eltern hilfreich. Neben Deletionen kommen die analogen Duplikationen vermutlich ähnlich häufig vor. Die klinische Ausprägung ist bei Duplikationen allerdings meist milder. Nicht selten werden insbesondere kleinere Deletionen oder Duplikationen auch bei einem Elternteil oder in geringer Frequenz auch in Kontrollpopulationen gefunden, sodass dann von einer verminderten Penetranz ausgegangen werden muss. Im Folgenden werden beispielhaft einige klassische sowie häufige neu identifizierte Mikrodeletionssyndrome vorgestellt.
Alte Mikrodeletionssyndrome: klinische Beschreibung vor Klärung der genetischen Ätiologie
Mikrodeletion 22q11.2 (DiGeorge-Syndrom, velokardiofaziales Syndrom, Shprintzen-Syndrom, konotrunkales Syndrom, asymmetrisches Schreigesicht)
Die Mikrodeletion 22q11.2 hat eine Inzidenz von ca. 1 auf 4000 Neugeborene und stellt damit eines der häufigsten Mikrodeletionssyndrome beim Menschen dar. Die ätiologische Klärung hat dazu beigetragen, unterschiedliche Krankheitsbilder zusammenzufassen. Das 1965 beschriebene DiGeorge-Syndrom, gekennzeichnet durch einen Hypoparathyreodismus, konotrunkale Herzfehler und Thymushypoplasie mit hoher Letalitätsrate, steht den milderen Phänotypen wie dem Shprintzen-Syndrom (velokardiofaziales-Syndrom) mit Gaumenspalte, Herzfehler und charakteristischer Fazies gegenüber. Die unterschiedlichen Krankheitsbilder, die mit einer Mikrodeletion 22q11 verbunden sind, weisen auf die enorm große klinische Variabilität hin, was besonders bei der genetischen Beratung Probleme verursachen kann.
Klinische Zeichen
In der Neugeborenperiode bestehen häufig Fütterungsprobleme, eine Muskelhypotonie sowie eine Hypokalzämie. Einige Kinder zeigen ein asymmetrisches Schreigesicht. Mehr als zwei Drittel der Patienten weisen einen meist konotrunkalen Herzfehler auf wie Fallot-Tetralogie, unterbrochenen Aortenbogen sowie Ventrikelseptumdefekte. Besonders beim Sphrintzen-Syndrom finden sich Gaumenspalten (mediane und submuköse) und eine velopharyngeale Insuffizienz, die häufig zu einer charakteristischen näselnden Sprache führt. Das DiGeorge-Syndrom geht in der Regel mit einem komplexen Herzfehler sowie einer Thymushyploplasie einher. Faziale Auffälligkeiten wie kleine Lidspalten, ein rechteckiger prominenter Nasenrücken sowie kleine Ohren sind variable Zeichen und nicht bei allen Patienten vorhanden. Häufig besteht ein mäßig ausgeprägter Kleinwuchs. Die meisten Patienten weisen eine Lernbehinderung auf mit einem durchschnittlichen IQ zwischen 70 und 90. Nur ein kleiner Teil der Patienten weist eine geistige Behinderung auf. Auch psychiatrische Erkrankungen wie eine Schizophrenie und bipolare Störungen scheinen mit einer Mikrodeletion 22q11.2 assoziiert zu sein. Es besteht eine intrafamiliäre und interfamiliäre Variabilität.
Diagnostik und Therapie
Der Nachweis der etwa 1,5–3 Mb großen Deletion erfolgt mit lokusspezifischen Sonden (TUPLE1, N25) der chromosomalen Region 22q11. In der Zwischenzeit wird die Deletion häufig auch mittels CGH-Array entdeckt. In der kritischen Region liegen ca. 25–30 Gene. Das in der Deletionsregion liegende TBX1-Gen scheint ätiologisch besonders für Herzfehler verantwortlich zu sein. Die Detektionsrate ist mit ca. 95 % hoch. Eine gute Genotyp-Phänotyp-Korrelation zwischen Deletionsgröße und Phänotyp existiert nicht. Die Deletion 22q11 entsteht in der Regel de novo, in etwa 10 % der Fälle zeigt sich eine Familiarität. Immer sollte eine molekularzytogenetische Untersuchung der Eltern erfolgen. Die Therapie ist symptomatisch, ggf. operative Korrektur des Herzfehlers.
