Einleitung
Methoden
Klinik
Typ-1- und Typ-2-Diabetes mellitus: unterschiedliche Wege zur Neuropathie
Pathophysiologie
-
Akkumulation toxischer Metabolite: Bei hyperglykämischer Stoffwechsellage akkumuliert Glukose in Nerven‑, Nieren- und Retinazellen, wo es unter Verbrauch von NADPH zur Bildung von Sorbitol kommt. Als Zwischenstufe in der Umwandlung von Glukose zu Fruktose und umgekehrt ist Sorbitol physiologischer Bestandteil des Polyolstoffwechsels. Als zellschädigend wird neben der osmotischen Wirkung auch die durch die verminderte Verfügbarkeit von NADPH vermehrte Anfälligkeit für oxidativen Stress diskutiert [17]. Die Aldosereduktase ist das geschwindigkeitsbestimmende Enzym der Polyolbildung. Zu einer Enzymüberexpression führende Polymorphismen im AKR1B1-Gen kommen in ca. 26 % der Bevölkerung vor und sind mit einem höheren Risiko vergesellschaftet, bei vorliegendem Diabetes eine Neuropathie zu entwickeln. Im Mai 2020 wurde erstmalig eine erbliche axonale Neuropathie beschrieben, die durch biallelische Mutationen im SORD-Gen ähnlich der diabetischen Neuropathie mit Störungen im Sorbitolstoffwechsel assoziiert ist [18].Alanin ist eine glukogene Aminosäure, die bei Diabetikern erhöhte Serumspiegel aufweist. Hierdurch wird die Serin-Palmitoyl-CoA-Transferase, das geschwindigkeitsbestimmende Enzym der Sphingolipidsynthese, zum Substratwechsel verleitet, sodass die für den Abbau der Sphingoidbasen entscheidende OH-Gruppe fehlt [19]. Desoxysphingolipide führen zu einem verminderten axonalen Aussprossen und sind bei Patienten mit diabetischer Polyneuropathie erhöht [19].
-
Inflammatorische Prozesse: Durch Bildung von „advanced glycation end-products“ (AGE) und mitochondriale Dysfunktion entsteht oxidativer Stress, sodass es zu DNA-Schäden und somit zu Zellnekrosen oder, vermittelt durch Zytokine wie z. B. TNF‑α und IL‑6, zur Inflammation kommt [20]. Inflammatorische Prozesse werden durch den Transkriptionsfaktor NF-κB verstärkt, der über den Phospholipase-C-Pathway exprimiert und in den Zellkern verlagert wird. In Gegenwart ungefalteter Proteine oder Störungen der Kalziumhomöostase reagiert das endoplasmatische Retikulum überlastet („ER-Stress“), was wiederum zur Bildung freier Radikale sowie zur Induktion proinflammatorischer Kaskaden führt. Im Mausmodell konnten in Korrelation zum ER-Stress erniedrigte sensomotorische Nervenantwortpotenziale sowie eine Reduktion der intraepidermalen Nervenfaserdichte nachgewiesen werden [21].
-
Dysfunktionale Schwann-Zell-Interaktion: Axone sind aufgrund ihrer Länge und der damit assoziierten Entfernung vom Zellkörper besonders vulnerabel für eine Schädigung und in ihrem Metabolismus auf den engen Kontakt zu Schwann-Zellen angewiesen. Über Gap junctions werden sie mit Metaboliten wie Laktat versorgt [22], ein Mechanismus, der sich bei systemischer Insulinresistenz erschöpft. In Zellkulturen kommt es unter Laktatdeprivation zu einer verminderten Neurofilamentexpression und, hier diskutiert für das zentrale Nervensystem, zum Verlust von Axonen [22]. Besonders vulnerabel für eine Minderversorgung mit ATP erscheinen dünn oder unmyelinisierte Axone, weil die nichtsaltatorische Leitung vergleichsweise energieaufwändiger ist [23]. Eine Lipidüberladung von Schwann-Zellen führt darüber hinaus zur Bildung neurotoxischer Acylcarnitine, welche bei Weitergabe an die Axone zu einer Störung der Mitochondrienfunktion führen [24].
