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Die Urologie
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Publiziert am: 11.03.2023

Indikationsstellung und Strategien: Hodentumor

Verfasst von: Marieke Krimphove, Frederik Roos und Joachim Wilhelm Thüroff
Der Hodentumor (Keimzelltumor) ist der häufigste solide Tumor im Alter zwischen 20–40 Jahren. Histologisch unterschieden wird zwischen seminomatösen (~40 %) und nicht-seminomatösen (~60 %) Keimzelltumoren. Die Patienten beschreiben eine meist schmerzlose Schwellung des Hodens. Mittels Ultraschall und der Bestimmung von Tumormarkern (alpha-Fetoprotein [AFP], Humanes Choriongonadotropin [HCG] und Lactatdehydrogenase [LDH]) wird die Diagnose abgesichert. CT-Thorax und CT-Abdomen dienen dem Staging. Der erste Therapieschritt ist die inguinale Freilegung und radikale Orchiektomie, ggf. nach Schnellschnittabklärung. Die adjuvante Therapie des klinischen Stadium I (CS I) richtet sich nach dem Risikoprofil und wird im ersten Abschnitt des folgenden Kapitels beschrieben. Der zweite Abschnitt befasst sich mit der organerhaltenden Hodentumorchirurgie, die bei Patienten mit Tumoren in einem Einzelhoden und synchronen bilateralen Hodentumoren, welche 0,5–5 % aller Hodentumorpatienten ausmachen, angewandt werden kann. Bei den betroffenen Patienten spielt neben dem onkologischen Outcome der Erhalt der Fertilität, der endokrinen Funktion und des Bodyimage eine mitentscheidende Rolle.

Einleitung

Hodenkrebs (testikulärer Keimzelltumor) ist eine seltene Erkrankung. Sie macht ca. 1 % der Krebserkrankungen beim Mann aus. Allerdings zählt der Hodenkrebs zu den häufigsten soliden malignen Erkrankungen bei jungen Männern im Alter zwischen 20–40 Jahren. Weltweit wird die Neuerkrankungsrate auf 52000 geschätzt. 9000 krankheitsbedingte Todesfälle wurden in 2008 gemeldet (Ferlay et al. 2010). Die Inzidenz ist kontinuierlich in den letzten Jahren gestiegen, mit den höchsten Inzidenzraten in Nord- und Westeuropa (7,8 und 6,7/100.000) (Rosen et al. 2011). Die erhöhte Inzidenzrate ist bis heute nicht gänzlich geklärt. Glücklicherweise erreichen die Gesamtheilungsraten dank der verbesserten Diagnostik und Therapieoptionen 95 % und sogar >99 % für die Patienten im Anfangsstadium. Detailliert wird der Hodenkrebs im Kap. XVII erläutert.
Dieses Kapitel widmet sich zum einen den Therapieoptionen im klinischen Stadium I des nicht-seminomatösen Keimzelltumors, die kontrovers diskutiert werden und zum anderen der organerhaltenden Tumortherapie bei Patienten mit synchron bilateral aufgetretenen Hodentumoren oder bei Patienten, die einen Tumor in einem Einzelhoden entwickelt haben.

Bedeutung der miRNA als potentieller neuer Tumormarker

Die herkömmlichen Hodentumormarker alpha-Fetoprotein, beta-HCG und LDH spielen eine wichtige Rolle bei der Diagnostik und Einteilung der Hodentumore, jedoch sind sie mit einer Sensitivität von nur ca. 50 % in Ihrer Anwendbarkeit limitiert. Neueste Studien befassen sich mit mikro-RNA (mRNA) als potentiellem Tumormarker für die Diagnostik und zum Monitoring der Hodentumore, wobei seminomatöse und nicht-seminomatöse Keimzelltumore ersten Erkenntnissen nach gleichermaßen abgebildet werden können. mRNA sind kleine nicht-kodierende RNAs, die in die epigenetische Genregulation verwickelt sind. Zuletzt konnten Dieckmann et al. (2019) in einer groß angelegten multizentrischen prospektiven Studie zeigen, dass die mRNA „miR-371-3“ mit einer Sensitivität von 90,1 % und einer Spezifität von 94 % in allen Keimzelltumoren deutlich bessere diagnostische Fähigkeiten aufweist als die gängigen Tumormarker. Dabei korrelierte die Quantität der mRNA mit dem Tumorstadium und -größe, dem Therapieansprechen während der Chemotherapie und konnte ebenfalls bei Patienten mit Rezidiven mit einer signifikant höheren Quantität nachgewiesen werden als bei gesunden Männern. Die Implementierung in den klinischen Alltag bleibt abzuwarten, aktuelle Studien konzentrieren sich auf die Korrelation und Anwendbarkeit im Langzeit-Follow-up.

