Skip to main content
Enzyklopädie der Schlafmedizin
Info
Publiziert am: 15.02.2020

Multiple Sklerose

Verfasst von: Sylvia Kotterba
Zusätzlich zu den neurologischen Defiziten beklagen viele MS-Patienten eine Einschränkung ihrer Lebensqualität durch Fatigue. Die Tagesschläfrigkeit kann durch entzündliche Prozesse im aufsteigenden retikulären System begründet sein, ist aber vorwiegend durch häufig mit Multipler Sklerose assoziierten schlafmedizinische Erkrankungen bedingt, wie periodische Extremitätenbewegungen im Schlaf (PLMS), Restless-Legs-Syndrom und Obstruktive Schlafapnoe. Die Genese der Erschöpfung ist multifaktoriell und im Wesentlichen mit physischen Defiziten assoziiert. Zusätzlich nehmen bei zunehmender Krankheitsprogredienz auch die depressiven Störungen zu. Mittels differenzierter Instrumentarien müssen Tagesschläfrigkeit und Fatigue unterschieden werden, damit sich die Gestaltung der Therapie daran orientieren kann. Die Therapie der Multiplen Sklerose mit immunmodulierenden Substanzen scheint sich auch langfristig positiv auf die Fatigue auszuwirken.

Synonyme

MS; Encephalomyelitis disseminata (ED)

Englischer Begriff

multiple sclerosis

Definition

Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch verlaufende, entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS), bei der es zu disseminierten Entmarkungsherden der weißen Substanz kommt. Neben der neurologischen Symptomatik besteht bei den meisten Patienten eine ausgeprägte Beeinträchtigung der Tagesform durch „Tagesschläfrigkeit“ und vermehrte Erschöpfbarkeit (Fatigue).

Epidemiologie

In Mitteleuropa liegt die Prävalenz bei 60–100 pro 100.000 Einwohner, wobei das weibliche Geschlecht überwiegt.

Pathophysiologie

Die Ursache der Multiplen Sklerose ist unbekannt. Es werden derzeit 3 Faktoren als bedeutend diskutiert:
  • Einflüsse von Faktoren aus der Umwelt
  • Einflüsse genetischer Determinanten: 70 % der MS-Patienten sind HLA-DR2-positiv, gehäuft sind auch HLA Dw2, HLA B7 und HLA A 3 nachweisbar
  • Eine Autoimmunreaktion
Vieles spricht dafür, dass Autoimmunvorgänge nach einer in der Adoleszenz erworbenen Virusinfektion nach vielen Jahren der Latenz zur klinischen Manifestation der Multiplen Sklerose führen. Nach Aktivierung autoreaktiver T-Lymphozyten in der Peripherie durch ein Agens (vermutet wird ein Virus) durchwandern demnach die T-Lymphozyten die Blut-Hirn-Schranke und werden dort erneut durch Autoantigene aktiviert. Proinflammatorische Zytokine werden sezerniert, weitere Entzündungszellen rekrutiert, Antikörper durch Plasmazellen produziert. Diese Vorgänge haben einen toxischen Effekt am Myelin und bedingen die Markscheidenschädigung.
Für die Entstehung der Tagesschläfrigkeit sind Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus anzunehmen. Demyelinisierungsherde im aufsteigenden retikulären System können ebenfalls als Ursache zur Müdigkeit beitragen.
Die Ätiologie der vermehrten Erschöpfbarkeit ist noch unklar. Es werden neuroendokrine Effekte von Zytokinen wie Tumornekrosefaktor-α (TNF-α), Interleukinen und Interferonen sowie Stoffwechselstörungen beschrieben, darstellbar in der Positronenemissionstomographie (PET). Elektrophysiologische Untersuchungen belegen einen Zusammenhang mit peripheren, vermutlich sekundär entstandenen Strukturschäden im Nervensystem in Gestalt von Demyelinisierung und axonalen Schäden. In einer eigenen Studie korrelierte das Ausmaß der chronischen Erschöpfung (Fatigue) mit der körperlichen Beeinträchtigung, gemessen an erhaltener Gehstrecke und manueller Funktion.