Williams-Beuren-Syndrom (WBS)
Die Erstbeschreibung des Williams-Beuren-Syndroms erfolgte 1961 durch Williams und 1962 durch den Göttinger Kinderkardiologen Beuren. Die Häufigkeit beträgt ca. 1 auf 20.000/50.000 Neugeborene.
Klinische Auffälligkeiten
Im Neugeborenenalter zeigen sich ein reduziertes Geburtsgewicht, eine intermittierende Hyperkalzämie und Ernährungsstörungen. Schon im Kindesalter fallen charakteristische Gesichtsdysmorphien (hypoplastisches Mittelgesicht mit kurzer, breiter Nasenspitze und antevertierten Narinen, periorbitale Schwellungen, Strabismus, füllige Lippen, kleine weit auseinanderstehende Zähne und etwas „hängende“ Wangen) auf, die eine Blickdiagnose erlauben. Bei vielen Kindern fällt eine besondere Struktur der Iris auf (Iris stellata). Die supravalvuläre Aortenstenose sowie eine periphere Pulmonalstenose sind häufige Herzfehler. Es besteht eine generalisierte Bindegewebsschwäche, die sich in Hernien, überstreckbaren Gelenken und weicher Haut äußert. Es bestehen ein Kleinwuchs sowie eine Mikrozephalie. Patienten mit Williams-Beuren-Syndrom fallen besonders durch ihren Verhaltensphänotyp auf. Sie sind freundlich, zugewandt, extrovertiert, aber distanzlos und verfügen über eine ausdrucksstarke Sprache. Allerdings ist das Gesprochene oft inhaltslos und inadäquat („Partytalker“). Die guten verbalen Fähigkeiten lassen den Grad der tatsächlich vorhandenen Retardierung eher geringer erscheinen. Es ist von IQ-Werten zwischen 40 und 80 auszugehen.
Diagnostik und Therapie
Beim Williams-Beuren-Syndrom besteht eine etwa 1,5 Mb große Mikrodeletion 7q11.23, die mithilfe einer FISH (lokusspezifische Sonde) oder mittels CGH-Array bei ca. 95 % der Patienten nachgewiesen werden kann. Die Deletion erfolgt meistens de novo, bei einem Teil der Eltern findet sich jedoch eine Inversion der Region 7q11.2. In dieser Region konnten bisher mehr als 20 Gene identifiziert werden, darunter das Elastingen (ELN) und Lim-Kinase-1-Gen (LMK1). Mutationen im ELN-Gen können auch zu einer isolierten supravalvulären Aortenstenose führen. Das LMK1-Gen scheint eine Bedeutung für das räumliche Sehen zu haben. Die Therapie ist symptomatisch, ggf. Behandlung der Hyperkalzämie und operative Therapie des Herzfehlers sowie symptomatische Maßnahmen.
Neue Mikrodeletionssyndrome
Mikrodeletionssyndrom 16p11.2
Die Prävalenz in der allgemeinen Bevölkerung wird auf mindestens 1:5000 und unter mental retardierten Patienten auf ca. 0,5 % geschätzt.
Klinische Zeichen
Im Vordergrund steht meist eine sprachbetonte Entwicklungsverzögerung. Die phänotypische Ausprägung kann allerdings sehr variabel sein. Die Intelligenz kann bei Trägern dieser Mikrodeletion vom Normalbereich bis zu einer leichten geistigen Behinderung reichen. Viele Patienten haben autistische Verhaltensweisen, einige neigen zu Übergewicht. Spezifische faziale Dysmorphiezeichen, die die Diagnose erleichtern würden, sind nicht vorhanden.
Diagnostik und Therapie
Die meisten Patienten haben eine ca. 550 kb große De-novo-Deletion. Es sind aber auch Fälle von Vererbung der Deletion von einem gesunden Elternteil auf ein Kind beschrieben. Ebenfalls nicht selten ist die reziproke Mikroduplikation dieser Region. Die klinische Signifikanz der Mikroduplikation 16p11.2 ist bislang umstritten, da diese deutlich häufiger als die Deletion auch in der Normalbevölkerung gefunden wird. Die Therapie ist symptomatisch.