Therapieoptionen beim nicht-seminomatösen Keimzelltumor im klinischen Stadium I (CS I)

Ungeachtet der exzellenten Therapieerfolge für Patienten mit nicht-seminomatösen Keimzelltumor im CS I stützt sich die Indikation zur adjuvanten Therapie nach erfolgter Orchiektomie auf das individuelle Risikoprofil des Patienten. Ungefähr ein Drittel der Patienten mit einem nicht-seminomatösen Keimzelltumor zählen zum CS I, welches wie folgt definiert ist:
  • Normalisierung der Tumormarker (alpha-Fetoprotein [AFP], Humanes Choriongonadotropin [HCG] und Lactatdehydrogenase [LDH])
  • Fehlender radiologischer Hinweis auf eine Metastasierung in der Schnittbildgebung z. B. mittels Computertomographie (CT-Thorax, CT-Abdomen und CT-Becken)
Die Risikoprofileinteilung bezüglich einer okkulten Metastasierung stützt sich gemäß der aktuellen S3-Leitlinie hauptsächlich auf die lymphovaskuläre Invasion (LVI) des Primärtumors, wobei in Abwesenheit dieser das Risiko für ein Rezidiv bei ca. 15 % liegt, in Hochrisikosituation bei bis zu ca. 45 % (S3-Leitlinie 2020). Die Rezidivrate liegt insgesamt bei ca. 20–30 %. Andere klinische oder pathologische Parameter, wie die Proliferationsrate oder der Anteil an Embryonalzelltumoren hat nach neuesten Studien keinen Einfluss auf die Metastasenrate (Nichols et al. 2013). Entsprechend sind folgende diagnostische Mittel erforderlich für die Therapieentscheidung und die optimale Konsultation der betroffenen Patienten:
  • Eine differenzierende Pathologie mit der Beurteilung des histologischen Typs, des T-Stadiums und das Vorliegen einer LVI
  • Dünnschicht-CT-Technik zur Identifikation verdächtiger retroperitonialer Lymphknoten definiert als >10 mm in Größe
  • Optimiertes Timing der Staging-Untersuchung zum Nachweis von okkulten Metastasen
Viele internationale Forschungsgruppen wie unter anderem die SENOTECA (Swedish and Norwegian Testicular Cancer Project) empfehlen die Durchführung des Stagings mittels CT-Thorax, CT-Abdomen/Becken und der erneuten Bestimmung der Tumormarker 6–8 Wochen nach erfolgter Orchiektomie. Die Halbwertszeit von HCG beträgt 2–3 Tage, die von AFP 5–7 Tage.
Anhand der Risikostratifizierung müssen bei Patienten mit hohem Risiko die Möglichkeiten einer adjuvanten Chemotherapie mit 1 Zyklus PEB oder die aktive Überwachung abgewogen werden. Ein Zyklus Chemotherapie senkt das Risiko ein Rezidiv zu erleiden auf 3 % ab und zeigte zuletzt keinen Nachteil im Vergleich zu 2 Zyklen Chemotherapie (Tandstad et al. 2014). Alternativ muss bei Patienten mit Kontraindikationen für diese Therapieformen eine primäre nervschonenede retroperitoneale Lymphadenektomie in Erwägung gezogen werden. Diese sollte jedoch nur an ausgewiesenen Zentren durchgeführt werden.
Diese drei Therapieoptionen werden auch in den verschiedensten Leitlinien abgebildet. Während für die aktive Überwachung bei Patienten in der Niedrigrisiko-Situation ein Konsens besteht, entsteht der Eindruck, dass diese Leitlinien missverstanden oder nicht richtig angewendet werden (Nichols et al. 2013). Eine Übersicht über die aktuellen Leitlinien zur Behandlung des nicht-seminomatösen Keimzelltumor im CS I liefert Tab. 1.
Tab. 1
Risikoadaptierte Therapieoptionen im CS I des nicht-seminomatösen Keimzelltumors nach aktuellen Leitlinien
Leitlinien
Niedrigrisiko
LVI negativ
Hochrisiko
LVI positiv
EAU
Active Surveillance
Active Surveillance oder
1 Zyklus PEB
NCCN
Active Surveillance
Active Surveillance oder Expert RPLND oder 1 Zyklus PEB
SIU/ICUD
Active Surveillance
Active Surveillance oder Expert RPLND oder 2 Zyklen PEB
S3-Leitlinie
Active Surveillance
1 Zyklus PEB, active Surveillance oder Expert RPLND (bei Kontraindikationen)
Legende: LVI; lymphovaskuläre Invasion, PEB, P: Cisplatin, E: Etopsid, B: Bleomycin, RPLND: Retroperitoneale Lymphknoten Dissektion; EAU: European Association of Urology; NCCN: National Comprehensive Cancer Network (2019); SIU: Société International d’Urologie; ICUD: International Committee on Urological Diseases (Stephenson et al. 2009)
Die drei Therapieoptionen werden detailliert im Kap. XVII behandelt. In diesem Kapitel sollen Active Surveillance und Chemotherapie kurz erläutert werden. Das Hauptaugenmerk gilt der primären nervenschonenden retroperitonealen Lymphadenektomie im CS I des nicht-seminomatösen Keimzelltumors.