Symptomatik

Die Erkrankung tritt in Schüben auf oder verläuft primär oder sekundär chronisch progredient.
Meist liegt das Erkrankungsalter zwischen 20 und 40 Jahren. Die Multifokalität der Läsionen im Zentralnervensystem führt zu einer Symptomvielfalt. In der Frühphase finden sich bevorzugt Extremitätenparesen, sensible Reiz- und Ausfallsymptome und Optikusläsionen. Später treten Spastik, Störungen der Koordination und vegetativer Funktionen in den Vordergrund. Angesichts zunehmender Behinderung werden viele Patienten depressiv. Im „Pittsburgh Schlafqualitätsindex“ (PSQI) geben viele MS-Patienten eine verminderte Schlafqualität an (Kotterba 2009; Veauthier et al. 2013). Polysomnographische Untersuchungen belegten eine geringere Schlafeffizienz und häufige Weckreaktionen, die zum Teil durch die krankheitstypischen Symptome bedingt sind. Assoziiert haben MS-Patienten oft schlafmedizinische Erkrankungen wie periodische Extremitätenbewegungen im Schlaf (PLMS; siehe „Periodische Beinbewegungen“), ein „Restless-Legs-Syndrom“ (RLS) oder „Schlafbezogene Atmungsstörungen“ (SBAS) (Kotterba 2009).
Etwa 80 % der MS-Patienten beklagen eine Fatigue. Definiert wird Fatigue als subjektiver Mangel an physischer und/oder mentaler Energie, den Patienten oder Therapeuten als Störung täglicher oder angestrebter Aktivitäten wahrnehmen. Eine vermehrte Erschöpfung tritt bei Multipler Sklerose auch in Ruhe und unabhängig von jeglicher Anstrengung auf. Dabei kann die Erschöpfung bereits am frühen Morgen auftreten und steigert sich bei andauernder körperlicher oder geistiger Aktivität. Die Erkennung und Quantifizierung dieser Beschwerde, die 50 % der Patienten als gleichbedeutend mit anderen fassbaren neurologischen Ausfällen ansehen, ist daher wichtig. In vielen Studien korrelieren Depressivität und Fatigue, wobei dieser Zusammenhang insbesondere bei Patienten mit progredientem Krankheitsverlauf beobachtet wird (siehe auch „Affektive Störungen“). Während die aus den Schüben resultierenden körperlichen Beeinträchtigungen zunehmend suffizient behandelt werden können, beeinflusst weiterhin die Fatigue vordringlich die Lebensqualität der Patienten.

