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Die Urologie
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Publiziert am: 30.11.2021

Blasenentleerungsstörungen bei Frauen

Verfasst von: Rainer Hofmann und Jeremias Hartinger
Die internationale Kontinenzgesellschaft und die International Urogynaecological Society definieren die Blasenentleerungsstörung durch eine „verlangsamte und/oder unvollständige Miktion basierend auf Symptomen und urodynamischen Untersuchungen“. Blasenentleerungsstörungen können bei Frauen in zwei große Gruppen eingeteilt werden: Patientinnen mit Detrusorhypotonie bis hin zu akontraktilem Detrusor und Patientinnen mit Obstruktionen des Harntraktes. Das klinische Erscheinungsbild zeigt sowohl obstruktive als auch irritative Symptome. Die Diagnostik beginnt mit ausführlicher Anamnese, körperlicher Untersuchung, Urinstatus sowie Uroflowmetrie und Ultraschall. Invasive Diagnostik im Sinne einer Zystoskopie oder einer urodynamischen Untersuchung kann im Verlauf notwendig werden. Therapeutisch besteht die Möglichkeit einer Verhaltenstherapie sowie medikamentöser und operativer Therapieverfahren. In schweren Fällen ist die Anlage eines Neurostimulators oder eine Harnableitung indiziert.

Epidemiologie und Ätiologie

Die internationale Kontinenzgesellschaft und die International Urogynaecological Society definieren die Blasenentleerungsstörung durch eine „verlangsamte und/oder unvollständige Miktion basierend auf Symptomen und urodynamischen Untersuchungen“.
Eine einheitliche objektivierbare Definition der Blasenentleerungsstörung bei Frauen existiert nicht. Die Möglichkeit einer rein radiologisch-videourodynamischen Diagnose (sichtbare Obstruktionen zwischen Blasenhals und distaler Urethra bei einer Detrusorkontraktion) oder die Definition anhand von Messwerten wie etwa der maximalen Flussrate (<12–15 ml/s), des Detrusordrucks während maximalem Durchfluss (>20–25 cm Wassersäule) oder mit Hilfe von Nomogrammen dieser Werte wurde von unterschiedlichen Arbeitsgruppen als mögliche Definitionen vorgeschlagen.
Die Prävalenz der weiblichen Blasenentleerungsstörung wurde bisher noch nicht genau erfasst. Eine große internationale Studie mit über 19.000 Patienten (EPIC-Studie, Irwin et al. 2006) konnte zeigen, dass etwa 63 % der Männer und 67 % der Frauen an Symptomen des unteren Harntraktes leiden („lower urinary tract symptoms“, LUTS). Während Frauen eher Speicherstörungen angeben (weiblich : männlich = 59 % : 51 %), ist die Blasenentleerungsstörung bei Männern häufiger vertreten (weiblich : männlich = 20 % : 26 %).
Blasenentleerungsstörungen können bei Frauen in zwei große Gruppen eingeteilt werden: Patientinnen mit Detrusorhypotonie bis hin zu akontraktilem Detrusor und Patientinnen mit Obstruktionen des Harntraktes. Die folgende Übersicht gibt Aufschluss über mögliche Ursachen.
Ursachen weiblicher Blasenentleerungsstörungen
  • Detrusorhypotonie
  • Medikamenten induziert (Anticholinergika, Parkinsonmedikamente, Neuroleptika-Haldol, Tranquilizer- Diazepam, Antidepressiva)
  • Altersbedingt
  • Neurogen (z. B. Multiple Sklerose- meist jedoch Detrusorhyperreflexie)
  • Psychogen (Angststörungen)
  • Durch Überdehnung verursacht (z. B. chronische Harnretention)
  • Traumatisch bedingt (z. B. Wirbelsäulenverletzung)
  • Obstruktionen
  • Anatomische Ursachen
  • Veränderung der Anatomie (z. B. urogenitaler Prolaps)
  • Angeborene Obstruktionen (z. B. Karunkel, Harnröhrenstrikturen)
  • Iatrogen
  • Harnröhrentraumata (z. B. durch Katheterismus)
  • Operationen (z. B. Inkontinenzchirurgie)
  • Funktionell
  • Detrusor-Blasenhals-Dyskoordination

