Einleitung
Anhand von Berechnungen aus dem Jahr 2008 kann in Deutschland jährlich von bis zu 38.000 Schwerverletzten (Mehrfachverletzungen und/oder Polytrauma) ausgegangen werden [
1,
2]. Zumeist führen in Deutschland Verkehrsunfälle zu einem Polytrauma (55 %), gefolgt von Arbeits- und Freizeitunfällen (24 %) sowie einem Sturz aus größerer Höhe (14 %) [
3,
4].
Die Letalität eines Polytraumas ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten unverändert hoch und schwankt zwischen 13 und 34 %, in Abhängigkeit von verschiedenen Definitionen, Untersuchungen und Altersgruppen [
3,
5]. In der Altersgruppe bis 40 Jahre stellt das schwere Trauma die häufigste Todesursache in Deutschland dar [
3]. Im Anschluss an die präklinische Versorgung erfolgt die innerklinische Polytraumaversorgung in der Regel in besonders dafür ausgestatteten Schockräumen. Dabei ist der Schockraum sowohl die Schnittstelle zwischen Präklinik und Klinik als auch die Institution, welche über den weiteren Behandlungspfad des Patienten innerhalb des Krankenhauses entscheidet.
Der Faktor Zeit ist ein Parameter, welcher in entscheidender Weise über das Überleben des Patienten mitentscheidet [
6]: So sinkt bei Patienten mit intraabdominellen Blutungen und Volumenmangelschock die Überlebenswahrscheinlichkeit um 1 % mit jeder Verzögerung einer Notfalllaparotomie um 3 min [
6]. Durch interdisziplinäre Absprachen, klinikinterne Leitlinien, klinische Behandlungspfade und „standard operating procedures“ (SOP) konnten optimierte Behandlungsabläufe geschaffen werden. Inwieweit die Anwesenheit eines Schockraumkoordinators das Überleben der Patienten verbessert, ist weiterhin Gegenstand von Diskussionen [
6‐
8]. Es konnte gezeigt werden, dass es durch die Einführung eines Schockraumkoordinators zu verbesserten Versorgungs- und Behandlungsabläufen kam [
9]. Seine Tätigkeitsschwerpunkte liegen beispielsweise in der Übergabe und Untersuchung der Patienten, der Koordinierung aller Teammitglieder und ihrer diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen, dem Hinzuziehen anderer Fachdisziplinen und der Kontaktaufnahme mit Angehörigen [
9]. Es ist zu vermuten, dass durch die verbesserten, zentral koordinierten Behandlungsabläufe die Schockraumversorgung binnen kürzerer Zeit zum Abschluss gebracht werden kann.
Ziel der vorliegenden Arbeit war zu prüfen, ob es nach klinikinterner Implementierung der geforderten Neuerungen im Rahmen der S3-Leitlinie Polytrauma mit Einsatz eines Schockraumkoordinators zu einer zeitlichen Optimierung des Behandlungsablaufes kam.
Material und Methoden
Im Jahr 2011 wurde an der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin eine neue SOP zur Polytraumaversorgung implementiert, die die damals publizierte S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletztenversorgung vollumfänglich umsetzt. Weiterhin wurden das für die gesamte Uniklinik geltende Schockraumkonzept, einige Behandlungspfade und die personelle Zusammensetzung des Schockraumteams angepasst. Unter anderem wurde das Schockraumteam um die Funktion des Schockraumkoordinators erweitert. Die SOP „Polytraumaversorgung“ wurde von allen beteiligten Institutionen signiert.
Datenakquise
Die Akquise und Identifizierung der Patienten für die vorliegende Arbeit erfolgten anhand der ANDOK-Protokolle der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin der Uniklinik Köln. Hierbei wird beim Eintreffen des Patienten im Schockraum die Übergabe des Notarztes (Auffindesituation, Unfallmechanismus, weitere Anamnese, Erstversorgung) durch den Anästhesisten dokumentiert. Im Folgenden werden die weiteren Schritte der Schockraumversorgung (Maßnahmen, Diagnosen, Zeitintervalle) standardisiert dokumentiert. Diese Protokolle wurden anschließend digital in der Patientenakte archiviert und waren für die Analyse zugänglich (ANDOKlive; Fa. DATAPEC Medical Solutions, Pliezhausen).
