Symptome sowie Schwellenwerte für Wahrnehmung und hormonelle Gegenregulation
Symptome einer leichten
Hypoglykämie sind Unleidlichkeit, Unsicherheit, Schweißausbrüche, erhöhte Herzfrequenz, Hautblässe,
Gähnen oder Schwindelgefühl. Bei weiterer Zunahme der Hypoglykämie wirken die Kinder verwirrt, haben Koordinations- und Kooperationsprobleme und ihre Sprache wird undeutlich. Symptome einer schweren Hypoglykämie sind Bewusstlosigkeit und Krampfanfälle.
Die Unterzuckerungssymptome lassen sich einteilen in autonome oder neurogene Symptome, d. h. sympathisch-adrenerge, sympathisch-cholinerge und parasympathische Symptome sowie in neuroglykopenische Symptome. Die hormonelle Gegenregulation durch
Adrenalin,
Glukagon,
Kortisol und
Wachstumshormon beginnt bei einem Blutzuckerwert von ca. 70 mg/dl. Die autonomen Unterzuckerungssymptome treten bei Blutzuckerwerten unter ca. 60 mg/dl auf, die neuroglykopenischen Symptome erst unter ca. 50 mg/dl. Kognitive Einbußen lassen sich unter einem Blutzuckerwert von 49 mg/dl feststellen (Tab.
2).
Tab. 2
Blutzuckergrenzen als Auslöser für Hormonanstiege und Symptome bei Jugendlichen mit
Typ-1-Diabetes mellitus. (Nach Schwartz et al.
1987 und Mitrakou et al.
1991)
Hormone | Adrenalin | <69 ± 2 |
Glukagon | <68 ± 2 |
Kortisol | <65 ± 2 |
Wachstumshormon | <63 ± 2 |
Symptome | Autonom/neurogen | <58 ± 2 |
Neuroglykopenisch | <51 ± 2 |
Kognitives Leistungsdefizit | <49 ± 2 |
Als Eselsbrücke der Hypoglykämiephysiologie mag für fallende Blutzuckerwerte gelten: „erst Hormone, dann Symptome“.
Während kontrollierter insulininduzierter
Hypoglykämien mit einem minimalen Blutzuckerwert von 45 mg/dl wurden die Erstsymptome der Unterzuckerung von jugendlichen Freiwilligen mit
Typ-1-Diabetes anhand eines Scores für autonome bzw. neuroglykopenische
Symptome durch die begleitenden Diabetologen quantifiziert (Schwab et al.
1997). Dabei hatten 65,2 % der Jugendlichen keine autonome, sondern eine neuroglykopenische oder keine Erstsymptomatik. Unter Berücksichtigung aller Unterzuckerungssymptome traten die neuroglykopenischen Symptome Verlangsamung bei 75 % und Müdigkeit bei 60 % am häufigsten auf. Erst dann folgten die autonomen Unterzuckerungsanzeichen Schwitzen, Tachykardie, Zittern und Blässe.
Die Auswahl dieser 23 Jugendlichen mit
Diabetes war nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung junger Diabetiker, dennoch ist in einer Gruppe gut eingestellter junger Menschen mit Diabetes damit zu rechnen, dass viele ihre autonomen Frühwarnsymptome der
Hypoglykämie nicht bemerken.
Ursachen für Unterzuckerungen, hypoglykämieassoziierte autonome Neuropathie
Die meisten leichten Unterzuckerungen kommen zustande, weil das Gleichgewicht zwischen gespritztem
Insulin und aufgenommenen Kohlenhydraten gestört war. Entweder nahmen die Patienten zu wenige Kohlenhydrate zu sich oder sie hatten zu viel Insulin gespritzt oder das Insulin wurde zu rasch resorbiert (z. B. in der Sauna). Auch ein erhöhter Kalorienverbrauch infolge sportlicher Betätigung (mehrstündiges Skifahren, Wandern) kann bis zu 10 Stunden nach dem Sport noch zu niedrigen Blutzuckerwerten führen. Das verbrauchte
Glykogen aus den Muskeln und der Leber muss wieder aufgebaut werden. Erschwerend ist, dass der diabetische Patient sein s.c.-gespritztes Insulin unabhängig von der Unterzuckerung immer weiter resorbiert. Die Insulinspiegel können nicht wie beim Gesunden bei niedrigen Blutzuckerwerten herunterreguliert werden.
