Wenn dissoziative Anfälle, also psychogene, nichtepileptische Anfälle als epileptische Anfälle fehlgedeutet werden, führt dies zu frustraner medikamentöser Therapie und verzögert die Einleitung der erforderlichen psychotherapeutischen Maßnahmen. Folgende Anfallssymptome sollten an dissoziative Anfälle denken lassen: unrhythmisches, wildes Hin- und Herbewegen des Kopfes oder der Extremitäten, geschlossene Augen, lange Dauer und undulierender Verlauf. Ein unauffälliges Elektroenzephalogramm (EEG) spricht für dissoziative Anfälle, aber erst ein negativer EEG-Befund während eines Anfalls ist beweisend. Im Arztgespräch ist es entscheidend, dass die Betroffenen die Möglichkeit bekommen, frei zu schildern. Betroffene mit dissoziativen Anfällen zeigen dann Besonderheiten, die als Diagnosekriterien genutzt werden sollten: Sie fokussieren auf Begleitumstände und lassen in ihren Schilderungen den Moment des Bewusstseinsverlusts aus. Sie machen eher allgemeine Angaben und unterscheiden einzelne Anfälle kaum.
Hinweise
Wissenschaftliche Leitung
Reinhard Berner, Dresden
Susanne Greber-Platzer, Wien
Berthold Koletzko, München
Antje Schuster, Düsseldorf
Lernziele
Nach Lektüre dieses Beitrags
kennen Sie die wichtigsten Kriterien, die Sie bei Anfallsschilderungen frühzeitig auch an dissoziative Anfälle denken lassen.
erheben Sie ab dem Grundschulalter die Anfallsanamnese zunächst ohne Eltern allein mit dem Kind oder Jugendlichen.
achten Sie bei der Anamnese nicht nur auf die geschilderten Inhalte, sondern auch auf die Art, wie die Betroffenen die Symptomatik schildern.
können Sie das Elektroenzephalogramm (EEG) und das Magnetresonanztomogramm (MRT) in der Bedeutung für die Diagnosestellung einschätzen.
Einleitung
Bei Anfällen mit eingeschränkter Reagibilität und unkontrollierten Bewegungen ist die häufigste Ursache eine Epilepsie oder eine konvulsive Synkope. Die selteneren dissoziativen Anfälle sehen ähnlich aus, haben aber als Ursache eine bislang wenig verstandene Psychodynamik. Die Ähnlichkeit ist so groß, dass im Jugendalter bis zu 4 Jahre (im Schnitt 18 Monate) vergehen, bis die richtige Diagnose gestellt wird [1], im Erwachsenenalter sind es sogar 7 Jahre [2].
Wenn dissoziative Anfälle fälschlich als epileptische Anfälle eingeschätzt werden, wird die übliche Therapie mit antiepileptischer Medikation wirkungslos sein und kann zudem Nebenwirkungen verursachen. Je mehr Zeit vergeht, bis die richtige Diagnose gestellt und die richtige Therapie eingeleitet werden, desto schlechter ist auch das Ansprechen auf die Therapie [3]. Ziel muss es also sein, dissoziative Anfälle zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu erkennen.
Grundlagen
Epidemiologie
In einer dänischen Studie des Jahres 2020 wird die Häufigkeit dissoziativer Anfälle in der Gruppe der 5‑ bis 17-Jährigen mit 7,4/100.000 angegeben [4]. Dies erscheint wenig. Innerhalb der Patientengruppe, die therapierefraktäre Anfälle haben, ist die Diagnose aber häufig. Sie wird bei erwachsenen Patient*innen, die in einem tertiären Epilepsiezentrum aufgenommen werden, mit 20–30 % angegeben [5].
Erschwert wird die Situation dadurch, dass ein Teil der Betroffenen sowohl epileptische als auch dissoziative Anfälle zeigt. In der oben genannten dänischen Studie hatten 14,2 % der Patient*innen mit dissoziativen Anfällen auch epileptische Anfälle [4]. Bei Erwachsenen sind es nach einer aktuellen Metaanalyse sogar 22 % [6].
Pathogenese
Dissoziative Anfälle werden in einem biopsychosozialen Modell als Folge des Zusammenwirkens einer ganzen Reihe von prädisponierenden, aufrechterhaltenden und auslösenden Faktoren verstanden [7]. Eine Zusammenfassung zeigt Abb. 1.