Mikrodeletionssyndrom 17q21.31
Die Prävalenz wird auf ca. 1:16.000 in der Bevölkerung geschätzt.
Klinische Zeichen
Die Patienten haben eine schwere muskuläre Hypotonie verbunden mit einer deutlichen motorischen Entwicklungsverzögerung. Freies Laufen ist meistens erst nach dem dritten Lebensjahr möglich. Die fazialen Dysmorphien (hypotones Gesicht mit Ptosis, große, tief angesetzte Ohren, rechteckige kolbenförmige Nase und ein langes Kinn) sind bei allen Patienten vorhanden, nicht immer aber so spezifisch, dass sie eine Blickdiagnose ermöglichen. Weitere Symptome können eine Epilepsie, renale und urologische Auffälligkeiten sowie ein Kryptorchismus sein. Interessant ist, dass bei vielen bisher beschriebenen Patienten mit dieser Deletion differenzialdiagnostisch an ein Angelman-Syndrom gedacht wurde. Im Alter scheint das Gesicht länger und spezifischer zu werden.
Diagnostik und Therapie
Die Deletion kann mittels der CGH-Array-Analyse oder bei spezifischem Verdacht mittels FISH nachgewiesen werden. Die Deletion tritt in aller Regel de novo auf. In der Deletionsregion befindet sich bei 20 % der Europäer ein Inversionspolymorphismus, der fast immer bei einem der Eltern vorhanden ist. Die Therapie ist symptomatisch.

Molekulargenetische Diagnostik

Um genetische Fragestellungen zu beantworten, muss Erbmaterial (DNA) der Patienten zur Verfügung stehen, welches in der Regel aus Lymphozyten des Blutes isoliert wird. Im Rahmen pränataler Untersuchungen werden kindliche Zellen aus Chorionzotten oder aus Fruchtwasser zur Präparation genomischer DNA verwendet.

Polymerasekettenreaktion (PCR)

Die PCR, 1983 von K. Mullis beschrieben, erlaubt es, in vitro von definierten Zielsequenzen (DNA-Abschnitten) eine Vielzahl identischer Kopien anzufertigen. Eine gezielte Amplifikation der zu untersuchenden Sequenz wird durch Einsatz chemisch synthetisierter sequenzspezifischer Oligonukleotide (Primer) erreicht, die an Einzelstrang-DNA binden. Diese Primer sind den Randbereichen der Zielsequenz komplementär und flankieren einen Abschnitt, der durch eine thermostabile Polymerase dupliziert wird. Auf diese Weise wird ein kurzer Abschnitt der DNA von beiden Seiten synthetisiert. Durch diese „Kettenreaktion“ ist es möglich, die DNA-Menge in kurzer Zeit zu vermehren. Die PCR ist Grundlage von vielen molekulargenetischen Untersuchungsmethoden.

Sanger-Sequenzierung

Ein Mutationsnachweis bei monogenen Erkrankungen erfolgt in der Regel durch eine DNA-Sequenzierung nach Sanger nach der sog. Kettenabbruchmethode. Heute wird die Technik durch Methoden der Hochdurchsatzsequenzierung zunehmend abgelöst. Bei der Sanger-Sequenzierung wird die doppelsträngige DNA zunächst denaturiert, anschließend bindet am 3’-Ende des zu sequenzierenden Abschnitts ein Primer. Von diesem ausgehend wird durch eine DNA-Polymerase ein zum DNA-Abschnitt komplementärer Strang synthetisiert. Der Reaktionsansatz enthält neben 2’-Desoyxribonukleosidtriphosphate (dNTPs) zusätzlich mit verschiedenen Fluorophoren markierte 2’,3’-Didesoxyribonukleosidtriphosphate (ddNTPs) aller vier Nukleotide. Beim (zufälligen) Einbau eines ddNTP kommt es zum Kettenabbruch, da die freie 3’-OH-Gruppe des Zuckers fehlt. Es entstehen unterschiedlich lange DNA-Fragmente, die üblicherweise mittels Kapillargelelektrophorese aufgetrennt werden. Ein Laser im Sequenziergerät regt die markierten ddNTPs zur Fluoreszenz an und liest, je nach Reihenfolge der Farbsignale am Detektor, die entsprechende Basensequenz, die als farbige Peaks dargestellt wird des untersuchten DNA-Abschnittes ab.