Um einen adäquaten zeitlichen Abstand zum Zeitpunkt der Neueinführungen (2011) einzuhalten, wurden nicht die unmittelbar aneinander angrenzenden Jahre 2010 und 2011, sondern die Jahre 2009 und 2012 zum Vergleich herangezogen: Alle eingescannten Schockraumprotokolle der Jahre 2009 (01.01.2009–31.12.2009) und 2012 (01.01.2012–31.12.2012) wurden nach ihrer Herkunft (Schockraum, Saal-Code 950) vorselektiert, gesichtet und ausgewertet. Im Anschluss wurden alle Protokolle einzeln ausgewertet.
Datenanalyse
Die genannten Parameter wurden in ein Programm zur Tabellenkalkulation (Excel, Microsoft und OpenOffice 4.1.4) eingefügt und statistisch ausgewertet. In Bezug auf den Vergleich beider Gruppen (Jahre 2009 und 2012) wurde für den t‑test, den Kruskal-Wallis-Test sowie den χ
2-Test das statistische „online tool“ über
www.socscistatistics.com verwendet. Das Signifikanzlevel wurde mit <0,05 festgelegt.
Vonseiten der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln wurde aufgrund des retrospektiven Studienansatzes mit anonymisierten Daten keine Notwendigkeit der Beratung gesehen, da lediglich bereits vorliegende Daten erfasst und ausgewertet wurden (Bescheid vom 27.05.2013; Az. 13-134).
Diskussion
In Deutschland ist mit einer anhaltend hohen Anzahl schwer verletzter Patienten zu rechnen. Das betrifft zu großen Anteilen Patienten im erwerbstätigen, aber auch Patienten im fortgeschrittenen Lebensalter und begründet die Notwendigkeit einer optimalen Versorgung dieser Patienten. Hierbei können SOP, Leitlinien und der Schockraumkoordinator zu einer Verkürzung der Versorgungszeiten beitragen.
In der vorliegenden Studie lag die Schockraumdauer im Jahr 2009 geringfügig über der des Jahres 2012, allerdings war dieser Unterschied nicht statistisch signifikant. Es zeigt sich, dass die mittlere Schockraumdauer in der vorliegenden Arbeit in beiden Jahren geringfügig über der des Traumaregisters liegt [
10,
11]. Die Streubreite der Daten des Traumaregisters ist beachtlich; in dieser Hinsicht ähneln beide Untersuchungen einander.
Wutzler et al. untersuchten in ihrer Studie aus dem Jahr 2010 Zeitintervalle während und nach der Schockraumversorgung anhand der Daten des Traumaregisters und fanden eine durchschnittliche Versorgungsdauer im Schockraum von 77,7 ± 43,5 min. Darüber hinaus zeigte sich eine Tendenz zu kürzeren Versorgungszeiten bei höherer Verletzungsschwere [
12]. Die Schockraumdauer im eigenen Kollektiv lag mit 74,8 min im Jahr 2009 und 69 min im Jahr 2012 geringfügig darunter. Die Zeit zum CT unterschied sich im Jahr 2009 nur geringfügig von der im Jahr 2012. Allerdings ist auch in dieser Untersuchung die Streubreite der Werte beachtlich.
Vor der Kernarbeitszeit wurden Schockraumpatienten im Jahr 2009 (Abb.
3) im Mittel schneller der CT zugeführt als im Jahr 2012 (19,5 min vs. 40,5 min,
p = 0,23). Sowohl innerhalb als auch nach der Kernarbeitszeit waren die Patienten im Jahr 2012 schneller im CT (innerhalb der Kernarbeitszeit: 44,5 min vs. 41,1 min (
p = 0,44); nach der Kernarbeitszeit: 88,3 min vs. 75,1 min (
p = 0,37)). Die Ursache für die Streuung ist multifaktoriell, trotzdem wurden die verschiedenen Zeitintervalle auf ihre Plausibilität hin beurteilt: In beiden Jahren kam es zu Zeitintervallen von weniger als 5 min bis zum CT (2009
n = 27; 2012
n = 23). Da schon die Übergabe und das Umlagern von Patienten sowie das Anschließen klinikeigener Monitore einige wenige Minuten dauert, erscheinen diese Zeitintervalle unplausibel kurz. Die wahrscheinlichste Ursache dafür dürften Lücken in der Dokumentation oder eine direkte Fahrt ins CT (ohne vorheriges Umlagern im Schockraum) sein.
Zum einen ist die Verkürzung der mittleren Zeit zur CT statistisch nicht signifikant (t-Test), zum anderen findet sich eine klinisch irrelevante Verlängerung der Zeit zum CT im Median, sodass zusammenfassend gefolgert werden muss, dass weder eine statistisch messbare noch eine klinisch relevante Veränderung der Zeit zur CT zwischen den beiden Jahren festzustellen ist.
