Trotz ähnlich geringem Belastungsempfinden wie in der gesunden Allgemeinbevölkerung nehmen „Pseudogesunde“ psychotherapeutische Behandlungen in Anspruch. Obgleich ihr Anteil an der Gruppe der Psychotherapiepatienten vergleichsweise hoch ist, wurde Pseudogesunden bislang in der Psychotherapieforschung wenig Beachtung geschenkt. Wichtig ist allerdings die Beantwortung der Fragen, aus welcher Motivation heraus Pseudogesunde eine Psychotherapie in Anspruch nehmen und wie stark ihre Therapiemotivation ist. Dies gilt nicht zuletzt, um Therapieabbrüchen, die bei geringem Leidensdruck und eher an somatischen als psychosozialen Ursachen orientiertem Krankheitsverständnis drohen, mit geeigneten Interventionen vorbeugen zu können.
Hintergrund
In der Psychotherapieforschung wird den „Pseudogesunden“ (Davies-Osterkamp et al.
1996; Spitzer et al.
2018,
2019) wenig Beachtung geschenkt, obgleich deren Anteil an der Gruppe der Psychotherapiepatienten in Abhängigkeit vom Behandlungssetting und der Erhebungsmethodik mit 7–23 % hoch ist (Davies-Osterkamp et al.
1996; Franke
2002; Reuter et al.
2016). Als „pseudogesund“ gelten Patienten, deren Testwerte in symptombezogenen Selbstbeurteilungsverfahren sich nicht von gesunden Personen der Allgemeinbevölkerung unterscheiden (Schauenburg und Strack
1998; Schmitz und Davies-Osterkamp
1997). Die Kategorisierung als „pseudogesund“ basiert auf der Beobachtung, dass sich die Verteilung der Testwerte einer Patientenpopulation und diejenige einer gesunden Stichprobe überschneiden. Unter der Annahme von Normalverteilungen markiert der Schnittpunkt der beiden Verteilungen den Testwert, bei dem ein Proband mit gleich großer Wahrscheinlichkeit der gesunden oder der kranken Population angehört und entspricht dem sog. c‑Kriterium resp. dem „Cut-off“-Punkt c für die Bestimmung klinisch signifikanter Veränderung (Geiser et al.
2000; Jacobson und Truax
1991; Schauenburg und Strack
1998; Schmitz und Davies-Osterkamp
1997). Bei Abweichung des Testwerts eines Probanden von diesem Cut-off-Wert in Richtung geringerer Symptombelastung gehört dieser mit größeren Wahrscheinlichkeit zur gesunden als zur kranken Population, bei einem Patienten entspricht dies der Kategorie „pseudogesund“ oder „testnormal“ (Davies-Osterkamp et al.
1996; Schauenburg und Strack
1998; Shedler et al.
1993).
Bisher gibt es wenig empirisches Wissen über diese Gruppe. Spitzer et al. (
2018) haben sich anhand einer umfangreichen Stichprobe (
n = 6585) stationärer Psychotherapiepatienten explorativ dieser Gruppe genähert. Die „pseudogesunden“ Patienten unterschieden sich im Hinblick auf soziodemografische Variablen lediglich darin, dass sie etwas jünger waren als die Patienten, die sich in einem symptombezogenen Selbstbeurteilungsverfahren als psychopathologisch beeinträchtigt einschätzten. Vermutete Unterschiede in den Bereichen interpersonale Schwierigkeiten und persönlichkeitsstrukturelle Defizite ließen sich nicht nachweisen. Als Erklärung für „Pseudogesundheit“ wird u. a. angenommen, dass die „pseudogesunden“ Patienten ihre Beschwerden dissimulieren, weil sie etwa sozial erwünscht antworten, oder weil sie diese verleugnen (Shedler et al.
1993). Auch eine unangemessene Wahrnehmung von Beschwerden aufgrund einer generell unzureichenden Selbstwahrnehmung, gering ausgeprägter Introspektionsfähigkeit oder einer Alexithymie wird als Erklärung diskutiert (Spitzer et al.
2018).
