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Die Ärztliche Begutachtung
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Publiziert am: 11.08.2023

Gesetzliche Unfallversicherung – Begutachtung

Verfasst von: Martin Forchert
Die gesetzliche Unfallversicherung ist eine Säule der Sozialversicherung, die bei Gesundheitsschäden durch Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten eintritt. Ihre Kosten tragen die Unternehmen allein, weil die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung statt der Unternehmen haften. Leistungen setzen deswegen regelmäßig den Nachweis eines Ursachenzusammenhangs zwischen Gesundheitsschäden und versicherten betrieblichen Einwirkungen voraus.
Bevor Entschädigungsleistungen wie Renten gewährt werden können, sind vielfach Gutachten notwendig, weil es von medizinischen Feststellungen abhängen kann, ob überhaupt Leistungen in Frage kommen (Zusammenhangsgutachten) oder in welcher Höhe (Rentengutachten). Bei Rentengutachten steht im Fokus, welche Unfallfolgen nachzuweisen sind und welche Minderung der Erwerbsfähigkeit sich daraus ergibt. Zusammenhangsgutachten widmen sich dem Ursachenzusammenhang, für den im Sozialrecht die „Theorie der rechtlich wesentlichen Bedingung“ gilt. Erste Voraussetzung ist die tatsächliche Verursachung („condicio sine qua non“) des Gesundheitsschadens durch eine versicherte Einwirkung. Nicht nur bei psychischen Störungen kann es bereits schwierig sein, überhaupt einen Erstschaden nachzuweisen, also eine Verletzung oder psychische Traumatisierung unmittelbar durch das versicherte Ereignis. Treffen versicherte Einwirkungen mit konkurrierenden Ursachen wie Vorschädigungen zusammen, müssen Sachverständige die Mitwirkungsanteile bestimmen, die diese Faktoren haben.
Die Frage der „rechtlichen Wesentlichkeit“ ist keine medizinische, sondern eine rechtliche. Entscheidend dafür ist der Schutzzweck der gesetzlichen Unfallversicherung, der eine Abgrenzung verlangt zwischen dem allgemeinen Krankheitsrisiko, für das die gesetzliche Krankenversicherung zu haften hat und dem besonderen betrieblichen Risiko, das die Zuständigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung begründet.

Einleitung

Die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung (UV-Träger) vergeben eine sechsstellige Zahl an Gutachtenaufträgen pro Jahr, die meisten davon als Formulargutachten (grob geschätzt 70–80 %). Von den Ärzten abgesehen, die in BG-Kliniken oder anderen berufsgenossenschaftlichen Einrichtungen wie etwa den BG-Ambulanzen tätig sind, hat die gesetzliche Unfallversicherung (GUV) kaum eigene Ärzte. Sie kann auch nicht auf übergreifende ärztliche Gutachterdienste zurückgreifen wie die gesetzliche Krankenversicherung auf den Medizinischen Dienst. Gutachtenaufträge gehen daher fast ausschließlich an freie niedergelassene Ärzte und Ärzte in Kliniken, gelegentlich auch an private Gutachteninstitute.

Organisation und Aufgaben

Die GUV ist – wie die gesetzliche Rentenversicherung, die Bundesagentur für Arbeit oder die gesetzlichen Krankenkassen – ein Teil der deutschen Sozialversicherung. Ihr ist das siebte Buch des Sozialgesetzbuchs, das SGB VII, gewidmet. Die UV-Träger sind Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung, ihre Leitungsorgane paritätisch besetzt mit Vertretern der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Sie sind zur Objektivität verpflichtete, an Recht und Gesetz gebundene Behörden. Im Gegensatz zur privaten Versicherungswirtschaft haben sie keine Profitziele. Für Versicherte wichtige Entscheidungen – wie z. B. über Ansprüche auf Verletztenrenten – treffen sog. Rentenausschüsse, die ebenfalls paritätisch mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern besetzt sind.

Träger der gesetzlichen Unfallversicherung

Für die gewerbliche Wirtschaft sind neun Berufsgenossenschaften zuständig, die nach Gewerbezweigen gegliedert sind. Die Landwirtschaft hat eine eigene Unfallversicherung, die integriert ist in die „Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau“ (SVLFG). Außerdem gibt es verschiedene UV-Träger der öffentlichen Hand, die auf Bundes- oder Länderebene agieren. Sie sind unter anderem zuständig, Kinder und Studierende sowie die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes des Bundes und der Länder sowie der Feuerwehren zu versichern. Gewerbliche Berufsgenossenschaften und UV-Träger der öffentlichen Hand haben einen gemeinsamen Spitzenverband, die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V. (DGUV), die ihren Hauptsitz in Berlin hat. Zur DGUV gehören auch die sechs regional tätigen Landesverbände, die u. a. über die Beteiligung von Ärzten, Krankenhäusern, Reha-Kliniken und ambulanter Reha-Einrichtungen an den berufsgenossenschaftlichen Heilverfahrensarten entscheiden, die Fortbildungsverpflichtungen der Durchgangsärzte überwachen und die Gutachterverzeichnisse führen, in denen interessierte Sachverständige gelistet sind, die definierte Mindestanforderungen erfüllen.

Haftungsfreistellung

In der gesetzlichen Unfallversicherung sind einschließlich der Schülerunfallversicherung über 70 Mio. Personen versichert – häufig ohne es zu wissen, weil sie keine Beiträge zahlen. Im Unterschied zu anderen Trägern der Sozialversicherung finanzieren die Unternehmen die GUV allein. Nach dem Prinzip der „nachträglichen Bedarfsdeckung“ erstatten sie über den Beitrag die Ausgaben, die die UV-Träger hatten. Im Gegenzug übernehmen die UV-Träger die zivilrechtliche Haftung wegen betrieblicher Risiken für Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten und stellen die Unternehmen von der Haftung gegenüber ihren Beschäftigten frei. Beschäftigte, die Ansprüche erheben wollen wegen Gesundheitsschäden, die sie durch ihre Arbeit erlitten haben, müssen sich deswegen an die UV-Träger wenden, nicht an ihre Arbeitgeber. Eine (in der Praxis bedeutungslose) Ausnahme gilt nur für vorsätzliche Schädigungen, für die Arbeitgeber unmittelbar haften.
Wegen der Verknüpfung mit der betrieblichen Risikosphäre ist die GUV ein Sondersystem der Sozialversicherung. Sie tritt nur ein, wenn Gesundheitsschäden durch versicherte Tätigkeiten verursacht sind. Fehlt der kausale Zusammenhang, sind die allgemeinen Sozialversicherungszweige zuständig, also in erster Linie Kranken- oder Rentenversicherung.

Aufgaben der UV-Träger

Die UV-Träger leisten Prävention, Rehabilitation und Entschädigung „aus einer Hand“. Sie haben Versicherungsfälle zu verhüten, müssen sich um Heilbehandlung, Rehabilitation/Teilhabe sowie Pflege kümmern und Beeinträchtigungen der Gesundheit entschädigen, wenn ein Versicherungsfall eingetreten ist.
Für den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz sind zwar primär Arbeitgeber oder z. B. Schulträger verantwortlich. Die UV-Träger unterstützen aber ihre Mitglieder, indem sie zur Prävention von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren – das sind Gesundheitsrisiken, die keiner Berufskrankheit (BK) zuzuordnen sind – Betriebe und Schulen beaufsichtigen, nach Ursachen von Arbeits- oder Schulunfällen und Berufskrankheiten forschen und über Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz informieren und beraten. Dafür haben UV-Träger technische Aufsichts- oder Präventionsdienste, die bei Gefahr im Verzuge auch befugt sind, sofort vollziehbare Anordnungen zu treffen, um Unfallrisiken zu beseitigen.