Next Generation Sequencing (NGS)

Grundlage einer humangenetischen Beratung ist eine exakte Diagnose. In den letzten 30 Jahren ist es gelungen, zahlreiche Krankheitsgene zu identifizieren. Lange Zeit war eine Karyotypisierung die einzige Möglichkeit, eine ätiologische Klärung herbeizuführen. Molekularzytogenetische Methoden (FISH, CGH-Array) haben für eine Vielzahl von Fragestellungen eine ursächliche Klärung ermöglicht. Homozygotie-Mapping und Kopplungsanalysen stellen klassische, aber aufwändige Verfahren dar, die erlauben, neue Krankheitsgene zu identifizieren. Mitte der 1970er-Jahre wurde es möglich, durch die Sequenzierungsmethode nach Sanger Gensequenzen und schließlich krankheitsverursachende Mutationen in den kodierenden Bereichen (Exone) des Gens zu identifizieren. Die DNA-Sequenzierung von Genen stellte bis vor kurzem den Goldstandard in der humangenetischen Diagnostik dar. Allerdings sind diese Analysen in der Abhängigkeit von der Größe des Gens (Zahl der Exone) sehr kosten- und zeitintensiv. Ein weiterer Nachteil ergibt sich bei der Diagnostik von Krankheiten für die mehrere Gene (z. B. Hörstörungen oder Epilepsien) ursächlich bekannt sind.
Seit ungefähr zehn Jahren wird an der Verbesserung der DNA-Sequenziermethoden gearbeitet. Kaum jemand hätte erwartet, dass die Etablierung des „next generation sequencings“ (NGS) auch als „massively parallel seqencing“ (MPS) bezeichnet, so schnell Einzug in die Praxis genommen hätte. Diese Hochdurchsatzsequenzierung beinhaltet viele verschiedene Sequenziermethoden. Während die Sanger-Sequenzierung sehr zeitaufwändig ist, ermöglicht das NGS, ein komplettes Genom innerhalb einer Woche zu sequenzieren. Dies ist möglich durch paralleles Sequenzieren von Millionen von unterschiedlichen DNA-Fragmenten. Hierdurch wird erreicht, dass jeder Bereich des Genoms mehrfach parallel sequenziert wird. Nach Abschluss der Sequenzierung werden Millionen von sog. „Reads“ dann mit einem Referenzgenom verglichen und bioinformatisch ausgewertet.
Die Sequenzierung des gesamten Genoms („whole genome sequencing“) ist möglich, jedoch für die Praxis bisher nicht routinemäßig einzusetzen, da die Vielzahl der gefundenen Sequenzvarianten ein erhebliches Problem bei der Interpretation der Daten mit sich zieht. In der Forschung konnte dieser Ansatz jedoch schon in vielen Fällen genutzt werden, um das krankheitsverursachende Gen zu identifizieren. So gelang es der Arbeitsgruppe Ngo et al. im Jahr 2010 das Gen (DHODH-Gen) für das Miller-Syndrom zu identifizieren. Derselben Arbeitsgruppe gelang es dann im gleichen Jahr, das Gen (MLL2-Gen) für das Kabuki-Syndrom zu identifizieren. In der Zwischenzeit werden wöchentlich neue Gene für monogene Krankheitsbilder beschrieben.
Für die diagnostische Anwendung des NGS hat sich das „target enrichment“ durchgesetzt. Hierbei wird die Anreicherung und Vervielfältigung der Patienten-DNA auf diejenigen Gene reduziert, die aufgrund der klinischen Diagnose eine Bedeutung haben. Hierzu werden Diagnostikpanels genutzt, die eine Untersuchung von zahlreichen Genen gleichzeitig ermöglichen. Eine solche Erkrankungsgruppe stellen beispielsweise die Netzhauterkrankungen (Retinitis pigmentosa) dar, die zu einer frühen Blindheit führen.