Trotz ähnlich geringem Belastungsempfinden wie in der gesunden Allgemeinbevölkerung nehmen die „Pseudogesunden“ psychotherapeutische Behandlungen in Anspruch, sodass die Frage naheliegt, aus welcher Motivation heraus sie dies tun. Dabei zeigen bisherige Studien, dass eine Annäherung an „Pseudogesundheit“ allein über Selbstbeurteilungsverfahren wenig fruchtbar ist (Shedler et al.
1993; Spitzer et al.
2018); vielmehr sind weitere Datenquellen wie Fremdeinschätzungen durch die Behandler einzubeziehen. Vor diesem Hintergrund wird die Psychotherapiemotivation von „pseudogesunden“ Patienten in dieser Untersuchung sowohl mithilfe der Selbsteinschätzung durch die Patienten selbst als auch aus Sicht der Bezugstherapeuten auf Grundlage der Achse I „Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen“ der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD; Arbeitskreis OPD
2006) analysiert.
Ergebnisse
Von 1883 Patienten lagen gültige Datensätze vor. Hiervon waren 1246 Frauen (66,2 %) und 637 Männer (33,8 %) mit einem durchschnittlichen Alter von 40,3 Jahren (SD ± 12,9 Jahre). Insgesamt 1176 Patienten konnten in Bezug auf die psychiatrischen Hauptdiagnosen einer homogenen diagnostischen Gruppe zugeordnet werden. Der Mittelwert und die Standardabweichung des GSI der SCL-90‑R für die Gesamtstichprobe betrugen 1,19 ± 0,67. Der GSI-Wert der Frauen betrug GSI
♀ = 1,25 ± 0,68, die Männer erreichten einen GSI
♂ = 1,07 ± 0,63. Nach der dargestellten Formel wurden anhand dieser Ergebnisse und der Werte für die gesunde Normstichprobe aus dem SCL-90-R-Handbuch (Franke
2002) folgende geschlechtsdifferenzielle Trennpunkte (c-Kriterium) für die vorliegende Patientenstichprobe ermittelt: GSI
♀ = 0,76 und GSI
♂ = 0,56. Die mit den Daten der Patientenstichprobe ermittelten geschlechtsdifferenziellen c‑Kriterien sind vergleichbar mit denen im Manual der SCL-90‑R, die auf der Grundlage großer Datensätze für eine gesunde Normstichprobe und stationäre Psychotherapiepatienten ermittelt wurden und mit GSI
♀ = 0,77 und GSI
♂ = 0,57 angegeben werden (Franke
2002). Für die weiteren Analysen wurde die Stichprobe gemäß den auf der Grundlage der vorliegenden Stichprobe ermittelten Trennwerten in „pseudogesunde“ und „belastete“ Patienten unterteilt. Anhand dieser Werte wurden 493 Patienten als „pseudogesund“ (26,2 %; GSI
♀ ≤ 0,76; GSI
♂ ≤ 0,56) klassifiziert.
Soziodemografische und diagnostische Merkmale der Gesamtstichprobe in Abhängigkeit von der Gruppenzugehörigkeit „pseudogesunde“ oder „belastete“ Patienten sind in den Tab.
1 und
2 zusammengefasst.