Darüber hinaus gibt es Faktoren, die das Zustandekommen von wiederholten Unterzuckerungen erleichtern, und eine Unterzuckerung bahnt den Weg für weitere Unterzuckerungen (s. Übersicht).
Untersuchungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass insbesondere das junge Kind jenseits der Remissionsphase mit einem Migrationshintergrund besonders gefährdet für Unterzuckerungen ist.
Therapeutisch muss in diesem Zustand versucht werden, wiederkehrende Unterzuckerungen durch drastische Absenkung des Insulinbedarfs auch unter Inkaufnahme etwas erhöhter Blutzuckerwerte zu unterbrechen. Gelingt es, jegliche Unterzuckerungen zu vermeiden, ist die hypoglykämieassoziierte autonome Neuropathie als funktionelle Störung prinzipiell reversibel.
Hiervon zu differenzieren ist die
diabetische Neuropathie, die Spätkomplikation des erwachsenen Patienten mit einem
Diabetes mellitus, die irreversibel ist und als schwer therapierbar gilt.
Das Gehirn kann
Glukose nicht speichern. Daher nimmt es eine hierarchische Position im Organismus ein und regelt über den Neokortex bzw. das limbische, hypothalamisch-hypophysäre-adrenale System die Energieverteilung und die Energieaufnahme im Körper, um nicht selbst von der Glukosezufuhr abgehängt zu werden (Peters et al.
2004). Wiederholte Unterzuckerungen schwächen die hormonelle Gegenregulation zunehmend ab und die Allokation der Energiezufuhr ist inadäquat. Möglicherweise transportieren
Glukosetransporter mehr Glukose in das Gehirn, um es vor einer Unterzuckerung zu schützen. Dieser Reaktionsmechanismus würde auch erklären, warum wiederholte Unterzuckerungen eine verspätete hormonelle Gegenregulation auslösen. Allerdings wird die Zeit zwischen dem Bemerken der Unterzuckerung und dem Ergreifen von Gegenmaßnahmen immer kürzer.
Bereits länger bekannt ist, dass die Dichte von β
2-Rezeptoren und die Stimulierbarkeit von zyklischem Adenosinmonophosphat (cAMP) in peripheren Blutzellen bei Patienten mit
Typ-1-Diabetes gegenüber Normalpersonen vermindert ist. Obwohl aus ethischen Gründen diese Untersuchungen nur am Modell peripherer Blutzellen durchgeführt wurden, sind folgende Ergebnisse interessant: Erwachsene Diabetespatienten mit vielen anamnestischen Unterzuckerungen und fehlenden autonomen Unterzuckerungssymptomen wiesen sowohl einen verminderten Anstieg von
Adrenalin in der Unterzuckerung als auch eine verminderte In-vitro-Stimulation von cAMP mit
Isoproterenol in
Lymphozyten auf. Offensichtlich kommt es bei relevanten
Hypoglykämien unter 50 mg/dl zu rezidivierenden Anstiegen von Adrenalin im Blut, die zu einer Desensibilisierung der sympathisch-adrenergen Signalübertragung auf Hormon- und Rezeptorebene (infolge einer Downregulation von β
2-Rezeptoren) führen (Schwab et al.
2004). Gleiche Ergebnisse konnten auch bei Kindern mit Typ-1-Diabetes beobachtet werden.
Nächtliche Unterzuckerungen
Nächtliche Unterzuckerungen treten in 25–58 % der untersuchten Nächte auf und sind zumeist prolongiert mit einer Dauer von 2–4 Stunden.
Daher werden keine Vorkehrungen getroffen, um weitere Unterzuckerungen in den Folgenächten zu vermeiden. Für viele Autoren sind deshalb die nächtlichen unbemerkten Unterzuckerungen eine Hauptursache für das Zustandekommen einer hypoglykämieassoziierten autonomen Neuropathie. Es konnte auch gezeigt werden, dass Unterzuckerungen in der ersten Nachthälfte zu signifikant höheren gegenregulatorischen Hormonanstiegen führten als
Hypoglykämien in der zweiten Nachthälfte. Dies würde u. a. auch erklären, warum nächtliche Unterzuckerungen in der 2. Nachthälfte häufiger vorkommen als in der ersten. Später, ab 4 Uhr morgens, wird das physiologische
Dawn-Phänomen einer Unterzuckerung entgegenwirken (Jauch-Chara et al.