Versicherungsfälle

Die GUV leistet, wenn eine versicherte Person bei versicherter Tätigkeit einen Versicherungsfall erleidet, also einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit (§ 7 Abs. 1 SGB VII).

Versicherte Personen

§ 2 SGB VII enthält eine lange Liste von Versicherungstatbeständen. Die wichtigsten sind der Versicherungsschutz von Beschäftigten (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII) und von Studierenden und Schülern (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII). Daneben sind aber auch Personen gesetzlich unfallversichert, die z. B. bei Unglücksfällen Hilfe leisten (§ 2 Abs. 1 Nr. 13a SGB VII), Blut oder Organe spenden (§ 2 Abs. 1 Nr. 13b SGB VII), ehrenamtliche Arbeit im Gesundheitswesen oder in der Wohlfahrtspflege leisten (§ 2 Abs. 1 Nr. 9 SGB VII) oder Angehörige pflegen (§ 2 Abs. 1 Nr. 17 SGB VII).

Versicherte Tätigkeiten

Versichert sind Tätigkeiten, die in den Schutzbereich der GUV fallen. Bei Beschäftigten müssen sie dazu bestimmt sein, dem Unternehmen zu dienen. Nicht versichert sind Tätigkeiten, die zum privaten Lebensbereich gehören, sog. eigenwirtschaftliche Tätigkeiten. Selbst wenn sie im Betrieb vorgenommen werden, stehen sie nicht unter Versicherungsschutz.
Beispiel
Der Versicherte V erhält vom Unternehmer die Erlaubnis, in der Tischlerei und während der Arbeitszeit Feuerholz zu sägen, das er für seinen Ofen zu Hause gekauft hat. Dabei verletzt er sich an der Hand. Die Tätigkeit, bei der V sich verletzt hat, diente nicht der Tischlerei, sondern privaten („eigenwirtschaftlichen“) Zwecken.
Daneben stehen Wege unter Versicherungsschutz, die während und wegen betrieblicher Arbeit zurückzulegen sind („Betriebswege“) und direkte Wege von und zur versicherten Tätigkeit. Idealtypisch sind die Wege von der eigenen Wohnung zum Betrieb und zurück. Auch Umwege können versichert sein, wenn sie z. B. dazu dienen, Kinder zur Schule oder zum Kindergarten zu bringen oder wegen gebildeter Fahrgemeinschaften notwendig werden. Der Versicherungsschutz beginnt und endet regelmäßig an der Außenhaustür des jeweiligen Gebäudes.
Als betriebsdienlich und damit versichert gelten auch manche sportlichen („Betriebssport“) und sozialen Aktivitäten („Gemeinschaftsveranstaltungen“). Betriebssport zeichnet sich dadurch aus, dass er dem Ausgleich beruflicher Belastungen dient, regelmäßig stattfindet, nur von Beschäftigten des jeweiligen Betriebs ausgeübt wird, betrieblich organisiert ist und nicht Wettbewerb oder sportlichen Wettkampf zum Ziel hat. Gemeinschaftsveranstaltungen (z. B. Weihnachtsfeiern) sind versichert, wenn sie vom Unternehmen veranstaltet oder gebilligt werden, von der Autorität der Unternehmensführung getragen werden, sich nur an Beschäftigte wenden und der Verbundenheit im Betrieb dienen. Erfüllt eine Veranstaltung diese Voraussetzungen, sind auch die Wege versichert, die notwendig sind, um teilzunehmen.

Arbeitsunfall

Was ein Arbeitsunfall ist, ergibt sich aus § 8 SGB VII. Den Unfall definiert das Gesetz als „ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis, das zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führt“ (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII).
„Zeitlich begrenzt“ trennt Arbeitsunfälle und (Berufs-)Krankheiten. Nur was sich innerhalb einer Arbeitsschicht abspielt, kann Unfall sein. Ein Sonnenbrand nach mehrstündiger Tätigkeit als Dachdecker erfüllt diese Voraussetzung, eine psychische Erkrankung nach monatelangem Mobbing nicht.
„Von außen“ schließt Krankheiten aus, die aus dem Körperinneren, vom Organismus, herrühren. Ein typisches Beispiel, bei dem eine äußere Einwirkung fehlt, ist der Herzinfarkt, den ein Beschäftigter während seiner betrieblichen Beschäftigung erleidet.
Das Kriterium „auf den Körper einwirkendes Ereignis“ zu erfüllen, ist nur selten eine Hürde für die Anerkennung als Versicherungsfall. Denn nach der Rechtsprechung erfüllen unkontrollierte Körperbewegungen die Voraussetzung genauso wie kontrollierte und koordinierte Aktionen, also z. B. der Versuch, einen schweren Stein hochzuheben (BSG-Urteil vom 12.04.2005, B 2 U 27/04 R).
„Körper“ ist nicht wörtlich zu nehmen, auch Einwirkungen auf die Psyche („seelische Erschütterungen“) sind erfasst. Das Ereignis braucht keine besondere Qualität zu haben. Es muss nicht sichtbar sein. Strahlung oder psychische Beeindruckung genügen. Nur wenn jeder äußere Anknüpfungspunkt (Umweltreiz) für einen (subjektiv als real empfundenen) Sinneseindruck fehlt oder sich nicht feststellen lässt, ist eine Einwirkung von außen zu verneinen (BSG-Urteil vom 26.11.2019, B 2 U 8/18 R).
„Gesundheitsschaden“ meint eine unmittelbar durch das versicherte Ereignis eingetretene Verletzung (Abschn. 12.1) oder psychische Traumatisierung (Abschn. 13.1). Dieser sog. Erstschaden muss durch das versicherte Ereignis herbeigeführt worden sein, d. h. es muss ein rechtlich wesentlicher Ursachenzusammenhang zwischen versichertem Ereignis und Erstschaden bestehen (Abschn. 10).

Berufskrankheit

Berufskrankheiten sind Krankheiten, die versicherte Personen durch ihre versicherte Tätigkeit erleiden und die in der Liste der Berufskrankheiten aufgeführt sind (§ 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Die Berufskrankheitenliste ist eine Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV). Nur Erkrankungen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft von besonderen Einwirkungen verursacht werden, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade ausgesetzt sind als die übrige Bevölkerung, können Berufskrankheiten sein (§ 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII).
Beispiele für in der Berufskrankheitenliste erfasste Erkrankungen sind die Lärmschwerhörigkeit (BK 2301), Hauterkrankungen (BK 5101) oder Erkrankungen durch anorganische Stäube wie Silikose (BK 4101) oder Asbestose (BK 4103).
Ist das Bundesministerium noch nicht dazu gekommen, die Anlage zur BKV zu aktualisieren, obwohl bereits medizinisch-wissenschaftlich geklärt ist, dass alle Voraussetzungen erfüllt sind, um eine Erkrankung neu in die Liste aufzunehmen, haben die UV-Träger entsprechende Erkrankungen ihrer Versicherten „wie eine Berufskrankheit““ anzuerkennen (§ 9 Abs. 2 SGB VII).
Die Besonderheiten von Berufskrankheiten und ihrer Begutachtung sind im Kapitel 143-1 „Grundlagen der Begutachtung von Berufskrankheiten“ dargestellt.

