Personenbezogene Veränderungsmessung
Personenbezogene Veränderungen beziehen sich – wie der Name sagt – auf Denk- und Verhaltensmuster, die in der Person verankert sind (Treuthardt
2017). Dies können beispielsweise unzureichende Konflikt- oder Stressbewältigungsstrategien, Suchterkrankungen, Schizophrenie, Persönlichkeitsstörungen oder antisoziale Einstellungen sein. Eine nachhaltige Veränderung in diesen Bereichen kann in der Regel nur anhand intensiver Bearbeitung mithilfe von Interventionen erfolgen. Dementsprechend erstreckt sich eine Veränderung über lange Zeiträume.
Abschließend erfolgt eine Gesamtbewertung des Veränderungspotenzials ebenfalls auf einer 4‑stufigen Likert-Skala (−− kaum vorhanden, − etwas vorhanden, + moderat vorhanden, ++ deutlich vorhanden). Die Gesamtbewertung erfolgt nicht anhand einer rein statistischen Auswertung der Bewertungen der Bereiche Wollen, Wissen und Können. Vielmehr soll, unter Berücksichtigung der Bewertungen, eine übergeordnete Einschätzung getroffen werden, die u. U. auch aus den Unterlagen ersichtliche weitere Einflüsse beachtet (beispielsweise früheres Verhalten im Vollzug, mögliche Manipulationstendenzen, früheres Verhalten nach Entlassung). Die Gesamtbewertung soll immer ausreichend begründet werden, um Rückschlüsse auf die Ergebnisfindung ziehen zu können.
Mittlerweile werden die SoC auch in verschiedenen forensischen Bereichen angewendet und erforscht, beispielsweise bei Intimpartner- und häuslicher Gewalt (Eckhardt et al.
2008), Straftätern mit psychischen Störungen (McMurran et al.
1998) oder Sexualstraftätern (Tierney und McCabe
2004).
Insbesondere in Bezug auf die erfolgreiche Feststellung von Behandlungsmotivation in Verbindung mit den SoC (Anstiss et al.
2011; Austin et al.
2011) zeigen sich weitgehend konsistente Befunde im forensischen Bereich. Ebenso scheinen Interventionen, die sich an der entsprechenden Stufe der SoC orientieren, gute Erfolge zu erzielen (Devereux
2009; Alexander und Morris
2008). Dies deckt sich mit den Befunden des RNR-Prinzips, nach denen eine erfolgreiche Behandlung der Person individuell angemessen sein muss (für einen Überblick über das RNR-Prinzip: Polaschek
2012). Insofern bietet sich eine Erweiterung des RNR-Prinzips um die SoC an, um Veränderungen in risikorelevanten Denk- und Verhaltensmustern individuell abbilden zu können.
Nach Prochaska et al. (
1992) gibt es 5 Stufen der Verhaltensänderung. Entgegen dem Namen ist das SoC-Modell kein klassisches Stufenmodell, da für gewöhnlich kein lineares Durchschreiten der Stufen möglich ist. Vielmehr kann eine Person mehrmals eine oder mehrere Stufen zurückfallen oder überspringen (Yong et al.
2015). Trotzdem wird auch im Folgenden von Stufen der Veränderung gesprochen, die allerdings nicht die Kriterien für Stufen im Sinne der wissenschaftlichen Definition erfüllen
1.
Grundsätzlich sollten die SoC für jedes problematische Verhaltensmuster isoliert betrachtet werden. Weist eine Person beispielsweise das Problemverhalten Rauchen und das Problemverhalten körperliche Inaktivität auf, ist nicht davon auszugehen, dass die Verhaltensweisen zusammengehören. Dementsprechend würde hier keine übergeordnete SoC zugeordnet werden, sondern jeweils eine für Rauchen und eine für körperliche Inaktivität.
Im Folgenden werden die Stufen entsprechend der deutschen Übersetzung der Violence Risk Scale nach Haubner-MacLean et al. (
2013) ins Deutsche übersetzt. In Anlehnung an die Faktorenanalyse, die der Erstellung des gängigen Selbstbeurteilungsfragebogens URICA zur Messung der SoC zugrunde liegt (DiClemente und Hughes
1990), wird die dritte Stufe –
Vorbereitung – nicht berücksichtigt. Da der URICA in der Originalversion oder in modifizierter Form bei fast allen Messungen der SoC verwendet wird, ist es auch in der Literatur sehr weit verbreitet, lediglich 4 Stufen zu berücksichtigen.
In Tab.
1 sind beispielhafte Aussagen für jede SoC aufgeführt.