Diagnostik

Für die Diagnosestellung der Multiplen Sklerose sind klinische Zeichen und Laborkriterien maßgebend (Mc-Donalds-Kriterien; Polmann et al. 2011) Entscheidend ist der Nachweis einer zeitlichen oder räumlichen Dissemination, was durch klinische oder radiologische Befunde geschehen kann. Große diagnostische Bedeutung hat im europäischen Raum der Liquorbefund. Es findet sich eine leichte (maximal 150/3 Zellen) lympho-plasmozytäre Pleozytose mit normalem Proteingehalt. Das IgG ist vermehrt. Im Vergleich mit dem Serum-IgG lässt sich die autochthon im Zentralnervensystem stattfindende IgG-Produktion nachweisen. In der isoelektrischen Fokussierung zeigen sich oligoklonale IgG-Banden (Subfraktionen der γ-Globuline).
In der Kernspintomographie treten in der T2-gewichteten Aufnahme charakteristische, vorwiegend periventrikulär lokalisierte Entmarkungsherde auf (Abb. 1). Diese Läsionen können im gesamten Zentralnervensystem auftreten.
Die Differenzierung zwischen Tagesmüdigkeit und Fatigue bei Multipler Sklerose ist maßgeblich für die Wahl des Therapieansatzes. Da die Patienten meist nicht zwischen Schläfrigkeit einerseits und Erschöpfung, Abgeschlagenheit und Energielosigkeit andererseits differenzieren und weil depressive Verstimmungen hinzukommen können, ist häufig eine objektive Untersuchung der Symptomatik notwendig („Leistungs-, Schläfrigkeits- und Vigilanzmessung“ und „Psychometrische Fragebögen zum Befinden“). In Therapiestudien wird vor allem die Fatigue Severity Scale nach Krupp et al. (siehe Tab. 1) eingesetzt. Ergänzt werden zum Teil die MS-spezifische Fatigue Severity Scale und die modifizierte Fatigue Impact Scale. Schlafmedizinische Erkrankungen wie „Obstruktive Schlafapnoe“ und periodische Extremitätenbewegungen im Schlaf müssen bei deutlicher Tagesmüdigkeit als deren Ursachen durch „Messung im Schlaflabor“ ausgeschlossen werden. Ebenso muss die vorbestehende Medikation im Hinblick auf sedierende Nebenwirkungen überprüft werden.
Tab. 1
Fatigue Severity Scale nach Krupp. Jede Aussage wird von 1 (trifft nicht zu) bis 7 (trifft zu) bewertet und der durchschnittliche Wert berechnet. Durchschnittswerte über 4 weisen auf deutliche Fatigue hin
Ich habe weniger Motivation, wenn ich erschöpft bin
1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7
Körperliche Betätigung führt zu mehr Erschöpfung
1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7
Ich bin schnell erschöpft
1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7
Die Erschöpfung beeinflusst meine körperliche Belastbarkeit
1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7
Die Erschöpfung verursacht Probleme für mich
1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7
Meine Erschöpfung behindert körperliche Betätigung
1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7
Die Erschöpfung behindert mich an der Ausführung bestimmter Aufgaben und Pflichten
1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7
Die Erschöpfung gehört zu den drei mich am meisten behindernden Beschwerden
1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7
Die Erschöpfung hat Einfluss auf meine Arbeit, meine Familie beziehungsweise mein soziales Leben
1 – 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7

Therapie

Der akute Schub wird mit 500–1000 mg Methylprednisolon über 3–5 Tage behandelt. Zur Behandlung der Fatigue-Beschwerden wird am häufigsten Amantadin mit 2 × 100 mg/Tag (allerdings off-label) eingesetzt. In der Behandlung der Fatigue erfolgversprechender sind Medikamente, die Strukturschädigungen beeinflussen. Aminopyridine bewirken als Kaliumkanalblocker eine Leitungsverbesserung sowie eine zentrale Transmitterausschüttung. Sie waren in Deutschland in ihrer ursprünglichen Form nicht zugelassen. Zur Verbesserung der Gehstrecke ist allerdings jetzt das Aminopyridin Fampyridin zugelassen, das somit ebenfalls positiv auf die Fatigue wirkt.
Die MS-Therapie hat sich grundlegend gewandelt, die Therapie richtet sich nach der Aktivität der MS (gemessen an Schubfrequenz und Behinderungsprogression). Die bisherigen Basistherapeutika (Betainterferone und Glatiramerazetat) wiesen zum Teil eine positive Beeinflussung der Fatigue auf, zu Beginn der Behandlung ist sie durch Medikamentennebenwirkungen aber eher verstärkt. Die Einflüsse der neuen Therapien bei milder MS (Dimethylfumarat und Teriflunomid) auf Fatigue und Schläfrigkeit sind nicht untersucht. Ebenfalls gibt es keine Daten zu den Eskalationstherapien (Natalizumab, Gilenia, Lemtrada). Da alle neuen und noch neu hinzukommenden Präparate Strukturschäden verhindern, ist langfristig ein positiver Effekt auf die Fatigue zu erwarten.
Bei vielen MS-Patienten finden sich RLS-Beschwerden (Italian REMS Study 2008). Durch die Therapie des RLS ist ebenfalls eine Verbesserung der Schlafqualität und der Erschöpfbarkeit am Tage zu erreichen.
Die Patienten sollten sich wohldosiert, entsprechend ihrer individuellen Beeinträchtigung belasten, Erholungspausen sind wichtig. Überhitzung sollte vermieden werden. Zur Behandlung der Fatigue wurde auch Modafinil empfohlen. Widersprüchliche Ergebnisse, insbesondere Wirkverlust in höheren Dosierungen, machen aber dessen Wirksamkeit fraglich. Allerdings hat Modafinil eine aktivierende Wirkung über das aufsteigende retikuläre System. Unter Behandlung mit Dosen von 200 mg und 400 mg wurde eine signifikante Senkung des Scores der „Epworth Schläfrigkeitsskala“ (ESS) beschrieben, sodass ein Einsatz bei Tagesschläfrigkeit indiziert sein kann. Diesbezüglich vordringlich ist die Evaluation und Modifikation von Medikamenten mit sedierenden Eigenschaften wie Antispastika, ebenso die Behandlung von gestörtem Nachtschlaf aus anderer Ursache. Bei Patienten mit starken physischen Beeinträchtigungen und progredientem Verlauf nehmen die depressiven Störungen zu. Hier kann die Verordnung nichtsedierender „Antidepressiva“ wie Fluoxetin 10–40 mg oder Citalopram 20–40 mg indiziert sein.