2007).
Es gibt eine Reihe von Faktoren, die mit einer nächtlichen
Hypoglykämie und Blutglukosewerten <70 mg/dl assoziiert sind. Dazu gehören z. B. der abendliche Glukosespiegel, tagsüber auftretende Unterzuckerungen und körperliche Belastungen, die bei der Wahl der Insulintherapie berücksichtigt werden sollten, um das Risiko nächtlicher Hypoglykämien zu reduzieren.
Folgen rezidivierender Unterzuckerungen
Besonders häufig leiden junge Kinder unter wiederholten Unterzuckerungen. Bei ihnen wurden zunächst kasuistisch, dann in Querschnittsuntersuchungen und schließlich auch prospektiv (Rovet et al.
1999) neurokognitive Defizite und EEG-Veränderungen sowie transiente und permanente neurologische Störungen nach schweren
Hypoglykämien beobachtet. Ferguson et al. (
2005) zeigten bei 71 Patienten (26 mit sehr früher Diabetesmanifestation), dass die frühe Diabetesmanifestation zu einer Minderung des Handlungs-IQ führt und gleichzeitig zu einer mäßigen Hirnatrophie im MRT. Daraus wurde abgeleitet, dass Hypoglykämien während der vulnerablen Entwicklungsphase in den ersten 5 Lebensjahren zu deutlichen Beeinträchtigungen kognitiver Funktionen führen können.
2007 erschienen die Ergebnisse der „Diabetes Control and Complications Trial/Epidemiology of
Diabetes Interventions and Complications Study“ (DCCT-Studie
2007), die mit wenigen Ausnahmen keine signifikanten Langzeiteffekte auf die Kognition weder infolge von Hyper- noch von
Hypoglykämien zeigen konnte. Eine langfristige Einschränkung der kognitiven Funktionen als Folge von häufigeren Unterzuckerungen wurde während einer Nachbeobachtung über 18 Jahre nicht nachgewiesen. Die Verhinderung mikrovaskulärer Folgeerkrankungen durch eine intensivierte konventionelle Therapie (ICT) mit normnaher Blutzuckereinstellung kann im Gegenteil das Risiko neurokognitiver Defizite möglicherweise senken. In Einzelfällen ist bei lang anhaltender, schwerer Hypoglykämie ein bleibendes neurokognitives Defizit jedoch nicht auszuschließen. So wurden in einer prospektiven Studie bei 7- bis 17-jährigen Patienten mit
Typ-1-Diabetes und schweren Hypoglykämien mittels MRT im Verlauf von 2 Jahren Verminderungen der weißen Substanz in den okzipitalen und parietalen Hirnregionen gefunden, die bei diabetischen Studienteilnehmern ohne schwere Hypoglykämien und auch bei nichtdiabetischen Geschwistern nicht nachweisbar waren (Perantie et al.
2011). Durch schwere Hypoglykämien verursachte Hirnveränderungen konnten auch im Hippocampus, im temporalen Kortex, im Thalamus oder in Form von Verminderungen der grauen und weißen Substanz des gesamten Hirns gefunden werden (Arbelaez et al.
2013). Bei der Betreuung ist besonders zu beachten, dass schwere Hypoglykämien häufig mit einer psychischen Belastung der Betroffenen und ihrer Familien und mit einer möglichen Beeinträchtigung der sozialen Integration verbunden sind. Deshalb sollten psychosoziale Hilfestellungen und eine Begleitung angeboten werden.