In der Zwischenzeit stehen für das NGS zahlreiche unterschiedliche Technologieplattformen zur Verfügung. Diese Systeme unterscheiden sich durch die zugrunde liegende Technologie, die Durchsatzmenge der Basen und die Länge der sequenzierten Fragmente und werden dementsprechend für verschiedene Fragestellungen genutzt.

Epigenetik und genomisches Imprinting

Genomisches Imprinting bezeichnet einen epigenetischen Prozess, bei dem bestimmte Chromosomenabschnitte während der weiblichen und männlichen Keimzellbildung spezifisch markiert werden. Als Folge hieraus sind in somatischen Zellen entweder nur das väterliche oder mütterliche Allel eines Gens aktiv. Hierdurch unterscheiden sich das mütterliche und väterliche Chromosom funktionell. Epigenetische Phänomene werden über Veränderungen der Genregulation und Genexpression reguliert. Eine zentrale Rolle spielt die elternspezifische Methylierung bestimmter CpG-Dinukleotide. Durch eine ausgeprägte Methylierung wird das Gen in seiner Expression unterdrückt (stumm geschaltet). Die differenzierte Genregulation wird auch durch die Histonmodifikation ermöglicht. Der Grad der Kondensierung der DNA wird durch eine Modifikation an Histonproteinen verursacht. Die Genexpression wird auch durch die sog. RNA-Interferenz beeinflusst, die sowohl auf Chromatinebene, posttranskriptionell oder translational wirksam wird.
Beim Menschen beruht die X-Inaktivierung auf epigenetischen Phänomenen. In der Zwischenzeit kennt man eine Reihe von Krankheitsbildern, die sich auf eine Störung des Imprintings zurückführen lassen. Mikrodeletionen, uniparentale Disomien und Imprintingfehler führen zum vollständigen Funktionsverlust geprägter Gene und dadurch zu charakteristischen Krankheitsbildern. Bei der uniparentalen Disomie (UPD) stammen beide Homologe eines Chromosoms von einem Elternteil. Man unterscheidet zwischen einer paternalen uniparentalen und einer maternalen uniparentalen Disomie (Abb. 16). Falls die UPD Chromosomen betrifft, bei denen Abschnitte dem genomischen Imprinting unterliegen, kann dies dazu führen, dass kein aktives Allel vorliegt und damit eine funktionelle Deletion besteht. Im Wesentlichen werden für die Entstehung einer UPD zwei Mechanismen diskutiert. Dies ist zum einen die Korrektur einer Trisomie („trisomy rescue“) und zum anderen eine Korrektur einer Monosomie („monosomy rescue“). Der Fall, dass eine disome Keimzelle mit einer für das gleiche Chromosom nullisomen Keimzelle verschmilzt, ist äußerst selten. Bei einer Trisomie ist das überzählige Chromosom meist mütterlicher Herkunft. Beim „trisomy rescue“ geht im Sinne eines spontanen Reparaturmechanismus das überzählige Chromosom verloren. In etwa einem Drittel der Fälle geht das väterliche Chromosom verloren, sodass eine maternale uniparentale Disomie entsteht. Auch bei einer Monosomie kann es durch einen spontanen Reparaturmechanismus (Duplikation des Chromosoms) zu einer maternalen oder paternalen Disomie kommen.
Man geht davon aus, dass im menschlichen Genom etwa 100 Gene dem genetischen Imprinting unterliegen. Klassische Beispiele für das Phänomen des genomischen Imprintings sind das Prader-Willi- und das Angelman-Syndrom sowie das Beckwith-Wiedemann-Syndrom oder das Silver-Russell-Syndrom.
Prader-Willi- und Angelman-Syndrom
Diese beiden Krankheitsbilder, die phänotypisch ganz unterschiedlich sind, illustrieren beispielhaft die Bedeutung der genomischen Prägung (Imprinting) beim Menschen. Gemeinsame Ursache ist der funktionelle Verlust von Genen der Region 15q11–q13, die eine unterschiedliche elternspezifische Prägung aufweisen und dem genomischen Imprinting unterliegen.