-
Mikroangiopathie: Vaskuläre Risikofaktoren wie Hypercholesterinämie, Hypertonie und Übergewicht sind unabhängig von der Glukosekontrolle mit einer höheren Auftretenswahrscheinlichkeit einer DN assoziiert [13], und auch bei prädiabetischem metabolischem Syndrom kann eine DN entstehen. Derselbe oxidative Stress, der auf Nervenzellen einwirkt, erreicht auch das vaskuläre Kompartiment. Mikrovaskuläre Veränderungen äußern sich bereits früh durch eine insuffiziente NO-mediierte Vasodilatation mit Auffälligkeiten von Blutfluss und Gefäßpermeabilität [25]. Es kommt zur Endotheldysfunktion und zur Überproliferation der Extrazellulärmatrix [25]. Als Ausdruck einer endoneuronalen Mikroangiopathie [26] konnten sowohl bei Patienten mit diabetischer als auch mit prädiabetischer Neuropathie verdickte Basalmembranen mit endothelialer Hyperplasie sowie verminderte endoluminale Durchmesser nachgewiesen werden [25‐27]. Eine bedeutende ischämische Komponente als Ursache der Nervenschädigung konnte spezifisch für die diabetische Plexusneuropathie gezeigt werden, welche histologisch auf eine lokalisierte aseptische Mikrovaskulitis zurückgeführt werden konnte [11].
Therapie
Blutzuckermanagement
Symptomatische Therapie
Weitere (experimentelle) Therapieansätze
Schlussfolgerungen
Substanzklasse | Wirkziel | Wirkstoffbeispiele | Indikation | Kontraindikationen | Nebenwirkungen |
---|---|---|---|---|---|
Insulin | Blutzuckerkontrolle | Langzeitinsuline (z. B. Glargin, Detemir) | Typ-1/2-DM | Hypokaliämie, Anaphylaxie | Hypoglykämie, Hypokaliämie, Gewichtszunahme, Lipodystrophie |
Kurz wirksame Insuline (z. B. Lispro, Aspart) | |||||
Orale Antidiabetika | Blutzuckerkontrolle | Biguanide (z. B. Metformin) | Typ-2-DM | Herz‑, Leber‑, Niereninsuffizienz, Alkoholmissbrauch, binnen 48 h nach Gabe iodhaltiger Kontrastmittel, mitochondriale Erkrankungen | Geschmacksveränderungen, gastrointestinale Beschwerden, Hautreaktionen, Laktatazidose, Vitamin-B12-Mangel |
Sulfonylharnstoffe (z. B. Glibenclamid, Glimepirid) | Nieren- oder Leberinsuffizienz, schwere kardiovaskuläre Komorbidität | Hypoglykämien, Gewichtszunahme, Blutbildveränderungen | |||
Glinide (z. B. Nateglinid, Repaglinid) | Nieren- oder Leberinsuffizienz, schwere kardiovaskuläre Komorbidität | Hypoglykämien, Gewichtszunahme, Hepatotoxizität | |||
Glitazone (z. B. Pioglitazon) | Herz- oder Leberinsuffizienz, Urothelkarzinom | Gewichtszunahme, Ödeme, Herzinsuffizienz, Osteoporose | |||
DPP4-Inhibitoren (z. B. Saxagliptin, Sitagliptin) | Leber- oder Niereninsuffizienz, Pankreatitis | Gastrointestinale Beschwerden, Pankreatitis, Schwindel, Kopfschmerzen | |||
GLP1-Analoga (z. B. Liraglutid, Exenatid) | Leber- oder Niereninsuffizienz, Pankreatitis, Pankreas- oder medulläres Schilddrüsenkarzinom, gastrointestinale Motilitätsstörungen | Gastrointestinale Beschwerden, Pankreatitis | |||