Active Surveillance

Unter Active Surveillance versteht man ein kontrolliertes Abwarten unter regelmäßiger klinischer und radiologischer Kontrolle des Therapieverlaufs. Im Falle des Hodentumorpatienten wendet man die Active Surveillance nach erfolgter Orchiektomie an. Hierbei wird der Patient in regelmäßigen Abständen klinisch untersucht, Palpation und Ultraschall des verbliebenen Hodens, Bestimmung der Tumormarker und radiologische Kontrolle des Retroperitoneums mittels CT- oder MRT-Abdomen erfolgen nach festgelegten Protokollen (siehe Kap. XVII). Durch Orchiektomie alleine können im CS I des nicht-seminomatösen Keimzelltumors Heilungsraten von ~70 % erreicht werden. Dabei vermeiden die Patienten die möglichen Folgen der operativen Morbidität einer RPLND und der Langzeittoxizität einer Chemotherapie. Allerdings ist die Active Surveillance mit dem höchsten Risiko verbunden, ein retroperitoniales Rezidiv zu entwickeln. Mehr als 90 % der Rezidive treten in den ersten zwei Jahren auf. Im Falle eines Rezidivs können noch Heilungsraten von 97–99 % mit einer adjuvanten Chemotherapie oder RPLND erreicht werden. Die Compliance der Patienten zur Durchführung regelmäßiger Kontrolluntersuch ist Voraussetzung für die Durchführbarkeit einer Active Surveillance Strategie. Daher sollte die Active Surveillance nur motivierten Patienten angeboten werden, die sich des erhöhten Risikos eines Rezidivs und der daraus resultierenden Therapien bewusst sind und mögliche Konsequenzen verstehen.