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Traumatisierende Erlebnisse in der Vorgeschichte sind häufig; in allen Studien gibt es aber auch Betroffene ohne eruierbare Traumata [9]. Zudem wird die Bedeutung umschriebener oder chronischer sexueller Traumatisierung im Kindes- und Jugendalter überschätzt [10].
Diagnostik
Im klinischen Alltag werden dissoziative Anfälle oft erst diagnostiziert, nachdem eine breit angelegte Ausschlussdiagnostik durchgeführt wurde. Dieses Vorgehen verkennt, dass eine Diagnosestellung oft auch durch eine „Einschlussdiagnostik“ möglich ist, die auf Anamnese und Anfallsbeobachtung beruht [11].
Hierbei kommt es darauf, an eine Arbeitsdiagnose so weit zu sichern, dass sie als Grundlage für die Einleitung der erforderlichen Therapien dienen kann. Dies gelingt mit den Mitteln, die im Folgenden dargestellt werden.
Anfallsbeobachtung
Durch die allzeit verfügbaren Handy-Kameras bekommt das medizinische Personal heutzutage viel mehr Anfallsvideos zu sehen als früher. Oft lassen sich typische Kennzeichen dissoziativer Anfälle identifizieren. In Abb. 2 sind Kennzeichen dissoziativer Anfälle dargestellt, die hochspezifisch sind [11].
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Merke
Handy-Videos sind zur Diagnosestellung oft sehr wertvoll.
Sehr typisch ist auch das unbeeinträchtigte Erwachen aus einem Anfall („Hallo, wo bin ich?“) ohne die postiktale Verwirrtheit und Müdigkeit, die nach lang dauernden epileptischen Anfällen obligat ist.
Bei einer Person, die bei Aufnahme in die Klinik mit dem Kopf heftig nach rechts und links schlägt, die nicht reagiert und die die Augen fest zukneift, kann die Diagnose mit so großer Sicherheit gestellt werden, dass weitere umfangreiche Untersuchungen zur Diagnosesicherung nicht nötig sind [11].
Epileptische Frontallappenanfälle gehen oft mit heftigen, proximalen Bewegungsstürmen und einer starken emotionalen Anmutung einher und können deshalb mit dissoziativen Anfällen verwechselt werden. Wichtigster Unterschied ist, dass Frontallappenanfälle überwiegend nur kurz dauern (<30 s) und gehäuft aus dem Schlaf heraus starten [12].
Elektroenzephalographie
Erwachsene ohne Epilepsie zeigen in <1 % der Fälle epilepsietypische Potenziale im EEG. Dennoch wird das EEG im anfallsfreien Intervall auch in dieser Altersgruppe in seiner Bedeutung für die Unterscheidung epileptischer und nichtepileptischer Anfallsereignisse überschätzt [5]. Die Aussagekraft ist bei Kindern und Jugendlichen noch geringer, da in dieser Altersgruppe epilepsietypische Potenziale vergleichsweise häufig vorkommen. So fanden Borusiak et al. in einer Studie mit 382 Kindern im Alter von 5 bis 13 Jahren, die wegen einer milden Kopfverletzung eingewiesen worden waren, bei 25 Kindern epilepsietypische Potenziale. Dies entspricht 6,5 % [13]. Epilepsietypische Potenziale im EEG dürfen also bei Kindern niemals dazu führen, dass die Möglichkeit dissoziativer Anfälle ausgeschlossen wird. Zudem zeigen 14,2 % der Kinder und Jugendlichen mit gesicherten dissoziativen Anfällen auch epileptische Anfälle [4].
Cave
Auch mehrfach unauffällige EEG-Befunde schließen eine Epilepsie nicht aus.
Anfallsschilderung
Ein Forscherteam aus Bielefeld konnte Ende des letzten Jahrhunderts mithilfe der Konversationsanalyse zeigen, dass sich die Art, wie Menschen ihre dissoziativen Anfälle schildern, grundsätzlich unterscheidet von der Art, in der Menschen mit Epilepsie ihre Anfälle schildern [14, 15]. Spätere Untersuchungen in England [16], Italien [17] und Frankreich [18] bestätigten und erweiterten die Methode. Eine Anwendung dieser Forschungsergebnisse im klinischen Alltag kann rasch erlernt werden [19].
