Detrusorhyperaktivität
Fast alle in der Übersicht am Anfang dieses Kapitels aufgeführten neurologischen Erkrankungen können zu partiellen spinalen Läsionen und einer isolierten Beeinträchtigung der Harnspeicherung, d. h. zu einer Detrusorhyperaktivität führen, wie sie auch bei zerebralen Erkrankungen wie Schlaganfällen, Parkinson-Syndrom und Normaldruckhydrozephalus infolge einer Schädigung suprapontiner inhibitorischer Bahnen resultiert. Bei der
multiplen Sklerose kann sie im Krankheitsverlauf bei bis zu 80 % der Betroffenen auftreten, wenn Entmarkungen nicht nur zerebral, sondern auch im zervikalen oder thorakalen Myelon lokalisiert sind.
Als wichtigstes Second-Line-Medikament gilt, wenn eine Kombination von 2 verschiedenen Antimuskarinika über einen Zeitraum von 3 Monaten keinen ausreichenden Effekt gezeigt hat oder nicht vertragen wurde,
Botulinumtoxin A, das bei Erwachsenen seit 2013 zur Behandlung der überaktiven Blase bei stabiler subzervikaler Rückenmarkschädigung oder
multipler Sklerose zugelassen ist. Zur chemischen Denervierung des Blasenmuskels wird Botulinumtoxin A endoskopisch in Lokalanästhesie oder Kurznarkose in 20–40 Areale der Blasenwand injiziert. Kontinenz resultiert bei ca. 75 % der Patienten über durchschnittlich 7 Monate, allerdings auch eine so starke Dämpfung des Detrusors, dass ein intermittierender Selbstkatheterismus häufig erforderlich wird.
Wenn ein intermittierender Katheterismus vom Patienten nicht in Kauf genommen werden möchte oder wegen Übergewicht und mangelnder funktioneller Unabhängigkeit scheitert und somit Botulinumtoxin als Alternative zu Antimuskarinika nicht infrage kommt, kann man sich bei männlichen Patienten mit einem Kondomkatheter und Urinal behelfen. Ist dies nicht möglich, stellt wie bei weiblichen Patienten, die eine fortbestehende Inkontinenz nicht tolerieren wollen und Vorlagen oder Windeln nicht akzeptieren, die Implantation eines sakralen Neuromodulators eine Alternative dar. Davon ausgehend, dass Sphinkterkontraktionen die Detrusoraktivität hemmen, wird zunächst über eine perkutane Foramenelektrode eine temporäre elektrische Stimulation der Sakralwurzel S3 vorgenommen. Gelingt hierdurch eine Inhibition der Detrusorhyperaktivität, erfolgt die Implantation einer Dauerelektrode in einem der S3-Foramina.
Ist trotz der genannten Maßnahmen eine befriedigende Kontinenz nicht herzustellen, bleiben als Ultima Ratio die Möglichkeit einer operativen Vergrößerung der Blase (sog.
Augmentation) oder eine suprapubische Blasendrainage, der grundsätzlich der Vorzug vor einem transurethralen Verweilkatheter gegeben werden sollte.
Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (DSD)
Eine Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (DSD) resultiert nach Schädigung deszendierender und aszendierender Bahnen des Rückenmarks auf zervikalem oder thorakalem Niveau und ist fast immer mit einer Detrusorhyperaktivität assoziiert, sodass eine Kombination von Harnentleerungs- und -speicherstörung vorliegt. Sie stellt bei Patienten mit fortgeschrittener
multipler Sklerose die häufigste Ursache einer Blasenentleerungsstörung dar und folgt bei ca. 90 % aller Patienten mit traumatischen Querschnittsläsionen, wenn sich die klinische Situation nach Abklingen der sog. Schockphase stabilisiert hat. Fast alle in der Übersicht am Anfang dieses Kapitels zusammengefassten Erkrankungen können zu suprasakralen spinalen Myelopathien und zu einer Dyssynergie des quergestreiften Harnröhrensphinkters führen. Nur bei der
Neuroborreliose ist bislang eine DSD nicht beschrieben.
Bei ca. 80 % der Tetraplegiker und Paraplegiker mit hohen Querschnittsläsionen, aber auch bei nichttraumatischen Myelopathien kann als Komplikation eine autonome Dysreflexie auftreten, mit deren klinischer Symptomatik jeder Neurologe vertraut sein sollte.
Sie stellt ein potenziell lebensbedrohliches Ereignis dar und ist durch eine paroxysmale
Hypertonie gekennzeichnet, die unbehandelt zu einer hypertensiven Enzephalopathie mit Krämpfen und
Bewusstseinsstörungen sowie intrakraniellen Blutungen führen kann. Bei ca. 75 % der Betroffenen ist eine Dehnung der Blasenwand (z. B. durch Abklemmen oder Verstopfung eines Blasenkatheters), bei ca. 20 % eine schwere
Obstipation auslösender Faktor. Andere Ursachen können diagnostische Eingriffe, Schmerzen durch Dekubitalulzera, Hitze- oder Kälteexposition oder gastrointestinale Erkrankungen bei Querschnittspatienten sein. Klinisch finden sich unterhalb der spinalen Läsion Blässe und eine Piloerektion, oberhalb der spinalen Schädigung führt der Blutdruckanstieg zu vermehrter Vagusaktivität mit Bradykardie, heftigen
Kopfschmerzen und Gesichtsrötung.
Detrusorhypo-/akontraktilität
Rückenmarkschädigungen in Höhe des Lumbosakralmarks oder der Kaudaregion führen zu einer primären Blasenlähmung (Detrusorhypokontraktilität oder Detrusorakontraktilität); Gleiches gilt für suprasakrale spinale Querschnittsläsionen in der Akutphase.
Sind alle Maßnahmen ohne Erfolg geblieben und lehnt der Patient einen sauberen intermittierenden Einmalkatheterismus ab, sind eine chronische Stimulation der Sakralwurzel S3 oder eine intravesikale Elektrotherapie zu überlegen. Die intravesikale Stimulation ist aber nur erfolgreich, wenn Afferenzen wenigstens teilweise intakt und motorische Efferenzen zum Detrusor noch vorhanden sind.
Besteht zusätzlich zur Blasenlähmung auch eine Parese des äußeren Harnröhrensphinkters (hypoaktiver Sphinkter), können ein Beckenbodentraining und ein Therapieversuch mit Duloxetin zur Steigerung des Sphinktertonus hilfreich sein. Als nächster Schritt können intraurethrale Kollagen-Injektionen versucht werden, bevor man die Implantation eines künstlichen Sphinkters oder eine Schlingensuspension erwägt.