Primäre adjuvante Chemotherapie

Historisch wurden bei Patienten mit hohem Risiko (LVI positiv) zwei Zyklen Bleomycin, Cisplatin und Etopsid nach Orchiektomie adjuvant verabreicht, um mögliche Mikrometastasen zu eradizieren. Die Chemotherapie ist im Vergleich mit den anderen Therapieoptionen mit dem niedrigsten Risiko verbunden, ein Rezidiv zu entwickeln (2–3 %). Erfreulicherweise konnte 2014 Tandstad et al (SWENOTECA group) zeigen, dass bei geringerem Nebenwirkungsprofil eine ebenso gute Reduktion der Rezidivraten (auf ca. 2 %) mit nur einem Zyklus derselben Chemotherapie erzielt werden kann. Nach einem medianen Follow-up von 7,9 Jahren zeigte sich eine 5-Jahres Rezidivrate von 3,3 % bei Hochrisikopatienten.
In 7 der 11 zuvor publizierten Studien mit einer primären adjuvanten Chemotherapie mit zwei Zyklen war nach einem medianen Follow-up von 5 Jahren keiner am Hodenkrebs verstorben. In den verbleibenden 4 Studien, 406 Patient umfassend, entwickelten 13 Patienten ein Rezidiv (3 % des Kollektivs) und 6 der 13 Patienten verstarben am Tumor (Coleman und Stephenson 2013). Diese Daten zeigen, dass Patienten trotz eines erniedrigten Rezidivrisikos nach angewandter Chemotherapie im Falle eines Rezidivs eine schlechte Prognose haben. Rezidive nach einer Active Surveillance oder RPLND in chemonaiven Patienten versprechen eine höhere Heilungsrate. Vor- und Nachteile der drei Therapieoptionen sind in Tab. 2 aufgestellt.
Tab. 2
Vor-und Nachteile der drei Therapieoptionen des nicht-seminomatösen Keimzelltumors im CS I. (Modifiziert nach Coleman und Stephenson 2013).
Therapie
Nachteile
Vorteile
Active Surveillance
Rezidivrate ~30 %
Striktes Protokoll und Patientencompliance
~70 % Heilung nach Ablatio testis
Keine operative Morbidität oder Langzeittoxizität für die Patienten ohne Rezidiv
RPLND
Rezidivrate 5–10 %
Chirurgische Morbidität, vor allem Ejakulationsstörung
In >75 % der Fälle keine Chemotherapie notwendig
Heilungsraten 61–88 % ohne weitere Therapie
Gute Kontrolle des Retroperitoneums und Entdeckung von Teratomen
Langzeitkontrolle des Retroperitoneums nicht nötig
Chemotherapie
2 Zyklen (PEB)
Keine Möglichkeit der Behandlung von retroperitonialen Teratomen
Langzeitnachsorge notwendig
Systemische Langzeittoxizität(durch Verringerung auf einen Zyklus gemindert)
Niedrigste Rezidivrate <2 %
Legende: RPLND: retroperitoneale Lymphknotendissektion, Chemotherapie 2 Zyklen PEB, P: Cisplatin, E: Etopsid, B: Bleomycin

Primäre nervenschonende retroperitoniale Lymphadenektomie (RPLND)

Der therapeutische Fokus beim nicht-seminomatösen Keimzelltumor des CS I liegt in der Kontrolle des Retroperitoneums, da es der häufigste Ort von okkulten Metastasen ist. Die RPLND bietet eine diagnostische und therapeutische Intervention, die akkurates pathologisches Staging mit einer kurativen Behandlung verbindet. Durch die RPLND können okkulte Mikrometastasen in den retroperitonealen Lymphknoten entfernt werden. Selbst nicht-seminomatöse Keimzelltumoren im CS I mit einem hohen Rezidivrisiko definiert als prädominant vorliegendes Embryonalzellkarzinom oder Nachweis einer LVI können in 66–81 % nur mit einer alleinigen RPLND geheilt werden (Sweeney et al. 2000). Trotzdem bleibt die RPLND eine chirurgische Intervention, die mit einer 4–10 % retroperitonealen Lymphozelenbildung, 1–2 % Ileus und 5–30 % retrograden Ejakulation in Abhängigkeit von Größe und Ausdehnung der retroperitonealen Lymphome vergesellschaftet ist (Pearce et al. 2013). Ein besseres anatomisches Verständnis der lymphatischen Abflusswege und der retroperitonealen Neuroanatomie ermöglichten die Entwicklung modifizierter chirurgischer Resektionszonen und der nervenschonenden RPLND (Abb. 1). Das Ziel der primären nervenschonenden RPLND ist es, die Dissektion des kontralateralen sympathischen Grenzstranges Im Bereich der A. mesenterica inferior und A. iliaca communis, wie sie bei der Standard RPLND durchgeführt wird, ohne Beeinträchtigung des onkologischen Outcomes zu vermeiden. Tab. 3 zeigt die verschiedenen Resektionszonen der RPLND, die von unterschiedlichen Arbeitsgruppen propagiert werden.
Tab. 3
Retroperitoneale Resektionszonen in Abhängig der Lokalisation des Primärtumors und unterschiedlicher Arbeitsgruppen. (Modifiziert nach Pearce et al. 2013). Die zu resezierenden Lymphknotenzonen linksseitiger Tumoren sind als [O] und rechtsseitiger als [X] dargestellt
Region
Exendierte Resektion
Standardresektion
bilateral
Modifizierte Resektionszone nach IU
MSKCC
TTSG
Rechts/Links
     