Sachleistungen

Als einziger Sozialleistungszweig gewährt die GUV ihren Versicherten alle Leistungen „aus einer Hand“ – von der medizinischen Erstversorgung über die Rehabilitationsphasen bis zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft.
Um die Erwerbsfähigkeit ihrer Versicherten wiederherzustellen und die durch den Versicherungsfall eingetretenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu beseitigen oder auszugleichen, übernehmen die UV-Träger die Heilbehandlung, die medizinische Rehabilitation, Leistungen zur beruflichen und sozialen Teilhabe sowie zur Pflege.

Heilbehandlung und medizinische Rehabilitation

Heilbehandlung ist eine Sachleistung, die die UV-Träger ohne die in der gesetzlichen Krankenversicherung übliche Zuzahlung und ohne Budgetierung zur Verfügung stellen. Nach Versicherungsfällen haben die UV-Träger ihre Versicherten „mit allen geeigneten Mitteln“ (§ 26 Abs. 2 SGB VII) zu therapieren und zu rehabilitieren. Zuständigkeitswechsel zwischen medizinischer, beruflicher oder sozialer Teilhabe gibt es nicht. Die UV-Träger betreuen ihre Versicherten – falls erforderlich – ein Leben lang.
Jeder Arzt, der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnimmt, darf Unfallverletzte behandeln. Aber er muss sie bei isolierten Augenverletzungen oder Hals-, Nasen-, Ohrenverletzungen unmittelbar an einen entsprechenden Facharzt und in allen übrigen Fällen an einen sog. Durchgangsarzt (D-Arzt) verweisen, wenn die Verletzung zu Arbeitsunfähigkeit führt, die Dauer der Behandlung voraussichtlich eine Woche überschreiten wird oder Heil- und Hilfsmittel zu verordnen sind. D-Ärzte entscheiden, ob die Behandlung durch den Hausarzt ausreicht oder eine besondere Heilbehandlung wegen Art oder Schwere der Verletzung erforderlich ist. Bei ihrer ersten Inanspruchnahme erstatten sie den Durchgangsarztbericht, der alle Informationen enthält, die die UV-Träger benötigen, um sich ein Bild von Art und Ausmaß der Verletzung zu machen und ihrer Verantwortung für Therapie und Rehabilitation gerecht werden zu können. Auch für eine spätere Kausalbegutachtung sind die im Durchgangsarztbericht dokumentierten Angaben und Befunde oft von unschätzbarem Wert.
D-Ärzte planen und kontrollieren das Heilverfahren, ziehen bei Bedarf Spezialisten hinzu, agieren als „Lotsen“, nicht nur für die Heilbehandlung, sondern auch für berufliche und soziale Teilhabe der Unfallversicherten – regelmäßig in enger Abstimmung mit den Mitarbeitern der UV-Träger.
Bestimmte schwere Verletzungen machen eine unverzügliche Einweisung der Versicherten in besonders zugelassene Krankenhäuser notwendig (sog. Verletzungsartenverfahren), je nach Schwere in Kliniken mit stationärem Durchgangsarztverfahren, in Kliniken des Verletzungsartenverfahrens oder des Schwerstverletzungsartenverfahren. Die Zuordnung richtet sich nach dem „Verletzungsartenverzeichnis“ [DGUV (2022)]. Bundesweit sind knapp 500 Krankenhäuser und Kliniken in dieses Verfahren vertraglich eingebunden, die jährlich mehr als 70.000 Versicherte der gesetzlichen Unfallversicherungsträger versorgen.
Durchgangsarzt- und Verletzungsartenverfahren bezwecken, Versicherte der GUV in die Hände spezieller Fachärzte und qualifizierter Krankenhäuser zu geben, die definierten Kriterien zur fachlichen Befähigung, zu personellen und sächlichen Anforderungen genügen. Die damit verbundenen Einschränkungen der freien Arztwahl sind vom Gesetz ausdrücklich zugelassen (§ 28 Abs. 4 Satz 2 SGB VII) und dienen der Qualitätssicherung. Sie werden von Unfallversicherten akzeptiert, weil sie das aktive Therapie- und Teilhabemanagement der UV-Träger („Reha-Management“) regelmäßig gutheißen.

Berufliche und soziale Teilhabe

Ist nach Eintritt eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit nicht mehr damit zu rechnen, dass Versicherte in der zuvor ausgeübten Tätigkeit wieder arbeitsfähig werden, müssen die UV-Träger Leistungen zur beruflichen Teilhabe prüfen. Dazu gehören Hilfen, um einen Arbeitsplatz zu erhalten oder zu erlangen, also z. B. Leistungen zur Förderung der Arbeitsaufnahme, Kosten für die Berufsfindung, Arbeitserprobung oder stufenweise Wiedereingliederung, zur Berufsvorbereitung, für die berufliche Anpassung, Fortbildung, Ausbildung und Umschulung.
Außerdem helfen die UV-Träger dabei, eine Berufs- oder Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt oder in einer Werkstätte für Behinderte zu ermöglichen, indem sie z. B. Reisekosten, für die auswärtige Unterbringung übernehmen oder bei besonders schwer beeinträchtigten Versicherten Erholungsaufenthalte finanziell unterstützen.
Kindern, Schülern und Studenten ist die Fortsetzung ihrer Ausbildung zu ermöglichen. Auch Ausbildungen, die mit höherer Qualifikation verbunden sind und damit einen sozialen Aufstieg versprechen, können unterstützt werden, zumeist im Wege der sog. Teilförderung.
Neben Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sind die UV-Träger auch für Leistungen zur Teilhabe an der Gemeinschaft zuständig, wie etwa für Kfz-Hilfe, Wohnungshilfe oder Rehabilitationssport.

Pflege

Die GUV ist auch für Pflegeleistungen zuständig (§ 44 SGB VII). Voraussetzung ist Pflegebedürftigkeit infolge eines Versicherungsfalls: Versicherte müssen so hilflos sein, dass sie für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang der Hilfe bedürfen. Dann sind Pflegegeld oder Sachleistungen zu erbringen, indem eine Pflegekraft gestellt oder Heimpflege gewährt wird. Um eine Gleichbehandlung ihrer Versicherten beim Pflegegeld zu gewährleisten, hat die DGUV „Anhaltspunkte zur Bemessung des Pflegegeldes bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten“ (Stand: 01.10.2020) herausgegeben.

Geldleistungen

Neben den Sachleistungen stehen verschiedene Geldleistungen.