Klinik

Patientinnen mit Blasenentleerungsstörungen können eine Vielzahl von Symptomen aufweisen. Speziell wenn die Störung aufgrund einer Obstruktion vorhanden ist, können auch irritative Symptome wie Drang oder Inkontinenz, ähnlich einer überaktiven Blase, auftreten. Das vermehrte Auftreten irritativer Symptome kann theoretisch durch eine Veränderung der Kopplung der Muskelzellen und einer damit einhergehenden erhöhten Erregbarkeit der Blasenmuskulatur erklärt werden. Mögliche obstruktive Symptome sind in der folgenden Übersicht dargestellt.
Obstruktive Symptomatik bei Blasenentleerungsstörung
  • Verzögerter Miktionsbeginn
  • Schwacher Harnstrahl
  • Geteilter Harnstrahl
  • Stottermiktion
  • Pressmiktion
  • Unvollständige Blasenentleerung
  • Sofortiger Harndrang nach Miktion
  • Urinverlust nach Miktion
  • Lageabhängige Miktion
  • Dysurie

Diagnostik

Die Diagnostik einer Blasenentleerungsstörung beginnt mit der ausführlichen Anamnese. Miktionsanamnese und stattgehabte Operationen sind hier von Bedeutung. Anschließend folgt die körperliche Untersuchung. Diese sollte zusätzlich eine orientierende neurologische Untersuchung sowie eine Beurteilung des äußeren Genitales mit vaginaler Einstellung beinhalten. Urinstatus und, falls notwendig, Urinkultur liefern Informationen über eine eventuell zu eradizierende Keimbesiedelung der Blase. Die Uroflowmetrie gibt Aufschluss über das Miktionsverhalten und der Ultraschall kann, falls Restharn vorhanden ist, die Verdachtsdiagnose einer Blasenentleerungsstörung bestätigen. Welche Menge an Restharn als signifikant zu werten ist, ist nicht standardisiert. Studien zeigen, dass eine Menge von >100 ml einen geeigneten Wert für den praktischen Alltag darstellt. Die beiden letztgenannten Untersuchungen können die Ursache der Blasenentleerungsstörung nicht klären, bei Verdacht aufgrund ihrer geringen Invasivität aber hervorragend als Screening-Untersuchungen dienen. Zystoskopie und, falls benötigt, die Urodynamik stellen als invasive Untersuchungen die Mittel der Wahl zur Unterscheidung zwischen einer Detrusorhypotonie und einer Obstruktion dar. Die Interpretation der bei der (video)urodynamischen Untersuchung gewonnenen Messwerte sollte immer im klinischen Kontext mit Berücksichtigung der Symptomatik der Patientin erfolgen. Allgemein anerkannte Grenzwerte, wann ein Messwert als obstruktiv zu werten ist, existieren derzeit noch nicht.