Gene für beide Krankheitsbilder liegen in der Region 15q11–q13 und sind aufgrund einer unterschiedlichen Methylierung aktiv oder stumm. Die Untersuchung von Imprintingfehlern beim Prader-Willi- und Angelman-Syndrom hat zur Identifikation eines Imprintingcenters (IC), oder auch Imprintingkontrollregion genannt, geführt, das die Prägung der Gene auf diesem Abschnitt reguliert.
Prader-Willi-Syndrom (PWS)
Klinisches Bild
Die Inzidenz des Prader-Willi-Syndroms liegt bei 1 auf 10.000. Das klinische Bild kann in vier Phasen unterteilt werden:
Fetale und neonatale Phase. Kinder mit Prader-Willi-Syndrom haben meist ein niedriges Geburtsgewicht und werden aus Beckenendlage entbunden. Leitsymptom ist eine ausgeprägte muskuläre Hypotonie, die sich auch schon pränatal durch reduzierte Kindsbewegungen bemerkbar macht. Zusätzlich bestehen im Neugeborenen- und frühen Säuglingsalter ausgeprägte Fütterungsprobleme, die häufig eine Sondenernährung notwendig machen. Das Trinkverhalten bessert sich meist gegen Ende des ersten Lebensjahres. Muskelhypotonie und Fütterungsprobleme sind bei allen Patienten mit Prader-Willi-Syndrom vorhanden. Bei Jungen bestehen ein Hodenhochstand sowie eine Skrotalhypoplasie, während sich bei Mädchen hypoplastische kleine Labien finden.
Kleinkindphase. Zwischen dem 1. und 5. Lebensjahr ändert sich das Essverhalten. Während das erste Lebensjahr durch Fütterungsprobleme gekennzeichnet war, entwickelt sich jetzt ein unstillbares Sättigungsgefühl. Dies ist mit einer übermäßigen Gewichtsentwicklung und dem Beginn einer Adipositas verbunden. Zusätzlich zeigt sich eine statomotorische und geistige Entwicklungsverzögerung. Die Sprachentwicklung ist bei den meisten Kindern verzögert, zusätzlich zeigen sich Artikulationsprobleme. Bei vielen Kindern wird die Fazies typischer (schmale Stirn mit bitemporalen Einziehungen, mandelförmige Augen, hochgezogene Oberlippe). Auffällig ist ein zäher Speichel. Weicher Zahnschmelz und die erhöhte Viskosität des Speichels begünstigen die Entstehung von Karies.
Kindes- und Jugendalter. Die meisten Kinder mit Prader-Willi-Syndrom weisen in dieser Phase eine Adipositas per magna auf. Zusätzlich bestehen ein Kleinwuchs sowie eine Akromikrie (kleine Hände und Füße). Die Pubertätsentwicklung ist aufgrund eines hypogonadotropen Hypogonadismus verzögert und unvollständig. In diesem Alter treten auch verstärkt Verhaltensprobleme wie Stimmungsschwankungen, aggressive Tendenzen, depressive Verstimmung und Hautkratzen („skin picking“) auf. Die Intelligenzentwicklung kann von niedrig normal bis geistig behindert reichen. Allerdings ist der Besuch einer Regelschule auch für Kinder mit nahezu normaler Intelligenz aufgrund des besonderen Verhaltensphänotyps meist nicht möglich.
Erwachsenenalter. Unbehandelte Patienten sind kleinwüchsig (145–160 cm), haben eine Adipositas per magna und kleine Hände und Füße. Der unstillbare Appetit macht das Zusammenleben schwierig. Küche und Schränke müssen abgeschlossen werden, um unkontrolliertes Essen zu verhindern. Das fehlende Sättigungsgefühl führt auch dazu, das Geld entwendet wird, um sich dafür Nahrung zu kaufen. Mangelndes Selbstwertgefühl und Verhaltensprobleme bis hin zur Psychose kennzeichnen diese Phase. Nur sehr wenige Patienten haben eine abgeschlossene Berufsausbildung, meistens erfolgte eine Tätigkeit in einer betreuten Werkstatt. Zunehmend sind in Deutschland betreute Wohngruppen für Erwachsene mit Prader-Willi-Syndrom entstanden.