Verletztengeld und Übergangsgeld

Verletztengeld wird während Maßnahmen der Heilbehandlung und der medizinischen Rehabilitation gezahlt und hat Entgeltersatzfunktion. Der Anspruch besteht, solange Versicherte als Folge eines Versicherungsfalls arbeitsunfähig im Sinne der Krankenversicherung sind und keinen Anspruch auf Übergangsgeld haben (§ 45 SGB VII). Er ruht, soweit Versicherte Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen erhalten, z. B. während der Entgeltfortzahlung der Arbeitgeber nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz.
Die Berechnung des Verletztengeldes entspricht dem Krankengeld. Allerdings beträgt das Verletztengeld 80 % des sog. Regelentgelts, darf aber nicht höher sein als das Nettoarbeitsentgelt. Der Anspruch endet mit dem letzten Tag der Arbeitsunfähigkeit, mit dem Beginn des Anspruchs auf Übergangsgeld und ansonsten mit Ablauf der 78. Woche seit Beginn der Arbeitsunfähigkeit.
Während Maßnahmen der beruflichen Teilhabe wird Übergangsgeld gezahlt. Auch das Übergangsgeld hat Entgeltersatzfunktion. Es wird an Personen gezahlt, die wegen einer Maßnahme zeitweise und ganztätig aus der Erwerbstätigkeit ausscheiden. Die Höhe des Übergangsgeldes bei Beschäftigten beträgt im Regelfall 70 % des entgangenen regelmäßigen Entgelts des letzten Abrechnungszeitraums und darf ebenfalls das entgangene regelmäßige Nettoarbeitsentgelt nicht übersteigen. Sowohl Übergangsgeld- als auch Verletztengeldanspruch setzen voraus, dass vor dem Versicherungsfall Arbeitsentgelt erzielt worden ist. Kindergartenkinder, Schüler und Studenten haben daher zumeist keinen Anspruch auf diese Leistung, sondern erhalten stattdessen unmittelbar Verletztenrente, wenn deren Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind.

Verletztenrente

Anspruch auf eine Rente haben nach § 56 Abs. 1 SGB VII versicherte Personen, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 % gemindert ist. Die Verletztenrente der GUV hat – im Gegensatz zu Renten der gesetzlichen Rentenversicherung – zivilrechtlichen Entschädigungscharakter. Sie soll den Schaden ausgleichen, der durch den Versicherungsfall entstanden ist, und dient damit der finanziellen Kompensation für die erlittene Gesundheitsbeeinträchtigung.
Die Höhe der Rente ergibt sich aus dem Jahresarbeitsverdienst (JAV) und dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE). JAV ist das Arbeitsentgelt und das Arbeitseinkommen in den letzten zwölf Kalendermonaten vor dem Versicherungsfall (§ 82 Abs. 1 SGB VII). Bei vollständigem Verlust der Erwerbsfähigkeit (MdE von 100 %) beträgt die Rente zwei Drittel des JAV. Bei geringeren MdE-Sätzen vermindert sich die Rente entsprechend dem prozentualen Maß der MdE.
Beispiele:
(1)
JAV = 60.000 €; MdE = 100 %:
60.000 € × 2/3 = 40.000 €
40.000 €: 12 Monate = 3333,33 € monatliche Rente
 
(2)
JAV = 60.000 €; MdE = 20 %
60.000 € × 2/3 =
40.000 € × 20 % = 8000 €
8000 €: 12 Monate = 666,67 € monatliche Rente
 
Im Gegensatz zum Zivilrecht, wo der Einkommensschaden individuell festgestellt werden muss, entschädigt die GUV den Einkommensschaden abstrakt. Auf einen tatsächlichen Einkommensverlust kommt es nicht an. Ersetzt wird der Verlust an (abstrakten) Erwerbsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, der sich aus den Beeinträchtigungen der Gesundheit ergibt, die durch den Versicherungsfall verursacht sind. Ob die versicherte Person nach dem Versicherungsfall weniger oder mehr Geld verdient als vorher – z. B., weil eine Umschulung, die wegen eines Versicherungsfalls notwendig und deshalb von der gesetzlichen UV finanziert wurde, zu einem besser bezahlten Arbeitsverhältnis geführt hat –, ist für die Höhe der Verletztenrente irrelevant. Gleiche Funktionseinschränkungen bei unterschiedlichen Versicherten sollen zu gleichen MdE-Werten führen.
Die Verletztenrente wird ab dem Tag nach dem Wegfall des Anspruchs auf Verletztengeld gezahlt oder nach dem Tag des Versicherungsfalls, wenn keine Arbeitsunfähigkeit eingetreten ist. Dies betrifft vor allem Schüler, Studenten, Nicht- Erwerbstätige und ehrenamtlich Tätige. Auch hier gilt: Die MdE muss über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus wenigstens 20 % betragen. Für die Dauer der stationären Behandlung (MdE regelmäßig 100 %) und die Versorgung mit Gipsverband gibt es spezielle MdE-Erfahrungswerte, die als „Hinweise zur ärztlichen Schätzung der MdE bei Kindern in Kindergärten, Schülern und Studierenden“ vom ehemaligen Bundesverband der Unfallkassen herausgegeben wurden [s. Schönberger et al. (2017), S. 138 f.].

Hinterbliebenenrente

Sterben Versicherte infolge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit, so erhalten die Hinterbliebenen eine Rente, deren Höhe vom JAV des Verstorbenen abhängt und auf die eigene Einkünfte anzurechnen sein können (§ 65 ff. SGB VII).

Arten der Gewährung von Verletztenrente

Verantwortlich dafür zu entscheiden, ob Versicherte Rentenleistungen erhalten, sind die UV-Träger. Sie sind an Einschätzungen von ärztlichen Sachverständigen nicht gebunden. Verletztenrenten (umgangssprachlich auch Unfall- oder BK-Renten) können vorläufig, als Gesamtvergütung (Einmalzahlung) oder auf unbestimmte Zeit gewährt werden.

Rente als vorläufige Entschädigung („vorläufige Rente“)

Während der ersten drei Jahre nach dem Versicherungsfall braucht über den Umfang der MdE noch nicht endgültig entschieden zu werden. Denn solange die Folgen eines Versicherungsfalls nicht konsolidiert sind, können sie allmählichen und kurzfristigen Besserungen oder Verschlimmerungen unterliegen. Deswegen wird die Rente zunächst meist als vorläufige Entschädigung festgesetzt (§ 62 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Das Gesetz erlaubt es, die MdE in diesem Zeitraum jederzeit anzupassen, wenn sich die Folgen des Versicherungsfalls wesentlich ändern.

Gesamtvergütung

Die UV-Träger können die vorläufige Rente als sog. Gesamtvergütung auszahlen, wenn der Rentenanspruch voraussichtlich spätestens mit Ablauf des dritten Jahres nach dem Versicherungsfall enden wird. Nach Abschluss der Heilbehandlung wird die Rente dann abgefunden mit einer Einmalzahlung in Höhe des voraussichtlichen Rentenaufwands (§ 75 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Maßstab für die Prognose ist die ärztliche Erfahrung. Die Gesamtvergütung hat Vorteile für beide Seiten: Versicherte erhalten sofort den gesamten Entschädigungsbetrag (oft als Vorauszahlung) und die Verwaltung spart sich Nachuntersuchungen und weitere Bescheide. Meinen Versicherte auch über den Gesamtvergütungszeitraum hinaus Rentenansprüche zu haben, müssen sie nur einen formlosen Antrag stellen. Die UV-Träger sind dann verpflichtet, über die Berechtigung weiterer Zahlungen zu entscheiden.