Worum geht es bei der Methode? Das Erleben von Anfällen ist für alle Menschen ein einschneidendes Erlebnis – egal, ob diese Anfälle epileptisch oder dissoziativ sind. Wenn Betroffene aber mit einer offenen Eingangsfrage zum Erzählen auffordert werden, betonen Menschen mit epileptischen Anfällen andere Themen als Menschen mit dissoziativen Anfällen (Tab. 1).
Tab. 1
Unterscheidung dissoziativer und epileptischer Anfälle anhand der Art der Anfallsschilderung. (Nach Opp et al. [20])
Die Betroffenen …
Dissoziativ
Epileptisch
Differenzieren zwischen verschiedenen Anfallsepisoden
(+)
+++
Schildern subjektive Wahrnehmungen und Empfindungen
(+)
+++
Fokussieren den Moment des Bewusstseinsverlusts
(+)
+++
Schildern den Versuch, den Anfall zu stoppen
(+)
+++
Fokussieren Begleitumstände
+++
(+)
Lassen in Schilderungen den Moment des Bewusstseinsverlusts aus
+++
(+)
Nutzen holistische Äußerungen in der Anfallsschilderung („ich bin immer am Zittern“)
+++
(+)
Betonen das Ausgeliefertsein im Anfall
+++
(+)
Die Autoren der benannten Studien heben hervor, dass der Unterschied in der Schilderung des Anfallserlebens nur dann in der Anamneseerhebung deutlich wird, wenn in der Anamnese wirklich Raum für freie Schilderungen gegeben wird. Statt also konkrete Symptome zu erfragen („Was genau hast Du als Erstes gespürt?“), soll zu freier Erzählung ermuntert werden: „Kannst du mir mal sagen, was los ist?“
Merke
Die Unterschiede in der Schilderung dissoziativer und epileptischer Anfälle werden nur deutlich, wenn der Untersucher mit dem Kind allein spricht und offene Fragen stellt.
Nach der Erfahrung der Autoren des vorliegenden Beitrags gelingen offene Gespräche kaum, wenn ein Elternteil dabei ist. Eltern sind zumeist viel zu sehr darin routiniert, für ihre Kinder zu antworten, wenn diese nach Worten ringen. Aber gerade dieses Ringen um die Beschreibung dessen, was wichtig ist, liefert die entscheidenden Hinweise.
Diese Forschungsergebnisse wurden mit einer Ausnahme [17] zumeist nur aus der Analyse von Gesprächen gefunden, die mit erwachsenen Patient*innen geführt wurden. In der Studie Linguistic Analysis of Diagnostic Interviews in Young Patients (LADY) wird seit 2017 der Frage nachgegangen, wie diese Kriterien modifiziert werden müssen, wenn die Gespräche mit Kindern oder Jugendlichen geführt werden. Analysiert wurden bislang 51 Gespräche, die zur Abklärung von paroxysmalen Ereignissen geführt worden waren. Hierbei zeigt sich, dass die oben beschriebenen systematischen Unterschiede in den Anfallsschilderungen auch für Kinder und Jugendliche gelten, ja dass sie bei diesen aufgrund geringer ausgeprägter Erzählroutinen häufig sogar deutlicher und klarer erkennbar sind (Veröffentlichung in Vorbereitung).
Jugendliche mit epileptischen Anfällen bemühen sich wahrnehmbar darum, das Anfallsgeschehen differenziert und nachvollziehbar darzustellen. Sie stellen Unterschiede zwischen den Anfällen dar und geben auch ihre subjektiven Empfindungen vor und während des Anfalls preis: Beim Zuhören entsteht so eine klare Vorstellung von den Anfällen. Oft machen die Betroffenen spontan deutlich, was eigenes Erleben ist und was nur erzählt wurde.