SGLT2-Inhibitoren (z. B. Dapagliflozin) | Niereninsuffizienz, rezidivierende Harnwegsinfektionen | Genitalmykosen, Harnwegsinfekte, Polyurie, Ketoazidose | |||
α‑Glukosidase-Hemmer (z. B. Acarbose) | Niereninsuffizienz, vorbestehende gastrointestinale Passagestörung | Gastrointestinale Beschwerden | |||
Antikonvulsiva | Therapie neuropathischer Schmerzen | Kalziumkanalblocker (z. B. Pregabalin, Gabapentin) | Neuropath. Schmerzen | Niereninsuffizienz, Überempfindlichkeitsreaktionen | Müdigkeit, Benommenheit, Verschwommensehen, Depression |
Natriumkanalblocker (z. B. Carbamazepin) | Leberinsuffizienz, Porphyrie, Knochenmarkdepletion, Überempfindlichkeit | Müdigkeit, UV-Empfindlichkeit, Hyponatriämie, Cytochrominduktion | |||
Antidepressiva | Therapie neuropathischer Schmerzen | Zyklische Antidepressiva (z. B. Amitriptylin, Clomipramin) | Neuropath. Schmerzen | Autonome Neuropathie, AV-Block, Leberinsuffizienz, MAO-Inhibition | Miktionsstörungen, Glaukom, Hypotension, Mundtrockenheit |
Selektive Serotonin-Noradrenalin‐Wiederaufnahmehemmer (z. B. Duloxetin) | Leber- oder Niereninsuffizienz, MAO-Inhibition, Kombination z. B. mit Fluorchinolonen | Übelkeit, Hypoglykämie, hypertensive Krisen | |||
α‑Liponsäure | Reduktion von oxidativem Stress | Thioctsäure | DN mit neuropath. Schmerzena | Allergie/Unverträglichkeit | Infusionsreaktionen, Hypoglykämien, Insulinautoimmunsyndrom, Inaktivierung von Cisplatin |
Aldosereduktaseinhibitoren | Reduktion von osmotischem Stress | Epalrestat | DNb | Leberinsuffizienz | Gastrointestinale Beschwerden |
L‑Serin | Reduktion toxischer Sphingolipidbasen | L‑Serin | –c | – | Übelkeit, Nierensteine |
Fazit für die Praxis
-
Auch wenn die Hälfte aller Diabetiker an einer diabetischen Neuropathie erkrankt, müssen bei Koinzidenz von Diabetes mellitus und Neuropathie andere Ursachen untersucht und ggf. behandelt werden.
-
Die Pathophysiologie der diabetischen Neuropathie ist komplex und ergibt sich aus einem Zusammenspiel von Mikroangiopathie, dysfunktionaler Schwann-Zell-Interaktion, Akkumulation toxischer Metabolite und inflammatorischen Prozessen.
-
Patienten mit Neuropathie bei Typ-2-Diabetes mellitus sprechen schlechter auf eine therapeutische Blutzuckerkontrolle an, was vermutlich auf die begleitenden Risikofaktoren im Rahmen des metabolischen Syndroms zurückzuführen ist.
-
Neuropathische Schmerzen erzeugen einen erheblichen Leidensdruck und sollten abhängig vom individuellen Nebenwirkungs- und Risikoprofil in erster Wahl mit Medikamenten wie Pregabalin oder Gabapentin, Amitriptylin oder Duloxetin behandelt werden.
-
Wirkstoffe wie α‑Liponsäure, Epalrestat oder L‑Serin setzen an pathophysiologischen Mechanismen wie oxidativem und osmotischem Stress an, sind aber aufgrund der unzureichend nachgewiesenen Wirksamkeit nur in einzelnen Ländern bzw. gar nicht zugelassen.