Rente auf unbestimmte Zeit

Bevor drei Jahre nach dem Versicherungsfall vergangen sind, ist über den Anspruch auf Rente auf unbestimmte Zeit (RuZ, auch „Dauerrente“ genannt) zu entscheiden. Ansonsten wird die vorläufige Entschädigung kraft Gesetzes zur RuZ (§ 62 Abs. 2 Satz 1 SGB VII).
Bei der ersten Feststellung der RuZ dürfen die UV-Träger die MdE unabhängig von der vorläufigen Entschädigung festlegen. Die Höhe richtet sich allein nach dem Zustand der Unfallfolgen zum Feststellungszeitpunkt. Ein Befundvergleich mit Vorgutachten findet nicht statt. Selbst wenn sich keine Veränderung der Verhältnisse zeigt, darf die MdE geringer ausfallen als bei der vorläufigen Entschädigung (§ 62 Abs. 2 Satz 2 SGB VII), auch um lediglich 5 %. Das Gesetz berücksichtigt, dass es in der Frühphase nach dem Versicherungsfall gerechtfertigt sein kann, die MdE höher einzuschätzen, weil sich Versicherte an ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen noch anpassen und gewöhnen müssen.
Ist die RuZ festgestellt, kann sie zuungunsten der Versicherten nur noch in Abständen von einem Jahr geändert werden. Voraussetzung ist nach § 73 Abs. 3 SGB VII eine „wesentliche Änderung“ in den Folgen des Versicherungsfalls, also eine MdE-Abweichung von mehr als 5 %, die mindestens drei Monate anhält.

Minderung der Erwerbsfähigkeit

Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ist ein Rechtsbegriff und drückt prozentual aus, in welchem Umfang die Erwerbsfähigkeit durch Folgen eines Versicherungsfalls beeinträchtigt ist. Mit dem Begriff der „Erwerbsfähigkeit“ ist die Möglichkeit gemeint, die eigene Arbeitskraft auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (nicht in der konkreten Tätigkeit!) wirtschaftlich zu verwerten. Ob eine versicherte Person schon oder noch im Erwerbsleben steht, ist unerheblich. Auch bei Rentnern und Kindern kann eine MdE eintreten.

Allgemeine Regeln

Die MdE kann nur geschätzt und nicht konkret bemessen werden. Selbst für klar umrissene Verletzungsmuster wie etwa eine Amputation im Unterschenkel gibt es keine empirischen Daten, die es erlauben, auf den Anteil des Arbeitsmarkts zu schließen, der durch die Verletzung verschlossen ist [DGUV (2019), S. 22 f.].
Die MdE ist nach 5er- oder 10er-Graden abzustufen. Abweichungen in der Einschätzung von 5 % liegen dabei innerhalb einer zu tolerierenden Schwankungsbreite und sind zumeist irrelevant.
Künftige Entwicklungen (erwartbare Spätschäden) zu berücksichtigen, ist – anders als in der privaten Unfallversicherung – nicht erlaubt.
Die Versicherten haben immer die Möglichkeit, eine Überprüfung ihrer MdE zu veranlassen, wenn sich ihre gesundheitlichen Verhältnisse verschlimmert haben.
Die Erwerbsfähigkeit vor dem versicherten Ereignis ist stets als unbeeinträchtigt anzusetzen, beträgt also immer 100 %.
Bei mehreren Versicherungsfällen kann die Summe der MdE-Sätze daher 100 % überschreiten. Allerdings sind dann die Zahlbeträge der Rentenansprüche zu kürzen, wenn deren Summe zwei Drittel des höchsten JAV überschreitet (§ 59 SGB VII).
Beispiel
V verliert an der Kreissäge Daumen und Zeigefinger (MdE 30 %). Später erleidet er eine komplette Querschnittlähmung (MdE 100 %). Die MdE für den zweiten Unfall beträgt 100 %, obwohl T bereits aus dem Ersten eine Unfallrente nach einer MdE von 30 % erhält.
Völlige Erwerbsunfähigkeit
Bei völliger Erwerbsunfähigkeit vor dem Versicherungsfall ist ein Rentenanspruch ausgeschlossen, weil eine MdE nicht mehr eintreten kann.
Beispiel
V hat einen Schlaganfall erlitten und leidet unter schwersten kognitiven und motorischen Einschränkungen. Bei ihm wird ein durch berufliche Asbesteinwirkung verursachtes Pleuramesotheliom (BK 4105) festgestellt, das eine MdE von 100 % rechtfertigen würde. V hat keinen Rentenanspruch, weil er bereits völlig erwerbsunfähig war, als das Mesotheliom in Erscheinung trat.
Die Erwerbsunfähigkeit der GUV entspricht nicht der vollständigen Erwerbsminderung in der Rentenversicherung.
Sie ist nur anzunehmen, wenn die versicherte Person dauerhaft die Fähigkeit verloren hat, einen auch nur geringen Verdienst zu erzielen. Kann eine versicherte Person z. B. einfachste Tätigkeiten in Heimarbeit noch ausführen, ist sie im Sinne der GUV nicht völlig erwerbsunfähig.
Stützrente
MdE-Sätze unter 10 % gelten als wirtschaftlich nicht messbar und berechtigen nicht zu Rentenleistungen. Beträgt die MdE aus einem Versicherungsfall 10 % oder 15 %, kann dagegen Rente zu zahlen sein, wenn wegen der Folgen eines weiteren Versicherungsfalls in der Summe eine MdE von wenigstens 20 % erreicht wird (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Dann wird diese MdE von einem weiteren Versicherungsfall „gestützt“. Dauert die MdE über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus an, führt jeder Versicherungsfall zu einer eigenen Rentenzahlung.
Beispiel
V erleidet einen Arbeitsunfall mit einer MdE von 10 % und hat danach einen zweiten Arbeitsunfall, der eine MdE von 20 % begründet. Dann erhält T ab dem Tag des zweiten Arbeitsunfalls eine Rente von 10 % wegen des früheren Unfalls und ab Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit nach dem späteren Unfall eine weitere Rente nach einer MdE von 20 %. Diese MdE „stützt“ die Rente aus dem früheren Unfall. Sinkt die MdE aus dem zweiten Unfall später unter 10 % verliert der frühere Unfall die „Stütze“ mit der Folge, dass auch diese Rente entzogen werden muss.
Änderung der Verhältnisse
Ändern sich die gesundheitlichen Verhältnisse (§ 48 Abs. 1 SGB X), können Verletztenrenten zu erhöhen, herabzusetzen oder ganz zu entziehen sein. Bei einer Rente auf unbestimmte Zeit ist die Höhe der Rente nur dann an die geänderten Verhältnisse anzupassen, wenn die Änderung in den Unfallfolgen die Höhe der MdE um mehr als 5 % verändert (§ 73 Abs. 3 SGB VII). Dieser Umstand ist für den ärztlichen Sachverständigen vor allem bei Gutachten zur Rentennachprüfung relevant.
Renten dürfen nicht für Zeiten neu festgestellt werden, in denen Verletztengeld zu zahlen ist (§ 74 Abs. 2 SGB VII). Dies hat den Sinn, Doppelleistungen zu vermeiden. Außerdem ermöglicht es festzustellen, ob sich der verschlimmerte Zustand durch Maßnahmen der Heilbehandlung wieder bessern lässt und entspricht damit dem Grundsatz „Rehabilitation vor Rente“.