Fallbeispiel 1: Epilepsiepatientin (9,1 Jahre)
Arzt: „Ich würd’ gern nochmal von dir hören, was los ist. Kannst du mir das nochmal sagen?“
Pat. 89: (leise) „Ich habe einen Krampf im Bein bekommen.“
Arzt: „Ja?“
Pat. 89: „Ich war – ich wollte schlafen gehen – ich hab zwei – also ich hab zwei Krampfanfälle bekommen: Der erste war so, hm, ich weiß nicht, dreißig Sekunden oder so, ich weiß nicht genau.“
Arzt: „Wieso weißt du, wie lang der war? Hast du das mitgekriegt?“
Pat. 89: „Ja also: Ich war dann bewusst. Also im zweiten war ich also nicht so bewusst, mhm, ehm, in der zweiten, äh, is’ nach dreißig Minuten passiert, dann, äh, meine Mutter war nicht da. Ich wollte schnell zu sie rennen, weil, ich hab gehört, wie sie reden, ich hatte Angst, dass sie mich nicht hören, und ja, drum wollt ich schnell zu sie rennen. Auf einmal wurd’ ich schwach und bin umgefallen, genau vor den Türgriff oder vor den Heizung, und da hab’ ich mich auf den Augen gestoßen und dann bin ich auf den Boden geklatscht.“
Patientin P89 schildert hier zwei Anfälle, die im Abstand von ca. 30 min stattgefunden haben. Der erste, kürzere Anfall wurde bewusst von ihr selbst erlebt, während sie beim zweiten Anfall bewusstlos war. Nach der Präzisierungsfrage des Arztes erzählt P89 den genauen Ablauf des zweiten Anfalls. Ausgangspunkt ist die Angst der Patientin, die der erste Anfall ausgelöst hatte und die sie dazu veranlasst, zu ihrer Mutter zu rennen. Auf dem Weg dahin ereilt sie der zweite Anfall, bei dem es zur Bewusstlosigkeit kommt. P89 schildert den Ablauf chronologisch und teilt auch ihre Empfindung mit. Auf diese Weise werden dem Zuhörer die Abläufe und Empfindungen klar nachvollziehbar.
Jugendliche mit dissoziativen Anfällen differenzieren nicht zwischen verschiedenen Anfällen, sie schildern die Abläufe bruchstückhaft und ungeordnet und unterbrechen ihre Schilderungen durch holistische Äußerungen der Art „dann bin ich weg“ oder „dann weiß ich nix mehr“. Der Zuhörer wird bei diesen Anfallsschilderungen eher verwirrt und ratlos. Subjektive Empfindungen werden gar nicht mitgeteilt (Abb. 3), stattdessen liegt der Fokus der Schilderung eher auf Elementen der situativen Begleitumstände der Anfälle [17].
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Merke
Die Schilderung dissoziativer Anfälle verwirrt den Untersucher oft.
Auf die Erzählaufforderung des Arztes hin betont Patientin P123 zunächst, dass sie selbst keine genaue Auskunft über ihre Anfälle geben kann. Was sie davon erinnert, wird vage mit „die Sachen so“ angegeben. Sie schildert im Folgenden zwei verschiedene Anfallsereignisse, die sich im Ablauf stark ähneln. In beiden Fällen bricht die Schilderung nach der Ausgangssituation (nach dem Reiten) ab. Darauf folgt jeweils ein Einschub, der die eigene Wissens- oder Erinnerungslücke zum weiteren Ablauf indirekt anzeigt „dann is’ ja eigentlich normal, dass man halt zurückgeht“ „ist ja normal, dass man nach Hause geht“.
Fallbeispiel 2: Patientin mit dissoziativer Störung (14,5 Jahre)
Arzt: Was kannste dazu erzählen?
Pat. 123: Also ich weiß eigentlich gar nix – also ich weiß dann, wo ich aufgewacht bin. Hm-hm? Und ja, ich weiß halt sonst nur die Sachen so: Also, als ich das erste Mal umgekippt bin, da war ich vorher ausreiten. Und dann hatte ich mein Pferd auf die Wiese gestellt. Und dann is’ ja eigentlich normal, dass man halt zurückgeht. Und dann, ja, bin ich wohl zurückgegangen. Und dann weiß ich nichts mehr. Hm, hm. Und jetzt beim zweiten Mal Umkippen, da bin ich mit’m Fahrrad von zu Hause also vom Pferd nach Hause gefahrn. Und ja da weiß ich halt auch nichts mehr. Da wollt ich ja, eigentlich. Ist ja normal, dass man nach Haus geht (deutet Lachen an) Hm, hm, und joa. Und dann bin ich, ähm, beide Male im (leise) Krankenhaus aufgewacht.
Der Anfall selbst wird sprachlich gar nicht gestaltet. Es folgen holistische Bemerkungen: „und dann weiß ich nichts mehr“ bzw. „und da weiß ich halt auch nichts mehr“. Pauschal für beide Anfälle wird dann das Wiedererlangen des Bewusstseins im Krankenhaus geschildert. Beide Anfallsepisoden werden in einer sprachlichen Gleichförmigkeit gestaltet. Beide werden in der Chronologie durch Kommentare und holistische Aussagen zum Nichtwissen durchbrochen. In beiden fehlt jeder Hinweis auf das subjektive Empfinden der Patientin vor oder während der Anfälle. Beim Hörer entsteht dadurch der Eindruck von Unklarheit und großer Unsicherheit bei der Patientin über das Anfallsgeschehen.