Suprahilär
X   O
    
Paracaval
X   O
X   O
X
X
X
Präcaval
X   O
X   O
X
X   O
X
Interaortocaval
X   O
X   O
X   O
X   O
X
Präaortal
X   O
X   O
X   O
X   O
X   O
Paraaortal
X   O
X   O
O
X   O
O
Ipsilateral iliakal
X   O
X   O
X   O
X   O
X
Contralateral iliakal
X   O
X   O
   
Samenstrang
X   O
X   O
X   O
X   O
X   O
Legende: IU: Indiana University; MSKCC: Memorial Sloan Kettering Cancer Center; TTSG: testicular Tumor Study Group
Eine modifizierte RPLND reduziert die Operationszeit, begrenzt das Resektionsfeld und verbessert die antegrade Ejakulationsrate. Eine limitierte Resektion der retroperitonealen Lymphknoten birgt das Risiko eines erhöhten Rezidivrisikos mit nachfolgender Chemotherapie und/oder erneuter Operation. In einer retrospektiven Studie an 500 Patienten vom MSKCC wurde nach primärer bilateraler infrahilärer RPLND die Lokalisation von Metastasen und Rezidiven analysiert. Im CS I der nicht-seminomatösen Keimzelltumoren zeigte sich eine Rezidivrate von 1–5 % (Pearce et al. 2013). In Abb. 2 werden einzelne Schritte einer rechtseitigen nervenschonenden RPLND im Rahmen einer modifizierten Resektionszone nach Foster 2004 illustriert dargestellt.
Für viele Hodentumor-Zentren stellt die nervenschonende RPLND in einer modifizierten Resektionszone den chirurgischen Standardeingriff für Niedrigrisikopatienten im CS I des nicht-seminomatösen Keimzelltumors da. Falls intraoperativ auffällige Lymphknoten (Größe > 1cm oder palpatorisch) imponieren und im Schnellschnitt die Lymphknoten befallen sind, sollte eine bilaterale Resektion stattfinden. Bis heute gibt es nur eine prospektive Studie, die eine RPLND mit modifizierter Resektionszone mit einer bilateralen Resektion bei Patienten mit nicht-seminomatösen Keimzelltumoren im CS I verglichen hat. In dieser multizentrischen Studie wurden bei 168 Patienten eine RPLND mit modifizierter Resektionszone und bei 67 Patienten eine bilaterale RPLND durchgeführt. Es gab keine Unterschiede bezüglich Komplikationen oder Rezidivraten zwischen den Gruppen. Eine antegrade Ejakulation konnte bei 74 % der Patienten mit modifizierter RPLND und bei 34 % mit bilateraler RPLND erhalten werden (Pearce et al. 2013). Die Kritikpunkte dieser Studie waren fehlende Randomisierung und die Beteiligung vieler Operateure aus unterschiedlichen Zentren. Die Beteiligung vieler unterschiedlich großer Zentren und Operateure verschiedener Erfahrungsstufen erklärt die relativ hohe Rezidivrate (17 %) und niedrige antegrade Ejakulationsrate (74 %) der modifizierten Technik im Vergleich zu Operateuren in großen Zentren (Rezidivrate: <5 % und antegrade Ejakulation: >80 %). Aufgrund der Komplexität des Eingriffes sollte dieser nach den Leitlinien an großen Zentren durchgeführt werden (siehe Tab. 1), wenn sich der Patient nach risikostratifizierter Beratung für eine primäre nervenschonende RPLND bei einem nicht-seminomatösen Keimzelltumor im CS I entscheiden sollte.
Als Alternative zur offenen RPLND steht heute auch die minimalinvasive oder robotisch assistierte RPLND zur Verfügung. Erste Studien suggerieren, dass auch diese Operation sicher durchgeführt werden kann (Taylor et al. 2020; Mittakanti und Porter 2020). In einer bevölkerungsbezogenen retrospektiven Studie mit 44 Patienten, die robotisch assistiert operiert wurden und 319 Patienten, die offen operiert wurden, konnte kein Unterschied in den Komplikationsraten oder den resultierenden Kosten festgestellt werden (Bhanvadia et al. 2020). Prospektive vergleichende Studien sind zu diesem Thema aktuell noch nicht veröffentlicht worden.