Tab. 1
Vergleich der soziodemografischen Variablen zwischen „Belasteten“ und „Pseudogesunden“
– | M | SD | M | SD | M | SD | F | p |
Alter (Jahre) | 40,3 | ± 12,9 | 39,9 | ± 12,7 | 41,1 | ± 13,3 | 2,31 | 0,129 |
– | n | % | n | % | n | % | χ2 | p |
Geschlecht |
Weiblich | 1246 | 66,2 | 904 | 65,0 | 342 | 69,4 | 3,06 | 0,080 |
Männlich | 637 | 33,8 | 486 | 35,0 | 151 | 30,6 |
Behandlungssetting |
Station | 1412 | 75,0 | 1057 | 76,0 | 355 | 72,0 | 3,16 | 0,076 |
Tagesklinik | 471 | 25,0 | 333 | 24,0 | 138 | 28,0 |
Familienstand |
Ledig | 639 | 43,9 | 473 | 44,2 | 166 | 43,2 | 5,03 | 0,285 |
Verheiratet | 540 | 37,1 | 384 | 35,9 | 156 | 40,6 |
Getrennt lebend | 43 | 3,0 | 35 | 3,3 | 8 | 2,1 |
Geschieden | 206 | 14,2 | 160 | 14,9 | 46 | 12,0 |
Verwitwet | 27 | 1,9 | 19 | 1,8 | 8 | 2,1 |
Partnerschaft |
Ja | 885 | 62,7 | 650 | 62,6 | 235 | 63,2 | 0,04 | 0,834 |
Nein | 526 | 37,3 | 389 | 37,4 | 137 | 36,8 |
Schulabschluss |
Ohne Abschluss | 61 | 4,1 | 47 | 4,3 | 14 | 3,6 | 9,94 | 0,019 |
Hauptschulabschluss | 195 | 13,2 | 146 | 13,4 | 49 | 12,5 |
Realschulabschluss | 837 | 56,5 | 635 | 58,2 | 202 | 51,7 |
Abitur | 389 | 26,2 | 263 | 24,1 | 126 | 32,2 |
Umfang der Erwerbstätigkeit |
Voll erwerbstätig | 643 | 50,4 | 473 | 50,8 | 170 | 49,5 | 0,52 | 0,914 |
Teilzeiterwerbstätig | 173 | 13,6 | 123 | 13,2 | 50 | 14,6 |
Berentet | 109 | 8,6 | 81 | 8,7 | 28 | 8,2 |
Arbeitslos | 349 | 27,4 | 254 | 27,3 | 95 | 27,7 |
EU-/BU-Rentenantrag gestellt |
Ja | 179 | 15,7 | 139 | 16,4 | 40 | 13,6 | 1,72 | 0,422 |
Nein | 960 | 84,3 | 706 | 83,6 | 254 | 86,4 |
Tab. 2
Vergleich der Hauptdiagnosen nach ICD-10 zwischen „Belasteten“ und „Pseudogesunden“
Klinische Hauptdiagnose | – | – | – | – | – | – | 27,51 | 0,000 |
F32/F33 | 426 | 36,2 | 341 | 39,1 | 85 | 28,1 | 11,56 | 0,001 |
F40/41 | 356 | 30,3 | 268 | 30,7 | 88 | 29,0 | 0,25 | 0,617 |
F43 | 115 | 9,8 | 82 | 9,4 | 33 | 10,9 | 0,64 | 0,424 |
F45 | 208 | 17,7 | 127 | 14,5 | 81 | 26,7 | 23,04 | 0,000 |
F50 | 71 | 6,0 | 55 | 6,3 | 16 | 5,3 | 0,36 | 0,549 |
Die „Pseudogesunden“ und die „Belasteten“ unterschieden sich im Hinblick auf den Schulabschluss. Der Anteil der Abiturienten war unter den „Pseudogesunden“ höher (χ2 = 9,61; p = 0,001), der Anteil jener mit einem Realschulabschluss geringer als in der Gruppe der „Belasteten“ (χ2 = 4,84; p = 0,028).
Im Hinblick auf die Hauptdiagnosen zeigt sich, dass der Anteil von Patienten mit einer somatoformen Störung unter der „Pseudogesunden“ höher war als bei den „Belasteten“ (χ2 = 23,04; p = 0,000). Ein höherer Anteil von Patienten mit affektiven Störungen fand sich bei den „belasteten“ Patienten (χ2 = 11,56; p = 0,001).
Beim Vergleich der Psychotherapiemotivation (Tab.
3) zeigte sich der größte Unterschied zwischen den „Pseudogesunden“ und den „Belasteten“ auf der Skala „Krankheitserleben/Leidensdruck“ (F
(1;1383) = 380,36;
p < 0,001; d = 1,21).