Erfahrungswerte

Um Sachverständigen Orientierung zu geben und eine Gleichbehandlung der Versicherten zu erreichen, gibt es MdE-Erfahrungssätze der GUV (sog. „MdE-Tabellen“) [abgedruckt z. B. bei Schönberger et al. (2017); Mehrhoff et al. (2019) oder Ludolph et al. (2022)]. Gerichte haben sie als Maßstab für die MdE-Bewertung wiederholt bestätigt. Sie beziehen sich auf die RuZ und führen bei identischen Unfallfolgen zur selben MdE. Sie sind auch auf die Rente als vorläufige Entschädigung anzuwenden. Allerdings sind in dieser Frühphase typische Erschwernisse zu beachten wie die Notwendigkeit, sich an die körperlichen Beeinträchtigungen gewöhnen und anpassen zu müssen. Die MdE kann dann vorübergehend etwas höher einzuschätzen sein. Dies ist unproblematisch, da Besserungen innerhalb der ersten 3 Jahre oder zur RuZ berücksichtigt werden können. Von den MdE-Erfahrungswerten abzuweichen, um einem speziellen Einzelfall gerecht zu werden, ist immer möglich. Aber es verlangt stets eine überzeugende individuelle Begründung.
Gewöhnlich mit einer Verletzung verbundene Schmerzen sind berücksichtigt.
Eine höhere MdE wegen anhaltender Schmerzen vorzuschlagen, kommt nur infrage, wenn im Einzelfall besondere Beeinträchtigungen bewiesen sind, die spürbar über das übliche Maß hinausgehen und Befunde wie Minderbeschwielung, Muskelminderung oder Knochenentkalkung eine zusätzliche schmerzbedingte Funktionseinschränkung belegen. In die MdE-Bewertung fließen aber nicht die Schmerzen selbst ein, sondern die Auswirkungen, die sie auf die Erwerbsfähigkeit haben.
Entschädigungssätze aus anderen Rechtsgebieten (z. B. aus dem zivilen Schadensersatzrecht oder der privaten Unfallversicherung) gelten in der GUV nicht. Auch die Regelungen der Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV) sind nicht anwendbar, weil sie sich nicht auf die Beeinträchtigungen im Erwerbsleben beziehen, sondern auf Auswirkungen in allen Lebensbereichen.
MdE-Eckwertetabelle der DGUV und MdE-Tabellen in der Gutachtenliteratur
Die Erfahrungswerte der GUV und speziell die MdE-Tabellen, die die Gutachtenliteratur veröffentlicht hat, waren in der Vergangenheit Kritik ausgesetzt.Unterschiedliche Quellen gaben nicht erklärliche, voneinander abweichende Standardwerte an, auch wenn sich diese zumeist nur in Nuancen unterschieden. Weder Herkunft noch Entwicklung der Werte war transparent. Änderungen wurden nicht begründet. Regelmäßig blieb offen, ob und inwieweit sie veränderte Arbeitsmarktbedingungen berücksichtigten.
Um dieser Kritik zu begegnen und auf Vorschläge des Deutschen Sozialgerichtstags zu reagieren, hat die DGUV eine unabhängige multiprofessionelle Expertengruppe einberufen und ihr aufgegeben, die Grundlagen der MdE auf Basis der Rechtsprechung zu analysieren, die Veränderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zu berücksichtigen und dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechende konsistente und nachvollziehbar begründete MdE-Erfahrungswerte vorzuschlagen, um die vorhandenen MdE-Tabellen zu vereinheitlichen.
Nach intensiven Beratungen, öffentlichen Hearings und Diskussionen mit Sozialpartnern und Sozialgerichten, hat die MdE-Expertengruppe Ende 2019 eine neue MdE-Eckwertetabelle publiziert [DGUV (2019)], die die UV-Träger für sich als verbindlich anerkennen und die bei der DGUV kostenlos heruntergeladen werden kann. Sie bezieht sich auf die besonders wichtigen Werte bei Gliedmaßenverlusten, die auch für leichtere Verletzungen wegweisend sind. Der Abschlussbericht der Expertengruppe enthält nicht nur konsentierte und begründete MdE-Werte, sondern setzt sich auch ausführlich mit der Rechtsprechung zur MdE auseinander, beschäftigt sich mit den Möglichkeiten und den faktischen Grenzen, die der Berücksichtigung des allgemeinen Arbeitsmarkts gesetzt sind, und erörtert Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der MdE in der GUV und dem Grad der Schädigungsfolge/Grad der Behinderung (GdS/GdB) im Schwerbehinderten- bzw. Versorgungsrecht [ausführlich Schiltenwolf et al. (2020)]. Er widmet sich damit Themen, die für Sachverständige nützlich sind, um rechtliche Verwechslungen zu vermeiden, die Qualität und Verwertbarkeit von Gutachten beeinträchtigen können.
Im Jahr 2023 hat eine weitere Expertengruppe ihre Arbeit aufgenommen, die auf der Basis der Eckwerte für Gliedmaßenverluste weitere konsentierte Empfehlungen zur MdE erarbeiten soll.

Einschätzung der MdE

Unabhängig von der Art des Gutachtens wird von Sachverständigen regelmäßig verlangt, die MdE einzuschätzen. Sie richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII).
Begutachtung ist Funktionsbegutachtung. Nicht auf den anatomischen Defekt kommt es an, sondern auf den Ausfall von Funktionen.
Beispiel
V bricht sich bei einem Arbeitsunfall den Unterschenkel. Die MdE ergibt sich nicht aus der Verletzung, sondern aus deren Folgen für die Körperfunktion, also etwa aus einer resultierenden Bewegungseinschränkung im oberen Sprunggelenk, aus Muskelminderungen am Bein und einer Gangstörung.
Ausgangspunkt ist der gutachtliche Untersuchungsbefund. Findet die Untersuchung erst einige Monate oder gar Jahre nach dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit statt, muss die MdE nicht nur aktuell, sondern auch für die zurückliegende Zeit eingeschätzt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, was an dokumentierten Befunden der Vergangenheit zur Verfügung steht. Haben sich die Funktionseinschränkungen im Verlauf verändert, ist die MdE abgestuft einzuschätzen. Fehlen Befunde, können sie durch medizinische Erfahrung zu ersetzen sein. So gibt es z. B. MdE-Erfahrungswerte für eine zeitlich gestaffelte MdE nach Implantation einer Hüft-Totalendoprothese.