Organerhaltende Operation bei Hodentumoren

Die radikale inguinale Orchiektomie ist der Referenzstandard für Patienten mit einem malignen Hodentumor. In den letzten zwei Jahrzehnten verbesserte sich das onkologische Outcome jedoch auch aufgrund eines besseren interdisziplinären Therapiemanagements. Im Zuge der ständigen Weiterentwicklung und auch der Verbreitung des Hochfrequenz-Ultraschalls werden immer häufiger kleine Hodentumoren inzidentell detektiert. Es konnte gezeigt werden, dass nach radikaler inguinaler Orchiektomie ca. 10 % der Hodentumoren eine benigne Dignität aufwiesen (Passman et al. 2009). Die potentiellen Vorteile eines organerhaltenden Vorgehens im Vergleich zur radikalen Operation liegen bei selektierten Patienten im möglichen Fertilitätserhalt und Erhalt der endokrinen Funktion. Bilaterale Hodentumoren treten in 0,5–5 % der Fälle auf. Davon haben 35 % der Patienten einen synchron bilateralen Hodentumor und 65 % einen metachronen Hodentumor.
Die organerhaltende Hodentumorchirurgie ist indiziert bei (aus Albers et al. Leitlinien EAU 2011):
  • Synchron bilateralen Keimzelltumoren
  • Metachronen Keimzelltumoren
  • Tumoren in Einzelhoden mit präoperativ normalem Serum-Testosteron
  • Tumorvolumen <30 % des Hodenvolumens
Die Ziele der organerhaltenden Hodentumorchirurgie beinhalten den Erhalt der endokrinen Funktion, der Fertilität und der Lebensqualität des betroffenen Patienten.
In den meisten Fällen handelt sich um eine imperative Indikation, d. h. Patienten mit synchron bilateralen Hodentumoren, Tumoren in einem Einzelhoden bzw. metachron entwickelte Hodentumoren.
Für die präoperative Vorbereitung ist die Bestimmung von Testosteron, FSH und LH erforderlich, da sich bei erhöhten LH-Werten in der Gegenwart normaler Testosteronwerte eine kompensierte Leydigzellinsuffizienz verbergen kann, welche nach lokaler Exzision und postoperativer Bestrahlung mit 20 Gy, die sich nach dem Nachweis eines malignen Keimzelltumors dem Organerhalt anschließen sollte, dekompensieren könnte. Des Weiteren sollte den Patienten eine Kryokonservierung der Spermien angeboten werden. Falls sonografisch mehrere Läsionen detektiert werden, ist ein MRT indiziert. Bei multiplen Hodentumoren sollte eine Orchiektomie bei Malignitätsnachweis erfolgen, da weder genügend Hodengewebe zum Erhalt der exokrinen und endokrinen Hodenfunktion belassen werden kann noch eine komplette Exzision sämtlicher tumorösen Veränderungen sicherzustellen ist. Tab. 4 zeigt die größten Fallserien der organerhaltenden Hodentumorchirurgie als Therapie von nicht palpablen, im Ultraschall detektierten Hodentumoren.
Tab. 4
Die größten Fallserien der organerhaltenden Hodentumorchirurgie von nicht palpablen, Ultraschall-detektierten Hodentumoren. (Modifiziert nach Giannarini et al. 2010)
Publikation
Patienten
Tumorgröße
[mm]
Behandlung
Organerhalt
Schnellschnitt
[n, maligne]
Endgültige Pathologie
   