Therapie
Bis heute gibt keine ätiologische Therapie, die das mangelnde Sättigungsgefühl beeinflussen kann. Somit ist die konsequente Durchführung einer Diät, die etwa zwei Drittel der altersüblichen Kalorienmenge beinhalten sollte, lebenslänglich notwendig. Seit einigen Jahren werden die Kosten für eine Therapie mit Wachstumshormon übernommen. Internationale Studien konnten zeigen, dass durch diese Behandlung nicht nur die Endgröße verbessert wird, sondern dass aufgrund der anabolen Wirkung auch eine Umwandlung von Fett- in Muskelgewebe erfolgt, was bei vielen Patienten eine Verbesserung der Körperproportionen bewirkt. Dieser positive Effekt ist allerdings nur zu erreichen, wenn auch weiterhin eine konsequente Diät eingehalten wird. Insgesamt sind in allen Phasen symptomatische Fördermaßnahmen wie z. B. Krankengymnastik, Ergotherapie und Logopädie notwendig.
Genetik
Bei etwa 70 % der Patienten mit Prader-Willi-Syndrom findet sich eine ca. 4 Mb große interstitielle Deletion am paternalen Chromosom 15 (15q11–q13), die überwiegend de novo entsteht. Bei einer paternalen Deletion 15q11–q13 geht die einzige aktive Kopie der PWS-Gene verloren, was zu einem vollständigen Funktionsverlust dieser Gene führt. Fast alle Patienten (ca. 25 %), die keine Deletion aufweisen, haben eine maternale uniparentale Disomie 15, das bedeutet, dass beide Chromosomen 15 von der Mutter vererbt werden. In diesem Fall sind zwar zwei Kopien der PWS-Gene vorhanden, aber beide Gene sind stumm, sodass ein vollständiger Funktionsverlust dieser Gene resultiert. In den letzten Jahre wurde eine kleine Gruppe von Patienten mit Prader-Willi-Syndrom identifiziert (1–4 %), die weder eine Deletion 15q11–q13 noch eine maternale uniparentale Disomie 15 aufweisen, beide Chromosomen 15 jedoch eine mütterliche Prägung besitzen (Imprintingfehler). Als Folge hiervon, sind die PWS-Gene auf dem väterlichen Chromosom stumm. Es ergibt sich somit ein Effekt, ähnlich wie bei einer uniparentalen Disomie. Man spricht auch von einer funktionellen Disomie. Bei einem Teil der Patienten mit Imprintingfehler findet sich eine Mikrodeletion (IC-Mutation).
Angelman-Syndrom (AS)
Das Angelman-Syndrom wurde erstmals 1965 von dem britischen Kinderneurologen Harry Angelman beschrieben und hat eine Prävalenz von 1/12.000–1/20.000. Wie beim Prader-Willi-Syndrom ist ursächlich ein funktioneller Verlust von Genen der chromosomalen Region 15q11–q13 vorhanden.
Phänotypische Auffälligkeiten
Im Neugeborenenalter ist die Diagnosestellung meist schwierig. Ein niedriges Geburtsgewicht und eine nur mäßig ausgeprägte Hypotonie sowie eine Mikrozephalie sind eher unspezifische Marker. Bei der neurologischen Untersuchung in diesem Alter fällt jedoch bei einigen Kindern eine vermehrte Zittrigkeit (Rumpfhypotonie) auf. EEG-Veränderungen im Sinne von großamplitudigen „slow waves“ und frontal betonten „spikes“ und „sharp waves“ sind auch in diesem Alter schon vorhanden und hinweisend für die Diagnose. Der häufigste Zeitpunkt der Diagnosestellung ist das späte Kleinkindalter. Eine deutlich verzögerte statomotorische und geistige Entwicklung, eine Ataxie, Krampfanfälle und besonders die ausbleibende Sprachentwicklung im Zusammenhang mit den typischen Veränderungen im EEG machen ein Angelman-Syndrom wahrscheinlich. Bei etwa 80 % der Patienten mit Angelman-Syndrom treten Krampfanfälle auf, die häufig schwer therapierbar sind. Allerdings nimmt die Häufigkeit und Intensität der Anfälle mit steigendem Lebensalter ab. Nicht alle Patienten lernen laufen. Auch aufgrund der schweren Ataxie ist meist ein Rollstuhl notwendig. Die Patienten zeigen unmotiviertes Lachen, was den Erstbeschreiber, den englischen Pädiater Harry Angelman im Zusammenhang mit der Ataxie von einem „happy puppet syndrome“ sprechen ließ. Belastend für die Familie sind die Schlafprobleme. Die fazialen Merkmale beim Angelman-Syndrom sind nicht spezifisch, bei Erwachsenen zeigt sich ein zunehmend längliches Gesicht mit Progenie (prominentes Kinn). Die Patienten weisen im Gegensatz zum Prader-Willi-Syndrom fast immer eine schwere geistige Behinderung auf.