Gesamt-MdE

Sind durch einen Versicherungsfall mehrere Körperteile oder verschiedene Organe geschädigt, ist eine sog. Gesamt-MdE zu bilden. Dafür ist ein verantwortlicher Hauptgutachter zu benennen. Er hat zu erläutern, welche Überlegungen ihn zu seiner Einschätzung der Gesamt-MdE geführt haben. Sie müssen transparent machen, wie er die Gesamt-MdE gebildet hat. Eine schlichte Addition einzelner MdE-Sätze ist unzulässig.
Die Gesamt-MdE ist nicht zu errechnen, sondern „integrierend“ zu ermitteln.
In der Regel ist sie niedriger als die Summe der Einzel-MdE-Werte. Das ist evident bei Überschneidungen. Gehen Verletzungsfolgen, die auf einem Fachgebiet festgestellt werden, weitgehend in den Folgen auf, die ein anderes Fachgebiet bereits berücksichtigt, entspricht die Gesamt-MdE der höheren Einzel-MdE.
Beispiel
V hat einen komplexen Unterschenkelbruch erlitten, bei dem auch Nerven geschädigt wurden. Wichtigste Folge ist eine Gangstörung, die sowohl auf den fehlverheilten Knochenbruch als auch auf die eingetretene Nervenlähmung zurückgeführt werden kann. Der chirurgische Gutachter bewertet die Folgen des Unterschenkelbruchs mit einer MdE von 30 %, der Neurologe schätzt die vorwiegend motorischen Folgen der Peronäusläsion mit einer MdE von 20 % ein. Da sich chirurgische und neurologische MdE nahezu vollständig überschneiden, entspricht die Gesamt-MdE der höheren Einzel-MdE, wird also mit 30 % einzuschätzen sein.
Meistens ist aber eine sog. „integrierende Gesamtschau“ notwendig. Dabei hat sich die Einschätzung weniger an den einzelnen Funktionseinschränkungen zu orientieren, für die es separate MdE-Erfahrungswerte gibt. Stattdessen muss sie die komplexen Funktionsabläufe in ihrer Gesamtheit in den Blick nehmen. Das können etwa Gangbild und Ausdauer beim Gehen, Belastbarkeit des Achsenorgans Wirbelsäule-Becken oder komplexe Schulter-/Arm- und Greiffunktionen sein.
Beispiel
V hat Verletzungen beider Unterschenkel erlitten, die die Belastbarkeit der Beine mindern, und zusätzlich einen Wirbelkörperbruch. Die verminderte Belastbarkeit der Wirbelsäule wirkt sich wegen der Folgen der Beinverletzung funktionell kaum aus und erhöht die MdE, die sich aus den Beinverletzungen ergibt, wenn überhaupt, nur geringfügig.
Die Gesamt-MdE kann über zwei Wege geschätzt werden, entweder über eine Orientierung an anerkannten Erfahrungswerten für schwere Verletzungen oder an der gravierendsten Funktionsstörung im zu begutachtenden Einzelfall. Für den Vergleich mit Erfahrungswerten bieten sich beispielsweise die MdE-Werte für Gliedmaßenverluste an.
Beispiel
V hat Brüche der Finger, des Handgelenks und des Oberarms und sensible und motorische Störungen der Armnerven erlitten. Bezogen auf die funktionellen Auswirkungen sollte hier die Schädigung des verletzten Arms mit den MdE-Erfahrungswerten für Amputationen verglichen werden.
Bei Polytraumen kann auch ein Vergleich mit Erfahrungswerten für Querschnittlähmungen hilfreich sein:
Beispiel
V hat Brüche aller Gliedmaßen, des Beckens sowie innere Verletzungen mit Funktionsstörungen der Blase und des Darms erlitten. Die Erfahrungswerte der GUV für inkomplette Querschnittlähmungen berücksichtigen ähnliche Kombinationen von Funktionseinschränkungen.
Alternativ kann man von der höchsten Einzel-MdE ausgehen und jeweils prüfen, ob und wenn ja, inwiefern sich wegen zusätzlicher Funktionsstörungen die MdE erhöhen muss. Je größer die höchste Einzel-MdE, desto sorgfältiger ist zu überlegen, ob Funktionsstörungen aus anderen Körperregionen, sich überhaupt noch zusätzlich auswirken.
Beispiele
V hat ein schweres Schädel-Hirn-Trauma (MdE 70 %) und eine Handverletzung (MdE 10 %) erlitten. Schon wegen der Folgen des Schädel-Hirn-Traumas stehen ihm nur noch wenige Arbeitsbereiche offen. Der durch die geringen Folgen der Handverletzung bewirkte zusätzliche Verlust an Arbeitsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt fällt nicht ins Gewicht, weil die hohe neurologische MdE seine Beeinträchtigungen schon nahezu vollständig abdeckt.
Anders dagegen, wenn V neben dem Schädel-Hirn-Trauma z. B. einen Verlust des Unterschenkels (MdE 40 %) erlitten hätte. Schwer Schädel-Hirn-Verletzte sind oft nur noch für Tätigkeiten einsetzbar, die wenig kognitive, aber desto mehr körperliche Belastbarkeit erfordern. Erhebliche körperliche Beeinträchtigungen begrenzen die Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt zusätzlich und müssen deshalb in die Gesamt-MdE eingehen. Je nach Umständen des Einzelfalls könnte die Gesamt-MdE deswegen z. B. mit 85 % oder noch höher einzuschätzen sein.
Je komplizierter die Verhältnisse, desto mehr ist zu empfehlen, die Gesamt-MdE auf beiden vorgeschlagenen Wegen zu durchdenken. Besonders wenn die Gesamt-MdE aus einer Vielzahl von Einzel-MdE-Sätzen gebildet wird, kann der Alternativweg helfen, die Plausibilität des gefundenen Ergebnisses zu überprüfen.

Vor- und Nachschäden

Folgen eines Versicherungsfalles können mit Beeinträchtigungen zusammentreffen, die schon vor dem Versicherungsfall bestanden (Vorschäden) oder danach hinzugetreten sind (Nachschäden). Nachschäden, die unabhängig vom Versicherungsfall entstanden sind, wirken sich weder positiv noch negativ auf die MdE aus. Solange die Folgen des Versicherungsfalls sich nicht ändern, bleibt die MdE gleich. Das gilt nicht nur, wenn unfallunabhängige weitere Gesundheitsschäden nach dem Unfallereignis die Erwerbsfähigkeit der verletzten Person zusätzlich mindern, sondern auch wenn die Erwerbsfähigkeit vollständig entfällt.
Beispiel
V hat bei einem Arbeitsunfall sein rechtes Auge verloren (MdE 25 %). Später erblindet er unfallunabhängig auf dem linken Auge. Obwohl er nun blind ist, was nach den Erfahrungswerten eine MdE von 100 % rechtfertigt, ist seine Rente nicht zu erhöhen.
Komplizierter ist die MdE-Einschätzung bei Vorschäden. Sie führen nicht unbedingt zu einer niedrigeren MdE. Weil die Erwerbsfähigkeit vor Eintritt des versicherten Ereignisses stets mit 100 % anzusetzen ist, ist jeder in dem Zustand versichert, in welchem er sich bei Eintritt des Versicherungsfalls befindet – es sei denn, er ist bereits völlig erwerbsunfähig.
Obwohl sie selbst nicht entschädigt werden, können Vorschäden für die Einschätzung der MdE relevant sein, wenn sie die Folgen des Versicherungsfalls beeinflussen, wenn sie damit in „funktioneller Wechselwirkung“ stehen. Verstärken Vorschäden die funktionellen Auswirkungen von Unfall- oder BK-Folgen, führen sie zu einer höheren MdE. Bei der Verletzung von paarigen Organen ist dies nicht selten.
Beispiel
V ist auf dem linken Auge bereits blind, als er durch einen Arbeitsunfall das rechte Auge verliert. Er wird vom Einäugigen, der problemlos zurechtgekommen ist, zum Blinden. Der Verlust eines Auges rechtfertigt grundsätzlich eine MdE von 25 %. Doch würde diese MdE der gravierenden Veränderung nicht gerecht, die eine vollständige Erblindung verursacht. Wegen der funktionellen Wechselwirkung von Vorschaden und Unfallschaden steht V Rente nach einer MdE von 100 % zu.
Vorschäden und Unfallschäden können aber auch ineinander aufgehen und eine niedrigere MdE bewirken, vor allem dann, wenn ein bereits funktionsgemindertes Organ verletzt wird.
Beispiel
V hatte bereits schwere Deformierungen an der Hand, die einer MdE von 40 % entsprachen, als ihm seine Hand durch einen Arbeitsunfall im Handgelenk amputiert wird. Die MdE für den Verlust der Hand beträgt nach den Erfahrungswerten der GUV 70 %. Wegen des Vorschadens wird die MdE für den Handverlust deutlich unter dem Erfahrungswert liegen. Sie könnte – in Abhängigkeit von den konkreten Umständen des individuellen Falls – z. B. 30 % betragen.
Stehen Vorschäden und Unfallfolgen in funktioneller Wechselwirkung dürfen die Erfahrungswerte der gesetzlichen UV nicht schablonenhaft für die MdE-Einschätzung übernommen werden.
Wie bei der Gesamt-MdE ist vielmehr eine „Gesamtschau“ gefordert, die die konkreten individuellen Verhältnisse bewertet.