Therapie

Die Therapie der Blasenentleerungsstörung sollte sich an der Ätiologie und Symptomatik der Patientin orientieren. Bei asymptomatischen nur leicht erhöhten Restharnmengen kann eine Verhaltenstherapie z. B. mit Erlernen einer Mehrfachmiktion und ggf. mit Biofeedback, unabhängig von der Ätiologie, ausreichend sein.
Pharmakotherapeutisch kann durch uroselektive α-Rezeptor-Blocker eine Verbesserung der Miktionssymptomatik in ca. 70–80 % der Fälle herbeigeführt werden.
Muskelrelaxanzien stellen ebenfalls eine Therapiemöglichkeit dar, speziell bei Patientinnen mit neurologischer Grunderkrankung und funktioneller Ursache der Blasenentleerungsstörung. Durch Relaxation des quer gestreiften externen Sphinkters wird eine signifikante Verbesserung der Miktionsanzahl über 24 h, der Flussrate sowie eine Verminderung des Blasendrucks während der Miktion erreicht.
Direkte oder indirekte Cholinergika erhöhen theoretisch und im Tiermodell durch vermehrte Stimulation der blasenständigen Acetylcholinrezeptoren den Detrusortonus und führen dadurch zu einer verbesserten Blasenentleerung. Dieser Ansatz konnte sich in der Praxis jedoch nur bedingt auf die klinisch relevanten Parameter übertragen lassen. Studien zeigen, dass durch Cholinergika bei Patienten mit intaktem Detrusor nach Operationen wie etwa der Wertheim-Meigs-Operation schneller eine Normalisierung der Blasenentleerung erreicht werden kann. Bei anderweitiger Genese konnte jedoch kein Effekt auf die Blasenentleerung durch Cholinergika nachgewiesen werden. (Krishnamoorthy und Kekre 2009; Taylor und Kuchel 2006)
Die sakrale Neuromodulation stellt bei Versagen der konservativen Therapie bei idiopathischer Blasenentleerungsstörung ebenfalls einen Therapieansatz dar. Ansprechraten von knapp 70–100 % sprechen für diese invasive Technik (weitere Informationen zu dieser Therapieform siehe Kap. „Overactive-Bladder-Syndrom bei Frauen“).
Die Blasenentleerungsstörung als Folge inkontinenzchirurgischer Interventionen ist meist selbstlimitierend und dauert selten länger als eine Woche an. Nach 7 Tagen zeigen weniger als 5 % der Patienten Symptome. Zur Überbrückung dieses Zeitraums bietet sich der intermittierende Selbstkatheterismus an. Bei Patientinnen mit postoperativer Langzeitproblematik kann eine Bougierung der Urethra oder eine Urethrolyse in Betracht gezogen werden. Studien zeigen Erfolgsraten für die Bougierung von 33 % und für die Urethrolyse von über 80 % (Vella et al. 2012). Eine anschließende Stressinkontinenz stellt die relevanteste Komplikation dieser beiden Verfahren dar.
Sind anatomische Veränderungen wie etwa eine urogenitaler Prolaps oder kongenitale Obstruktionen wie ein Harnröhrenkarunkel vorhanden, stellt die operative Therapie das Mittel der Wahl dar.
Die funktionell-obstruktiven Blasenentleerungsstörungen werden je nach Erkrankung unterschiedlich therapiert. Bei der Detrusor-Blasenhals-Dyskoordination erzielt die Therapie mit einem α-Adrenozeptor-Antagonisten gute Ergebnisse mit einer Verbesserung aller urodynamisch relevanten Parameter bei bis zu 80 % der Patientinnen. Sollte die medikamentöse Therapie nicht zielführend sein, kann eine operative Therapie im Sinne einer Blasenhalsinzision bei 5 und 7 Uhr in Steinschnittlage eine Verbesserung der Miktionssymptomatik bei über 75 % der Patientinnen erreichen. Die gravierendste Nebenwirkung dieser Therapie stellt die Inkontinenz dar.
Die Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie wird primär mit dem sterilen intermittierenden Selbstkatheterismus in Kombination mit Anticholinergika, zur Reduktion des intravesikalen Drucks, therapiert. Sollte dies nicht möglich sein, ist mittels einer externen Sphinkterotomie, mit hohen Nebenwirkungsraten, die Möglichkeit einer operativen Therapie gegeben. Inkontinenz (50 %), postoperative Strikturen mit der Notwendigkeit erneuter Eingriffe (35 %), rezidivierende Harnwegsinfekte (25 %) und Blutungen (bis 23 %) stellen die häufigsten Komplikationen dar. Weiterhin werden trotz dieser Prozedur die intravesikalen Druckspitzen bei Miktion in den meisten Fällen (65 %) nicht verhindert. Weitere Therapieoptionen sind die Einbringung eines urethralen Stents sowie die Anwendung von Botulinumtoxin A.
Für jede Genese dieser Miktionsstörung gilt, dass, falls eine adäquate Blasenentleerung trotz der oben genannten Maßnahmen nicht möglich ist und ein intermittierender Selbstkatheterismus oder eine transurethrale Dauerkatheterableitung ausscheidet, die suprapubische Harnableitung eine weitere Möglichkeit zur Entleerung der Blase darstellt.

Zusammenfassung

  • Blasenentleerungsstörung: bisher für Frauen nicht klar definiert.
  • Ursachen: Detrusorhypotonie oder „Obstruktion“.
  • Obstruktive Symptomatik (exemplarisch): schwacher Harnstrahl, Pressmiktion, unvollständige Blasenentleerung. Irritative Symptomatik (exemplarisch): Pollakisurie, imperativer Harndrang, Inkontinenz.
  • Diagnostik: Anamnese und körperliche Untersuchung, Sonografie, Uroflowmetrie, Urinkultur, Zystoskopie, Urodynamik.
  • Therapie:
  • medikamentös (α-Adrenozeptor-Antagonisten, Cholinergika, Muskelrelaxanzien),
  • Operation je nach Genese (meist bei Obstruktion),
  • intermittierender Selbstkathetherismus,
  • transurethrale Katheterableitung,
  • suprapubische Harnableitung.
Literatur
Irwin DE et al (2006) Population-based survey of urinary incontinence, overactive bladder, and other lower urinary tract symptoms in five countries: results of the EPIC study. Eur Urol 50(6):1306–1314. discussion 1314–5CrossRef
Krishnamoorthy S, Kekre NS (2009) Detrusor underactivity: to tone or not to tone the bladder? Indian J Urol 25(3):407–408CrossRef
Taylor JA 3rd, Kuchel GA (2006) Detrusor underactivity: clinical features and pathogenesis of an underdiagnosed geriatric condition. J Am Geriatr Soc 54(12):1920–1932CrossRef
Vella M et al (2012) A reappraisal of storage and voiding dysfunction. Curr Urol Rep 13(6):482–487CrossRef