Gesprächsdynamik
Sehr lohnend ist es, wenn die Untersuchenden darauf achten, welche Gefühle die Schilderungen bei ihnen hervorrufen. Dies ist im Sprachjargon der Psychoanalyse die „Gegenübertragung“. Wenn die Untersuchenden zunehmend genervt sind und den Eindruck haben, dass Fragen eher eine ungebührliche Zumutung für die Patient*innen sind, die doch alles schon erzählt hat, weist dies deutlich in Richtung dissoziativer Anfälle.
Merke
Es lohnt, auf die Gegenübertragung zu achten.
Wenn die Untersuchenden sich aber im freien Abwarten der spontanen Schilderungen angeregt fühlen, weil der/die Patient*in signalisiert, dass es ihm/ihr guttut, dass endlich jemand in Ruhe zuhört und genau wissen will, was sie bei so einem Anfall erlebt, ist dies ein diagnostisch verwertbarer Hinweis auf eine somatische, nichtpsychische Ursache der Anfälle.
Anfallsprovokation
Dissoziative Anfälle können während der EEG-Ableitung provoziert werden, indem man den Betroffenen mitteilt, dass man eine Substanz spritzt, die Anfälle auslöst. Die Autoren lehnen diese Art der Täuschung ab, da sie aus ihrer Sicht das Vertrauensverhältnis zwischen medizinischem Personal und Betroffenen nachhaltig stört und damit die therapeutische Bearbeitung der Erkrankung erschwert.
Es ist aber möglich zu erklären, dass die im EEG routinemäßig durchgeführten Aktivierungsmethoden Hyperventilation und Fotostimulation sowohl epileptische als auch dissoziative Anfälle provozieren können. Auch dies kann dazu führen, dass dissoziative Anfälle während der EEG-Untersuchung auftreten [21].
Bildgebende Untersuchung
Zum Routineprogramm bei unklaren paroxysmalen Ereignissen gehören kraniale (c)MRT-Untersuchungen. Es ist aber zu bedenken, dass es zum einen viele Menschen mit einer Epilepsie gibt, die keine strukturellen MRT-Auffälligkeiten aufweisen. Zum anderen sind strukturelle Läsionen bei Menschen mit dissoziativen Anfällen häufig [22].
Diagnosesicherung
Wenn nach der bis hier aufgeführten Diagnostik Zweifel am Vorliegen dissoziativer Anfälle bestehen bleiben, muss eine weitere Sicherung der Diagnose angestrebt werden. Einen Überblick darüber, welcher Grad an Diagnosesicherheit mit welcher Methode erreicht werden kann, gibt Tab. 2. Goldstandard zur Diagnosesicherung ist die Aufzeichnung einer Anfalls im Video-EEG. Am besten gelingt dies in einem Langzeit-EEG-Video-Monitoring.
Tab. 2
Kriterien der International League against Epilepsy Nonepileptic Seizure Task Force, die erforderlich sind, um einen bestimmten Grad an Diagnosesicherheit zu erreichen. (Aus Lafrance et al. [23], Übersetzung durch den Autor)
Diagnostische Sicherheit
Anamnese
Beobachtetes Ereignis
EEG
„Möglich“
+
Durch Zeugen oder Selbstaussage
Keine epilepsietypischen Potenziale im interiktalen EEG
„Wahrscheinlich“
+
Arzt/Ärztin beurteilt Anfallsvideo
Keine epilepsietypischen Potenziale im interiktalen EEG
„Klinisch belegt“
+
Ein/eine in der Beurteilung von Anfällen erfahrener/erfahrene Arzt/Ärztin sieht den Anfall (im Video oder live)
Keine epilepsietypischen Potenziale während des Anfalls, aber ohne Video
„Gesichert“
+
Ein/eine in der Beurteilung von Anfällen erfahrener/erfahrene Arzt/Ärztin sieht den Anfall im Video mit simultanem EEG
Keine epilepsietypischen Potenziale vor, während und nach einem Anfall im Video-EEG
EEG Elektroenzephalogramm
Wie es nach der Diagnosestellung weitergeht
Diagnoseübermittlung und therapeutisches Vorgehen beschreibt Popkirov ausführlich in seinem Buch Funktionelle neurologische Störungen auf aktuellem Stand (2020; [11]). Dort werden konkrete Hinweise für eine strukturierte Vermittlung der Diagnose gegeben, die die wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie ist. In der anschließenden Psychotherapie kommen verschiedene Verhaltenstherapien infrage.