Therapie und Prävention
Kinder und Jugendliche mit
Typ-1-Diabetes sollen immer schnell wirkende Kohlenhydrate in Form von Traubenzucker o. Ä. bei sich tragen, um bei leichten Unterzuckerungen sofort handeln zu können und so einer schweren Unterzuckerung vorzubeugen. Eltern bzw. andere primäre Betreuungspersonen sollen in der Anwendung der Glukagonspritze bzw. weiterer Sofortmaßnahmen unterwiesen werden. Eine Erleichterung und Verbesserung der Glukagonbehandlung schwerer
Hypoglykämien ist durch die intranasale Glukagonverabreichung zu erwarten. In einer kleinen Studie mit 11 Kindern im Alter von 7–12 Jahren wurde die intranasale Verabreichung von 1 mg
Glukagon mit der subkutanen Gabe von 0,5 mg Gukagon verglichen. Nach 15 min war der Blutzuckeranstieg bei beiden Behandlungsformen vergleichbar gut. Die intranasale Verabreichung zeigte den maximalen Blutzuckeranstieg nach 25 min. Höhere und länger anhaltende Glukagonkonzentrationen waren nach den subkutanen Injektionen nachweisbar, führten aber häufiger zu Übelkeit (Stenninger et al.
1993). In einer randomisierten Cross-over-Studie wurde bei 75 Erwachsenen mit Typ-1-Diabetes eine vergleichbare Wirkung einer intranasalen Verabreichung von 3 mg Glukagon und einer intramuskulären Injektion von 1 mg Glukagon gefunden. (Rickels et al.
2016).
Betreuer in Kindergärten, Kindertagesstätten und Lehrkräfte in Schulen sollten über Risiken und Behandlungsmöglichkeiten der Unterzuckerung unterrichtet werden. Da Unterzuckerungen nicht an einer bestimmten Blutzuckergrenze festgemacht werden können, haben Unterzuckerungsschulungen über spezifische Symptome, Ursachen und sofortige Maßnahmen besondere Bedeutung zur Vermeidung von
Hypoglykämien.
Seit dem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) vom 16.06.2016 werden auch von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) kontinuierliche Glukosemesssysteme bezahlt (GBA Beschluss
2016). Diese Systeme werden zunehmend mit Insulinpumpen gekoppelt mit dem Fernziel eines geschlossenen Regelkreises, eines „Closed Loop“ (Zisser et al.
2014). Eine erste Annäherung stellen „threshold-based“ Insulinpumpen dar, die bei stark fallenden Blutzuckerwerten oder bei Unterschreitung eines bestimmten Blutzuckerniveaus die Insulinzufuhr der Pumpe aussetzen und bei steigenden Werten automatisch wieder einschalten. Das Auftreten nächtlicher
Hypoglykämien konnte mit diesem Verfahren im Vergleich zu einer Kontrollgruppe um 31,8 % gesenkt werden (Bergenstal et al.
2013). Insgesamt bieten sich vielfache Möglichkeiten an, um Hypoglykämien zu vermeiden (s. Übersicht).
Die konsequente Anwendung der aufgeführten Maßnahmen hat in den letzten Jahren sowohl zu einer Verbesserung der metabolischen Kontrolle als auch zu einer Reduzierung hypoglykämischer Ereignisse bei Kindern und Jugendlichen mit
Typ-1-Diabetes geführt. Die Untersuchung von 30.708 Patienten in Deutschland und Österreich zeigte einen Rückgang des mittleren HbA1c-Wertes von 8,7 ± 1,8 % im Jahr 1995 auf 8,1 ± 1,5 % im Jahr 2009. Gleichzeitig kam es aber auch zu einer signifikanten Verminderung von schweren
Hypoglykämien und hypoglykämischen Komata (Rosenbauer et al.
2012). Diese Ergebnisse sind besonders bemerkenswert, da früher bei diabetischen Kindern und Jugendlichen ein niedriger oder nahezu normaler HbA1c-Wert als ein wichtiger Risikofaktor für das Auftreten schwerer Hypoglykämien galt. Konnte in den Jahren 1995–2004 noch eine inverse Korrelation zwischen HbA1c und schweren Hypoglykämien nachgewiesen werden, bestand diese Korrelation bei Berücksichtigung der Daten von 2005–2012 nicht mehr (Karges et al.
2014). Ein Anstreben höherer HbA1c-Werte zur Vermeidung von Hypoglykämien wird also nicht länger empfohlen. Intensivierte Insulintherapie, altersgerechte Schulung und individuelles Hypoglykämiewahrnehmungstraining sind mit der HbA1c-unabhängigen Reduktion schwerer Unterzuckerungen assoziiert. Das ist ein bedeutender Fortschritt der modernen Diabetestherapie.