elektiv
imperativ
 
[n, maligne]
Nicht vorhanden
Carmignani et al. 2003
10
4–16
7
0
0
0
0
Leroy et al. 2003*
15
4–16
9
0
0
0
0
Müller et al. 2006#
20
1–5
16
0
0
0
0
Eifler et al. 2008&
19
NR
13
0
0
0
6
Galosi et al. 2016
28
2,5–15
17
0
6
6
0
Ates et al. 2016
15
5–26
14
0
1
1
0
Legende: NR: not reported, bei den markierten Serien wurden jeweils auch radikale Orchiektomien und andere Therapieformen (z. B. Active Surveillance) durchgeführt. Bei & handelte es sich um hypoechogene, nicht-palpable Raumforderungen des Hodens
Intraoperativ erfolgt der Schnitt über eine inguinale Inzision wie bei einer herkömmlichen radikalen Orchiektomie. Wichtig zur Vermeidung von möglichen Tumorzellverschleppungen sind das Abklemmen der Samenstranggefäße und die Einbettung des ausgelagerten Hodens in feuchte Tücher. Abb. 345 und 6 stellen schematische und intraoperative Schritte der organerhaltenden Hodentumorchirurgie dar. (Modifiziert nach Heidenreich und Angerer-Shpilenya 2012).
Aus zahlreichen Studien bekannt, dass inzidentell sonografisch detektierte, nicht palpable kleine Hodentumoren in 80 % der Fälle benigne sind, während palpable, größere Hodentumoren >90 % maligne sind. Allen Patienten mit einem nicht-palpablen Tumor unklarer Dignität, kontralateral gesundem Hoden und sonografisch typischen Kennzeichen eines gutartigen Prozesses (echoarme, scharf konfigurierte Raumforderung, z. B. Zyste), sollte ein organerhaltendes Vorgehen mit intraoperativem Schnellschnitt angeboten werden. Gutartige Tumoren sind z. B. Leydigzelltumoren, die 80 % aller Stromatumoren (3–5 % der Hodentumoren) ausmachen. In zahlreichen Fallstudien konnte gezeigt werden, dass 4–8 Jahre nach einer organerhaltenden Therapie eines Leydigzelltumors kein Hinweis auf Metastasen oder Lokalrezidive bestand. Bei Sertolizell-Tumoren beruhen die Erfahrungen der organerhaltenden Hodentumorchirurgie nur auf sehr wenigen Fallberichten, so dass für diese Tumorentität noch keine Empfehlung ausgesprochen werden kann.

Komplikationen und funktionelles Ergebnis

Die Komplikationen nach organerhaltender Hodentumorchirurgie sind mit <6 % gering. In einer Metaanalyse von 244 Patienten zwischen 2001–2009 waren die häufigsten Komplikationen Hämatome, Infektionen und Hodenatrophie (Giannarini et al. 2010).
Das Hauptaugenmerk liegt auf dem Funktionserhalt des Organs. Die Patientenselektion ist der wichtigste Schritt in der präoperativen Planung. Hodentumoren > 2cm sollten ausgeschlossen werden, da bei dieser Größe nicht ausreichend funktionelles Hodengewebe erhalten werden kann. Viele Patienten mit malignem Keimzelltumoren haben schon bei Diagnosestellung eine verminderte Spermatogenese und ein erhöhtes Risiko, einen Hypogonadismus zu entwickeln. Die postoperative Bestrahlung mit 20 Gy im Falle eines malignen Keimzelltumors nach Organerhalt ist ein weiterer Faktor, der die endokrine und exokrine Hodenfunktion des betroffenen Patienten kompromittiert. In einer großen Studie mit einer mittleren Nachbeobachtungszeit von 80 Monaten hatten dennoch 84 der 101 organerhaltend operierten Hodentumorpatienten postoperativ normale Serum-Testosteronwerte (Heidenreich et al. 2006). Die unmittelbare postoperative Bestrahlung kann bei Patienten mit guter Compliance verschoben werden, wenn ein Kinderwunsch besteht und ein stringentes Nachsorgeprotokoll eingehalten wird.