Die Jahresberichte des Traumaregister geben das Zeitintervall bis zur Durchführung eines Ganzkörper-CT (falls durchgeführt) für das Jahr 2009 mit 25 ± 18 min [
10] und für das Jahr 2012 mit 24 ± 18 min [
11] an. Die Daten des Traumaregisters streuen erheblich weniger als die eigenen Daten.
Innerhalb der verschiedenen Subgruppen wurde im Jahr 2009 bei insgesamt 28 Patienten auf ein CT verzichtet, im Jahr 2012 bei insgesamt 45 Patienten. In den oben schon einmal genannten Studien untersuchten Parsch et al. auch die Zeit bis zum CT in Abhängigkeit von der Tageszeit und fanden keine signifikant verlängerten Zeitintervalle außerhalb der Kernarbeitszeiten [
13,
14]. Giannoudes et al. konnten mit einer Publikation aus 2016 keinen negativen Einfluss einer Krankenhausaufnahme am Wochenende bezüglich Parameter der Versorgungszeiten nachweisen [
15]. Auch anhand der eigenen Daten konnte kein signifikanter Unterschied zwischen werktäglichen Versorgungszeiten und den Versorgungszeiten an Wochenenden dargestellt werden.
In Bezug auf die Notwendigkeit eines Schockraumleaders zeigen Daten, dass die Implementierung die gesamte Teamleistung des Traumateams verbessern kann. Cole et al. [
16] konnten in ihrer retrospektiven Studie aus 2013 zeigen, dass die Implementierung eines Traumaleaders zu kürzeren Zeiten bis zur CT und verbessertem Kreislaufmanagement führte. Eine Differenzierung in der Qualifikation zwischen Assistenzärzten und Fachärzten konnte in dieser Studie keine Auswirkung auf das Behandlungsergebnis der Patienten feststellen; andere Autoren fanden ein verbessertes Behandlungsergebnis durch die Behandlung erfahrener Fachärzte [
17].
Limitationen
Neben der Einführung des Schockraumkoordinators kam es im Jahr 2011 zu weiteren Neuerungen bei der Versorgung von schwer verletzten Traumapatienten: In Erwartung der 2011 publizierten S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung der DGU wurde die klinikinterne SOP aktualisiert. Diese Faktoren werden mutmaßlich einen relevanten Einfluss auf die Versorgungszeiten nehmen. Trotz aller Bemühungen um Sorgfalt können Dokumentationsfehler nicht ausgeschlossen werden: Die Versorgung kritisch verletzter Patienten geschieht unter Zeitdruck, und die Dokumentation erfolgt nicht selten unmittelbar nach der Patientenbehandlung.
Die Verletzungsschwere und ihr Einfluss auf die Versorgungszeiten wurden in vorliegender Arbeit nicht mituntersucht, da die dafür notwendigen Daten nicht vollständig hätten erhoben werden können. Gleiches gilt für die bereits präklinisch durchgeführten Maßnahmen, die häufig nur unvollständig nachzuvollziehen waren.
Zusammenfassung
Die Schockraumversorgung bildet einerseits die Schnittstelle zwischen Präklinik und Klinik und entscheidet andererseits über den weiteren Behandlungspfad des Patienten innerhalb des Krankenhauses. Im Jahr 2011 wurde das Schockraumteam der Uniklinik Köln um die Funktion des Schockraumkoordinators erweitert. Darüber hinaus wurden eine neue SOP und die S3-Leitlinie „Polytrauma/Schwerverletztenversorgung“ der DGU implementiert.
Inwieweit die Anwesenheit eines Schockraumkoordinators das Überleben der Patienten verbessert, ist Gegenstand von Diskussionen, weshalb diesbezüglich keine einheitliche Empfehlung besteht [
3,
6‐
8]. Allerdings konnte gezeigt werden, dass es durch die Einführung eines Schockraumkoordinators zu schnelleren Versorgungs- und Behandlungsabläufen kam [
9], ohne jedoch in den meisten Fällen signifikant zu sein. Ebenso hatte die Anwesenheit eines Schockraumkoordinators keinen relevanten Einfluss auf die Zeit, bis der Patient der CT-Diagnostik zugeführt wird. In der Zusammenschau konnte weder ein statistisch signifikanter noch ein klinisch relevanter Einfluss des Schockraumkoordinators bzw. der neu implementierten SOP auf die Versorgungszeiten nachgewiesen werden.
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