Tab. 1
Beispielhafte Aussagen für jede Stage of change
„Ich habe kein Problem.“ „Ich habe nichts falsch gemacht.“ „Wenn der andere nichts gemacht hätte, wäre auch nichts passiert.“ „Vielleicht habe ich ein Problem, aber ich kann eh’ nichts daran ändern.“ | „Ich habe ein Problem und sollte daran arbeiten.“ „Ich möchte nicht mehr so sein.“ „Ich möchte eine Therapie machen.“ | „Ich arbeite aktiv daran mich zu ändern.“ „Ich kann erste Veränderungen an mir feststellen.“ „Ich bin dabei, mich von schlechten Einflüssen aus meinem Umfeld loszusagen.“ | „Ich möchte meine Änderung aufrechterhalten.“ „Ich kenne Strategien, um auch nach meiner Entlassung mit meinem Problem zurechtzukommen.“ „Ich kann mich auch in Risikosituationen kontrollieren.“ |
Zudem ist es so, dass sich in vielen Fällen die Chancen für Haftlockerungen und eine frühzeitige Entlassung durch die Teilnahme an einer (gerichtlich oder behördlich) angeordneten Intervention erhöhen. Diese Ausgangslage bewirkt, dass viele Straftäter eine starke extrinsische Veränderungsmotivation aufweisen. Bei der Einstufung muss also darauf geachtet werden, nicht nur verbale Aussagen des Straftäters, sondern auch früheres und aktuelles Verhalten zu berücksichtigen, um so Rückschlüsse auf die intrinsische Motivation ziehen zu können.
Des Weiteren sind Eigenschaften zu berücksichtigen, die eine Einstufung erschweren. Beispielhaft sind hierbei Personen mit pädophilen Neigungen zu nennen. Ein pädophiler Straftäter könnte durchaus eine ausgeprägte Absicht zur Verhaltensänderung haben und deliktpräventive Strategien erarbeiten. Im stationären Setting ohne Lockerungen ist es jedoch in der Regel nicht möglich, zu überprüfen, inwiefern die erarbeiteten Strategien auch in Risikosituationen umgesetzt werden können. In diesem Fall sollten Lockerungen und Ausgänge vorsichtig gewährt werden, um den Straftäter schrittweise mit Risikosituationen zu konfrontieren, damit er lernen kann, die Strategien erfolgreich umzusetzen.
Eine weitere Eigenschaft, die die Einstufung erschwert, sind Manipulationstendenzen. Ein Straftäter mit ausgeprägten Manipulationstendenzen könnte beispielsweise versuchen, eine deutliche, andauernde Veränderung vorzutäuschen, tatsächlich aber keinerlei Veränderungsabsicht haben. Auch in diesem Zusammenhang sind also nicht nur verbale Aussagen, sondern auch früheres und aktuelles Verhalten für die Einstufung sehr relevant.
Generell haben Straftäter im geschlossenen Setting nur eingeschränkte Möglichkeiten, neu erarbeitete Einstellungen und Verhaltensweisen der Handlungs- und insbesondere der Aufrechterhaltungsstufe anzuwenden. Die Person muss die Gelegenheit haben, die geänderten Verhaltensweisen insbesondere auch in Risikosituationen zeigen zu können. Für die Feststellung einer erfolgreichen Bewältigung der Stufe der Aufrechterhaltung wird ein Beobachtungszeitraum von ungefähr 5 Jahren nach bedingter Entlassung vorgeschlagen. Dies stützt sich auf die Erkenntnisse aus der Rückfallforschung bei Straftätern, nach denen Rückfälligkeit größtenteils innerhalb der ersten 2 bis 3 Jahre nach der Entlassung vorkommt (Miraglia und Hall
2011; Schalast
2013). So konnten auch Jehle et al. (
2016) in einer deutschlandweiten Rückfalluntersuchung zeigen, dass es innerhalb der ersten 3 Jahre in 35,9 % der Fälle zu einem Rückfall kam. Nach 6 Jahren lag die Rückfallrate bei 44,8 % und nach 9 Jahren bei 48,3 %. Dementsprechend stieg die Rückfallrate nach 6 Jahren um 8,9 %, während nach 9 Jahren lediglich noch ein Anstieg um 3,5 % gefunden werden konnte. Bezugnehmend auf Rückfallfreiheit erläutern Blumstein und Nakamura (
2009), dass sich das Risiko einer erneuten Deliktbegehung – je nach Art des Delikts, das zur Inhaftierung geführt hat – nach 5 bis 8 Jahren der Delinquenzwahrscheinlichkeit der Population annähert, die niemals delinquent war.
Ausprägung des umwelt- und personenbezogenen Problemprofils
Die Ausprägung beruht – wie der Name besagt – auf der Ausprägung der risikorelevanten Denk- und Verhaltensmuster. In Anlehnung an die Global-Assessment-of-Functioning(GAF)-Skala (Saß und American Psychiatric Association
1998), die die Beurteilungsgrundlage der Achse V, globale Beurteilung des Funktionsniveaus, nach DSM-IV, darstellt, wird die Ausprägung der Risikoeigenschaften in 5 Kategorien eingeteilt. Die GAF-Skala umfasst 10 Gruppen, die jeweils 10 Codewerte umfassen (1–10, 11–20, 21–30, 31–40, 41–50, 51–60, 61–70, 71–80, 81–90, 91–100). Unter Umbenennung zur Ausprägungsskala werden die Gruppen der ursprünglichen GAF-Skala zusammenfassend umformuliert, um dem forensischen Rahmen zu entsprechen.