Tab. 3
Vergleich der Psychotherapiemotivation zwischen „Belasteten“ und „Pseudogesunden“ unter Einbezug des Schulabschlusses als Kovariate
Leidensdruck | ± 3,31 | ± 0,45 | 2,76 | ± 0,47 | 380,36 | 0,001 | 1,21 |
Laienätiologie | ± 3,77 | ± 0,58 | 3,44 | ± 0,74 | 80,67 | 0,001 | 0,83 |
Behandlungserwartung | ± 3,90 | ± 0,53 | 3,90 | ± 0,58 | 0,02 | 0,879 | 0,00 |
Offenheit für Psychotherapie | ± 3,65 | ± 0,38 | 3,65 | ± 0,42 | 0,54 | 0,816 | 0,02 |
FMP-Gesamt | ± 3,67 | ± 0,31 | 3,44 | ± 0,35 | 133,21 | 0,001 | 0,72 |
Die „Pseudogesunden“ hatten geringere Ausprägungen auf dieser Skala, d. h., sie erlebten einen geringen beschwerdebedingten Leidensdruck. Die „belasteten“ Patienten schreiben ihre Beschwerden in höherem Ausmaß als die „Pseudogesunden“ psychosozialen Ursachen wie etwa der eigenen Lebensführung oder beruflicher Belastung zu, wie der signifikante Unterschied auf der Skala Laienätiologie (F = (1;1383) 80,67; p < 0,001; d = 0,83) abbildet. Die „Pseudogesunden“ hatten eine eher somatisch orientierte Laienätiologie ihrer Beschwerden. Insgesamt gaben die „Pseudogesunden“ eine signifikant geringere Psychotherapiemotivation an als die „Belasteten“ (F (1;1383) = 133,21; p < 0,001; d = 0,72).
Die Bezugstherapeuten schätzten den Leidensdruck der „Pseudogesunden“ geringer ein als den der „Belasteten“ (F
(1;714) = 22,66;
p < 0,001; d = 0,42), ebenfalls die psychischen Beschwerden (F
(1;714) = 33,31;
p < 0,001; d = 0,50; Tab.
4). Nach Therapeutenurteil war das Krankheitskonzept der „Pseudogesunden“ weniger an sozialen Kriterien orientiert als das der „Belasteten“ (F
(1;714) = 8,18;
p < 0,004; d = 0,27), und sie hatten im Vergleich zu diesen weniger den Wunsch nach Interventionen im sozialen Bereich. Aus Therapeutensicht wünschten sich die „Pseudogesunden“ in geringerem Ausmaß als die „Belasteten“ emotional-supportive psychotherapeutische Unterstützung (F
(1;714) = 11,85;
p < 0,001; d = 0,29).
Tab. 4
Vergleich des Krankheitserlebens und der Behandlungsvoraussetzungen aus Therapeutensicht zwischen „Belasteten“ und „Pseudogesunden“ unter Einbezug des Schulabschlusses als Kovariate
Somatische Orientierung | 1,44 | ± 0,92 | 1,57 | ± 1,03 | 2,47 | 0,103 | 0,14 |
Soziale Orientierung | 1,72 | ± 1,03 | 1,45 | ± 1,03 | 8,18 | 0,004 | 0,27 |
Leidensdruck | 3,08 | ± 0,82 | 2,73 | ± 0,88 | 22,66 | 0,001 | 0,42 |
Darstellung psychischer Beschwerden | 2,86 | ± 0,86 | 2,41 | ± 1,02 | 33,31 | 0,001 | 0,50 |
Gewünschte Behandlung: PT | 2,86 | ± 0,89 | 2,78 | ± 1,00 | 1,03 | 0,310 | 0,09 |
Reflektierend-konfliktorientierte PT | 1,95 | ± 1,09 | 1,89 | ± 1,08 | 0,60 | 0,440 | 0,06 |
Emotional-supportive PT | 2,15 | ± 1,24 | 1,79 | ± 1,15 | 11,85 | 0,001 | 0,29 |
Aktiv-anleitende PT | 2,17 | ± 1,19 | 2,15 | ± 1,37 | 0,06 | 0,803 | 0,02 |
Einhaltung ethischer Richtlinien
Alle beschriebenen Untersuchungen am Menschen oder an menschlichem Gewebe wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethikkommission, im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt. Von allen beteiligten Patienten liegt eine Einverständniserklärung vor.
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