Zusammenfassung, Bewertung

Zusätzlich zu den neurologischen Defiziten beklagen viele MS-Patienten eine Einschränkung ihrer Lebensqualität durch Fatigue. Die Tagesschläfrigkeit kann durch entzündliche Prozesse im aufsteigenden retikulären System begründet sein, ist aber vorwiegend durch häufig mit Multipler Sklerose assoziierten schlafmedizinische Erkrankungen bedingt, wie periodische Extremitätenbewegungen im Schlaf (PLMS), Restless-Legs-Syndrom und Obstruktive Schlafapnoe. Die Genese der Erschöpfung ist multifaktoriell und im Wesentlichen mit physischen Defiziten assoziiert. Zusätzlich nehmen bei zunehmender Krankheitsprogredienz auch die depressiven Störungen zu. Mittels differenzierter Instrumentarien müssen Tagesschläfrigkeit und Fatigue unterschieden werden, damit sich die Gestaltung der Therapie daran orientieren kann. Die Therapie der Multiplen Sklerose mit immunmodulierenden Substanzen scheint sich auch langfristig positiv auf die Fatigue auszuwirken.
Literatur
Italian REMS study GROUP, Manconi M, Ferini-Strambi L et al (2008) Multicenter case-control study on restless legs syndrome in multiple sclerosis: the REMS study. Sleep 31:944–952CrossRef
Kotterba S (2009) Schlaf, zirkadiane Rhythmik und Fatigue. In: Penner IK (Hrsg) Fatigue bei Multipler Sklerose. Hippocampus, Bad Honnef, S 87–94
Kotterba S, Eren E, Fangerau T et al (2003) Differenzierung von Müdigkeit und Fatigue bei Multipler Sklerose – Vergleich unterschiedlicher Messinstrumente. Fortschr Neurol Psychiatr 71:590–594CrossRef
Krupp LB, Coyle MD, Doscher C et al (1995) Fatigue therapy in multiple sclerosis: results of a double-blind, randomized, parallel trial of amantadine, pemoline, and placebo. Neurology 45:1956–1961CrossRef
Masur KF, Neumann M (2005) Neurologie. Thieme, Stuttgart
Polmann C et al (2011) Diagnostic criteria for multiple sclerosis: 2010 revisions to the McDonald criteria. Ann Neurol 69:292–302CrossRef
Stankoff B, Waubant E, Confavreux C et al (2005) Modafinil study group. Modafinil for fatigue in MS. Neurology 64:1139–1143CrossRef
Veauthier C, Gaede G, Radbruch H et al (2013) Treatment of sleep disorders may improve fatigue in multiple sclerosis. Clin Neurol Neurosurg 115(9):1826–1830CrossRef