Nach den Erfahrungen der Autoren ist bei Jugendlichen mit dissoziativen Anfällen die mangelnde Krankheitseinsicht und damit die fehlende Therapiemotivation die größte Hürde für eine erfolgreiche Therapie.
Die Prognose ist bei Kindern und Jugendlichen ähnlich wie bei Erwachsenen. In einer Studie mit 32 Jugendlichen wurden unter adäquater Psychotherapie 59 % ganz und 21 % fast anfallsfrei [24], während eine Metaanalyse von Studien mit Erwachsenen ergab, dass nach einer therapeutischen Intervention 47 % ganz anfallsfrei wurden und 25 % deutlich weniger Anfälle hatten [25].
Merke
Im Jugendalter wird knapp die Hälfte der Betroffenen unter adäquater Therapie anfallsfrei.
Als Lektüre für Betroffene und ihre Familien sind die ersten 3 Arbeiten der Januar-Ausgabe 2021 der Zeitschrift einfälle (Deutsche Epilepsievereinigung) sehr zu empfehlen [26, 27, 28].
Fazit für die Praxis
Dissoziative Anfälle können epileptischen Anfällen sehr ähneln und werden deshalb oft viel zu spät diagnostiziert.
Es gibt typische Kennzeichen der Anfälle und der Anfallsschilderung, die die frühzeitige Diagnosestellung erlauben.
Eine Anfallsanamnese, die allein mit den Kindern/Jugendlichen erhoben wird, liefert durch die Art, wie diese über die Anfälle berichten, entscheidende Kriterien für die Diagnosestellung.
Epilepsietypische Potenziale im EEG sprechen zwar sehr für eine Epilepsie als Ursache von Anfällen. Diese Potenziale treten aber auch bei Kindern und Jugendlichen ohne Epilepsie auf.
Wenn Zweifel an der Diagnose bleiben, muss versucht werden, die Anfälle in einem Langzeit-Video-EEG-Monitoring aufzuzeichnen.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
Gemäß den Richtlinien des Springer Medizin Verlags werden Autoren und Wissenschaftliche Leitung im Rahmen der Manuskripterstellung und Manuskriptfreigabe aufgefordert, eine vollständige Erklärung zu ihren finanziellen und nichtfinanziellen Interessen abzugeben.
Autoren
J. Opp: A. Finanzielle Interessen: Forschungsförderung zur persönlichen Verfügung: Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie (DGSPJ) mit € 4000,–, Wagener-Stiftung mit € 13.805,–, Deutsche Gesellschaft für Epileptologie (DGfE) mit € 5000,–. – B. Nichtfinanzielle Interessen: Chefarzt am Sozialpädiatrischen Zentrum am Evangelischen Krankenhaus Oberhausen, ermächtigter EEG-Ausbilder der Deutschen Gesellschaft für klinische Neurophysiologie und funktionelle Bildgebung DGKN, | Mitgliedschaften: Deutsche Gesellschaft für Neuropädiatrie, Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Neuropädiater, Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin, Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, Ärztliche Akademie für Entwicklungsförderung und Gesundheit des Kindes und Jugendlichen e. V., Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM). B. Job: A. Finanzielle Interessen: B. Job gibt an, dass kein finanzieller Interessenkonflikt besteht. – B. Nichtfinanzielle Interessen: Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Professorin | keine Mitgliedschaft in medizinischen Gesellschaften/Verbänden. Die vorgestellten Forschungsergebnisse wurden durch Forschungsgelder der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie DGSPJ und der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie DGfE, sowie der Wagener Stiftung für Sozialpädiatrie ermöglicht.
Wissenschaftliche Leitung
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Der Verlag
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Die im Text zitierten Ergebnisse unserer Forschungsarbeit wurden durch Studien am Menschen gewonnen. Für unsere wissenschaftliche Arbeit haben wir ein positives Ethikvotum der Ärztekammer Nordrhein. Für die anderweitig aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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