Zusammenfassung:

  • Nach der radikalen inguinalen Orchiektomie stehen beim nicht-seminomatösen Keimzelltumoren (NSGCT) im klinischen Stadium I (CS I) drei adjuvante Therapieoptionen in Abhängigkeit des Risikoprofils zur Verfügung. Wenn man von einer Rezidivrate von ~30 % ausgeht, ist bei Patienten mit guter Compliance und Adhärenz zu einem strikten Nachsorgeprotokoll die Active Surveillance die Strategie der Wahl.
  • Hierbei werden die Langzeittoxizität der Chemotherapie (1 Zyklus PEB) sowie die Morbidität der nervenschonenden retroperitonialen Lymphadenektomie bei ~70 % der Patienten vermieden. Bei Patienten mit nicht-seminomatösen Keimzelltumor im klinischen Stadium und hohem Rezidivrisiko (~50) ist eine aktive Therapie im Sinne einer Chemotherapie oder einer modifizierten nervenschonenden retroperitonealen Lymphadenektomie zu bevorzugen. Letztere sollte an spezialisierten Zentren durchgeführt werden, um das bestmögliche funktionelle und onkologische Outcome für den Patienten zu gewährleisten. Letztendlich ist es unerlässlich, den Patienten mit in die Entscheidung über die adjuvanten Therapieoptionen einzubinden, da Lebensqualität, individuelle Wünsche und Ängste mit in die Therapieentscheidung einfließen müssen und die Patienten auf die Möglichkeit der Krykonservierung hinzuweisen [LIT]
  • Ähnliche Überlegungen gelten den Patienten mit einem Hodentumor in einem Einzelhoden oder zeitgleichen (synchronen) Tumoren in beiden Hoden, die ca. 0,5–5 % aller Hodentumorpatienten ausmachen; was einer imperativen Indikation zum hodenerhaltenden Vorgehen entspricht. Der Erhalt der Fertilität, der endokrinen Funktion und des Körperimages sind wichtige Gesichtspunkte, die in die Überlegungen zu einer organerhaltenden Hodentumorchirurgie mit einfließen müssen. Ein Organerhalt kann bei den folgenden Kriterien angeboten werden:
    1.
    Kleine maligne Keimzelltumoren mit imperativer Indikation und normaler endokriner Funktion
     
    2.
    Kleine Leydigzelltumoren auch bei elektiver Indikation
     
    3.
    Kleine, nicht-palpable, ultraschall-detektierte Tumoren auch mit elektiver Indikation, wenn histologisch im Schnellschnitt keine Malignität nachgewiesenen werden kann.
     
  • Jede Indikation zum Organerhalt muss sorgfältig geprüft werden und bezieht die Wünsche des Patienten mit ein, um ein risikostratifiziertes, patientenorientiertes Therapiemanagement zu gewährleisten.
Literatur
Leitlinien
Albers P, Albrecht W, Algaba F, et al (2011) Guidelines on testicular cancer: European Association of Urology . http://​www.​uroweb.​org/​gls/​pdf/​10_​Testicular_​Cancer.​pdf. Zugegriffen am 01.10.2020
Leitlinienprogramm Onkologie, Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF S3-Leitlinie Diagnostik, Therapie und Nachsorge der Keimzelltumoren des Hodens, Langversion 01.01.2020
National Comprehensive Cancer Network (NCCN) (2019) Clinical practice guidelines in oncology. Testicular cancer. https://​www.​nccn.​org/​store/​login/​login.​aspx?​ReturnURL=​http://​www.​nccn.​org/​professionals/​physician_​gls/​pdf/​testicular.​pdf. Zugegriffen am 01.10.2020
Stephenson AJ, Aprikian AG, Gilligan TD, Oldenburg J, Powles T, Toner GC, Waters WB (2011) Management of low-stage nonseminomatous germ cell tumors of testis: SIU/ICUD Consensus Meeting on Germ Cell Tumors (GCT), Shanghai 2009. Urology 78:S444–S455CrossRefPubMed