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Erschienen in: Forum der Psychoanalyse 3/2011

01.09.2011 | Originalarbeit

Über das Wesen der psychotischen Wahnbildung

Überlegungen aus psychoanalytischer Sicht

verfasst von: Dott. Franco de Masi

Erschienen in: Forum der Psychoanalyse | Ausgabe 3/2011

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Zusammenfassung

Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es, das Wesen der psychotischen Wahnbildung zu untersuchen und auf diese Weise einer therapeutischen Veränderung zugänglich zu machen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Struktur der Wahnbildung und ihrer Beziehung zu den gesunden Persönlichkeitsanteilen. Wahn, so der Autor, ist eine psychopathologische Konstruktion, die es dem Patienten unmöglich macht, sein eigenes Erleben zu verstehen. Der sensorischen Sinneserfahrung im Traum nicht unähnlich, verbleibt die Wahnbildung jedoch im Gegensatz zum tatsächlichen Traum im Wachbewusstsein und schafft Charaktere, die ein Leben unabhängig vom bewussten Erleben des „Träumers“ führen. Mit anderen Worten, ein Traum, der niemals endet. Die Wahnvorstellung ist so tief im psychischen Funktionieren des Patienten verwurzelt, dass selbst nach systematischer Analyse die scheinbar verschwundene Wahnwelt unter neuen Konfigurationen zum Vorschein kommt. Der Aufsatz beschäftigt sich vor allem mit der therapeutischen Schwierigkeit, die psychotische Episode durchzuarbeiten bzw. das Wahnerleben des Patienten aufgrund des damit verbundenen Grauens zu „dekonstruieren“.
Fußnoten
1
Das hier dargestellte Material (einer 4-stündigen Analyse) wurde mir in Supervision von Dr. Rossana Russo präsentiert.
 
2
Auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen Sachvorstellung und Wortvorstellung vertritt Freud die Auffassung, dass im Falle einer Schizophrenie Worte dem Primärprozess angehören. Nachdem er die Besetzung von Sach- und Wortvorstellungen abgezogen habe, versuche der Schizophrene im Zuge eines Heilungsversuchs, „… den Weg zum Objekt über den Wortanteil desselben …“ einzuschlagen, „wobei sie sich aber dann mit den Worten an Stelle der Dinge begnügen müssen“ (Freud 1915, S. 302). Auf diese Art und Weise behandelt der Psychotiker Worte, die verdichtet und ersetzt werden, so als seien sie Dinge. Freuds Einsichten sind nach wie vor hilfreich, wenn es darum geht zu verstehen, wie Worte und verbale Assoziationen über die tatsächliche Macht verfügen, Wahnbildungen zu befördern.
 
3
Das ist nicht immer der Fall. Es gibt Verläufe, in denen die psychotische Episode einen lustvollen Zustand von Freiheit und Allmacht wachruft und wegen ihrer faszinierenden Macht gefürchtet wird. In beiden Fällen gleicht die psychotische Episode einem Minenfeld, deren Räumung mit großen Gefahren verbunden ist.
 
4
Eine innerpsychische Folge des Traumas besteht darin, dass unerträgliche Ereignisse und Gefühle abgespalten und aus dem Gedächtnis abgezogen werden. Die dissoziative Abwehr schützt so den Patienten vor dem traumatischen Grauen, hindert ihn jedoch daran, genau dieses durchzuarbeiten. Neuere neurowissenschaftliche Forschungen haben ergeben, dass traumatische Angst nicht ins kortikale Angstverarbeitungssystem gelangt, sondern in der primitiveren Amygdala verbleibt. Joseph Ledoux (1996): „Die in der Amygdala fixierten Angsterinnerungen scheinen wie eingebrannt im Gehirn“. Hier mag einer der Gründe liegen, warum traumatische Erfahrungen und wahnhaftes Erleben nur schwer zu transformieren und durchzuarbeiten sind.
 
5
Bion (1961, 1967) vertritt in seinen Theorien die Hypothese, dass das Unbewusste symbolische und imaginative Funktionen erfülle, die die Transformation sensorischer Erfahrungen in Gedanken ermöglichen. Traumatische und psychotische Erfahrungen, so eine mögliche Schlussfolgerung, können somit weder metabolisiert noch verdrängt, das heißt „vergessen“ und transformiert werden.
 
6
Für Melanie Klein (1958) sind psychotische Erfahrungen als gefährliche und abgespaltene Einheiten unverändert und tief im Unbewussten verankert. Mithilfe ihres räumlichen Modells versucht Melanie Klein, das Problem des Rückfalls in die Krankheit zu verstehen.
 
Literatur
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Metadaten
Titel
Über das Wesen der psychotischen Wahnbildung
Überlegungen aus psychoanalytischer Sicht
verfasst von
Dott. Franco de Masi
Publikationsdatum
01.09.2011
Verlag
Springer-Verlag
Erschienen in
Forum der Psychoanalyse / Ausgabe 3/2011
Print ISSN: 0178-7667
Elektronische ISSN: 1437-0751
DOI
https://doi.org/10.1007/s00451-010-0046-4

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