Genetik
Wie beim Prader-Willi-Syndrom findet sich bei der Mehrzahl (70 %) der Patienten eine Deletion15q11–q13, in diesem Fall betrifft die Deletion aber das mütterliche Chromosom 15. Eine paternale uniparentale Disomie 15 liegt nur bei 1–2 % der Patienten mit Angelman-Syndrom vor, Imprintingfehler treten mit einer Häufigkeit von etwa 5 % auf. Ungefähr 20 % der Patienten mit Angelman-Syndrom haben weder eine Deletion, noch eine uniparentale Disomie, noch einen Imprintingfehler, sondern eine Mutation im in dem für Angelman-Syndrom ursächlichen UBE3A-Gen, das in Gehirnzellen dem Imprinting unterliegt. Bei etwa 20 % der Patienten mit den klinischen Zeichen eines Angelman-Syndroms lässt sich die molekulare Ätiologie nicht klären. Hier ist aber auch zu bedenken, dass möglicherweise andere Krankheitsbilder vorliegen, die ein ähnliches klinisches Bild aufweisen.
Therapie
Behandlung der Schlafstörungen mit Melatonin, antikonvulsive Therapie der Krampfanfälle, bei ausgeprägter Hyperaktivität kann eine Ritalintherapie erfolgreich sein.
Diagnostik von Prader-Willi-Syndrom und Angelman-Syndrom
In der Region 15q11–q13 konnte eine elternspezifische Methylierung nachgewiesen werden, wobei das maternale Allel methyliert und das paternale Allel unmethyliert ist. Diese Unterschiede lassen sich mithilfe methylierungssensitiver Restriktionsenzyme oder nach Bisulfitbehandlung nachweisen. Da bei einer Deletion, einer uniparentalen Disomie oder einem Imprintingfehler entweder das maternale oder das paternale Methylierungsmuster fehlt, lassen sich diese Aberrationen mithilfe einer Methylierungsanalyse erkennen. Heute wird die Diagnostik mithilfe einer methylierungsspezifischen PCR (Abb. 17) oder einer spezifischen MLPA („multiplex ligation-dependent probe amplification“) durchgeführt. Mit diesen Testverfahren ist es möglich, ein Prader-Willi-Syndrom sicher auszuschließen oder zu beweisen, bei Angelman-Syndrom werden nur die Patienten, die eine Punktmutation im UBE3A-Gen aufweisen, nicht erfasst. Bei auffälligem Methylierungstest sollte dann durch weitere Untersuchungen die molekulare Ätiologie geklärt werden, die Voraussetzung für die genetische Beratung und die Angabe des Wiederholungsrisikos ist. Deletionen lassen sich durch molekularzytogenetische Untersuchungen (FISH mit lokusspezifischen Sonden) erkennen. Falls keine Deletion vorhanden ist, lassen Mikrosatellitenuntersuchungen auf Familienebene (Patient und Eltern) zwischen einer uniparentalen Disomie und einem Imprintingfehler unterscheiden. Bei nachgewiesenem Imprintingdefekt muss nach einer IC-Deletion geschaut werden, da in diesen Fällen von einem erhöhten Wiederholungsrisiko (50 %) auszugehen ist.
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Internetadressen
Gesetz über genetische Untersuchungen bei Menschen. http://​www.​gesetze-im-internet.​de/​gendg/​