Der Umfang der Ausprägung bezieht sich auf die Beeinträchtigung der Persönlichkeit durch spezielle Eigenschaften, die potenziell zu einem Delikt führen. Hierbei wird im Folgenden von „risikorelevanten Denk- und Verhaltensmustern“ gesprochen. Frei nach der Definition für psychische Störungen nach Wittchen und Hoyer (
2011) wird das Ausmaß dieser risikorelevanten Denk- und Verhaltensmuster an ihrer Beeinträchtigung von verhältnismäßigen, psychischen oder biologischen Funktionsfähigkeiten im Alltag geschätzt. Sind risikorelevante Denk- und Verhaltensmuster entsprechend stark ausgeprägt, führen sie also in der Regel zu Einschränkungen und Problemen in verschiedenen zentralen Lebensbereichen (z. B. soziale Kontakte, Beziehungen, Arbeit und Gesundheit). Eine Ausnahme bilden hier insbesondere risikorelevante Denk- und Verhaltensmuster, die sich auf den Bereich der devianten Sexualität beziehen. Diese beeinträchtigen zwar in der Regel die Funktionsfähigkeit in zentralen Lebensbereichen wenig, können jedoch trotzdem stark oder sehr stark ausgeprägt sein. Ein Beispiel hierfür wäre die Pädophilie. Ein pädophiler Mensch kann eine hervorragende Funktionsfähigkeit im Alltag haben, sogar eine eigene Familie gegründet haben, lebt er seine Pädophilie jedoch bei jeder ihm sich bietenden Gelegenheit aus, wäre diese trotzdem deutlich ausgeprägt (Tab.
2).
Tab. 2
Beispiele für Tatpersonen der einzelnen Ausprägungsstufen
Eine Mutter sieht, wie ihrem Kind Gewalt angetan wird. Um dies zu verhindern, schlägt sie auf die Tatperson ein. Ein Mann wird auf der Straße überfallen. Um sich zu wehren, schlägt er der angreifenden Person heftig ins Gesicht. | Ein eher temperamentvoller Ehemann schlägt seiner Frau ins Gesicht, als er von ihrer Affäre erfährt. Eine junge Frau ist in großer Geldnot. Als einem Passanten 100 € aus der Tasche fallen, steckt sie diese ein, statt den Mann darauf aufmerksam zu machen. | Eine eigentlich friedliche, aber beeinflussbare Frau wird von ihren Freunden überredet, bei einem Raub mitzumachen. Sie gibt an, sich häufig von ihren Freunden ausgenutzt zu fühlen, weil sie nicht „Nein“ sagen kann. In einer von Eifersucht geprägten Beziehung schlägt ein Mann seine Freundin. Auch auf der Arbeit hat er gelegentlich Probleme wegen seiner aufbrausenden Art. | Ein pädophiler Pfadfinderleiter fasst seine Pfadfinder ungebührlich an, wenn er sich nicht beobachtet fühlt. Aufgrund seiner ausgeprägten Aggressivität verliert ein Mann häufig Arbeitsstellen, gerät ständig in Auseinandersetzungen und schlägt seine Frau und Kinder. | Ein Mann lockt junge Mädchen mit Fotoshootings, erstellt dann von ihnen pornografische Aufnahmen und missbraucht sie. Aufgrund ihrer langjährigen Drogenproblematik kann eine Frau nicht arbeiten, hat hohe Schulden und verbringt ihre Zeit mit anderen Abhängigen. Um ihren Konsum zu finanzieren, begeht sie häufig Diebstähle. |
In Tab.
2 sind beispielhaft Tatsituationen und -personen der einzelnen Ausprägungsstufen aufgeführt.
Im Zusammenhang mit der Ausprägungsskala steht die Unterscheidung zwischen
Situationstätern und
Persönlichkeitstätern (Urbaniok
2016). Beim
Situationstäter ergibt sich die Tatmotivation aus einer Tatausgangssituation, weitgehend unabhängig von stabilen Persönlichkeitsmerkmalen. Dies umfasst insbesondere die Stufe
sehr geringe Ausprägung und weitgehend auch die Stufe
geringe Ausprägung.
Beim Persönlichkeitstäter ergibt sich die Tatmotivation aus der Persönlichkeit des Täters. Es werden mitunter Situationen aufgesucht, die eine Straftat bedingen, oder diese Situationen werden gezielt geschaffen. Dies umfasst die Stufen starke Ausprägung und sehr starke Ausprägung.
Von einer konkreten Einteilung der Stufe moderate Ausprägung zum Situationstäter oder Persönlichkeitstäter wird hier abgesehen.
Wichtig zu beachten ist, dass die Schwere oder die Häufigkeit der Delikte nicht aus der Ausprägung ableitbar ist. Ebenso ist umgekehrt für die Einschätzung der Ausprägung weder die Qualität noch die Quantität der Delikte entscheidend. Es besteht jedoch gesamthaft ein Zusammenhang.
Die Ausprägung des umwelt- und personenbezogenen Problemprofils wird insbesondere im Prozessschritt Abklärung eingeschätzt. Auch während des Verlaufs sollte die Ausprägung beobachtet werden, allerdings ist eine Änderung der Ausprägung, wie bereits beschrieben, meist nur sehr langfristig möglich.