Amtsermittlungsgrundsatz und Beweisregeln

Die UV-Träger erbringen Leistungen „von Amts wegen“ (§ 19 Satz 2 SGB IV). Ein Antrag – etwa auf eine Maßnahme der Rehabilitation oder auf Rente – ist nicht erforderlich. Stattdessen existieren gesetzliche Anzeigepflichten für Ärzte und Arbeitgeber.

Anzeigepflichten

Haben Ärzte den begründeten Verdacht, dass ein Patient an einer Berufskrankheit leiden könnte, sind sie verpflichtet, eine Berufskrankheitenanzeige zu erstatten (§ 202 Satz 1 SGB VII). Eine Einwilligung der Betroffenen ist nur bei „Wie-Berufskrankheiten“ erforderlich. Die Formulare und Informationen zur BK-Meldung finden sich auf den Internetseiten der DGUV, die sich Berufskrankheiten widmen (https://www.dguv.de/bk-info/index.jsp).
Außerdem müssen alle behandelnden Ärzte in Deutschland am Tag ihrer ersten Inanspruchnahme oder spätestens am Tag darauf dem UV-Träger eine ärztliche Unfallmeldung (Formtext F 1050) erstatten. Dies gilt auch, wenn sie Versicherte dem Durchgangsarzt vorstellen. Dies regelt § 7 Abs. 1 des sog. Ärztevertrags. Das ist der nach § 34 Abs. 3 SGB VII geschlossene Vertrag zwischen der DGUV und der SVLFG mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung über die Durchführung der Heilbehandlung, die Vergütung der Ärzte sowie die Art und Weise der Abrechnung der ärztlichen Leistungen.
Unternehmer müssen Unfälle in ihren Betrieben melden, wenn Versicherte getötet oder so verletzt sind, dass sie mehr als drei Tage arbeitsunfähig werden. Erkrankungen haben sie dem UV-Träger anzuzeigen, wenn sie im Einzelfall Anhaltspunkte dafür haben, dass bei ihren Beschäftigten eine Berufskrankheit vorliegen könnte (§ 193 SGB VII).

Tatsachenermittlung und Beweislast

Im Sozialrecht gilt der Amtsermittlungsgrundsatz. Die Träger der Sozialversicherung müssen von sich aus, „von Amts wegen“, alle Tatsachen ermitteln, die nötig sind, um über Sozialleistungen entscheiden zu können (§ 20 Abs. 1 SGB X). Denn für Versicherte wäre es oft zu schwierig, selbst Beweise dafür vorzulegen, dass sie Leistungsansprüche haben.
Eine der Unschuldsvermutung im Strafrecht („in dubio pro reo“) entsprechende Regel, die es erlaubt, im Zweifel für die Betroffenen zu entscheiden („in dubio pro aegroto“), gibt es im Sozialrecht nicht.
Indem die Tatsachen nachgewiesen sein müssen, die der Leistungsanspruch voraussetzt, tragen Versicherte die Beweislast. Sie gehen leer aus, wenn tatsächliche Voraussetzungen der Sozialleistung „beweislos“ bleiben. Doch kommen die Regeln der Beweislast erst zum Zuge, wenn sich eine Tatsache auch nach Ausschöpfung aller sinnvollen Ermittlungsmöglichkeiten nicht beweisen lässt. Ermittlungen „ins Blaue“ können Versicherte von den UV-Trägern nicht verlangen, aber alles, was realistischerweise Erfolg verspricht.
Die Beweislast liegt nur in seltenen Ausnahmesituationen beim UV-Träger. Denn „Gegennormen“ wie der praktisch bedeutungslose § 101 SGB VII, rechtshindernde oder rechtsvernichtende Tatsachen, deren Voraussetzungen die UV-Träger nachzuweisen haben, sind Rarität in der GUV. Fälle, in denen häufig, aber fälschlich, um Beweislast gestritten wird, wie „innere Ursachen“, Alkoholeinfluss oder der Versicherungsschutz auf Wegen, sind im Rahmen der Beweiswürdigung zu lösen, nicht über die Beweislast (dazu ausführlich Ricke (2021), S. 334 ff.).

Beweismaß und Beweiswürdigung

Indem UV-Träger medizinische Gutachten in Auftrag geben, erheben sie Beweis (§ 21 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X). Gutachten sind Beweismittel wie Zeugenaussagen oder Urkunden. Ob sie genügen, eine Tatsache zu beweisen, z. B. das Ausmaß der Beeinträchtigung durch eine Verletzung, ist eine Frage der Beweiswürdigung. Beweise würdigen heißt, ihre Überzeugungskraft zu bewerten. Dies ist Aufgabe von Verwaltung oder Gericht.
Zur Orientierung dienen Beweismaßstäbe oder Beweisgrade. Zwei Beweisgrade sind wichtig: der Vollbeweis und die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit. Die bloße Möglichkeit – wenn ein Umstand nicht auszuschließen ist – genügt nie, um etwas zu beweisen.

Vollbeweis

Tatsachen wie z. B. Gesundheitsschäden oder der Ablauf des Unfallgeschehens (Hergang) sind voll zu beweisen. Der Vollbeweis verlangt Gewissheit. Eine Tatsache ist gewiss, wenn ein vernünftiger Mensch nicht daran zweifelt. Der Bundesgerichtshof (Urteil vom 17.02.1970, III ZR 139/67 – „Anastasia“) hat dies mit einer oft zitierten Formel ausgedrückt: „Der Richter darf und muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen“. Das BSG (Urteil vom 02.02.1978, 8 RU 66/77) meint das Gleiche, wenn es formuliert, eine Tatsache müsse in so hohem Grad wahrscheinlich sein, „dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung vom Vorliegen der Tatsache zu begründen“. Der Vollbeweis lässt entfernte, eher theoretische Zweifel zu. Mehr aber nicht.

Hinreichende Wahrscheinlichkeit

Für den Nachweis der Kausalität, für die Frage, ob ein versichertes Ereignis einen Gesundheitsschaden tatsächlich verursacht hat, ist das Beweismaß gemindert. Hier reicht hinreichende oder überwiegende Wahrscheinlichkeit. Diese Anforderung ist erfüllt, wenn beim vernünftigen Abwägen aller Umstände die für den Zusammenhang sprechenden Umstände ein deutliches Übergewicht haben, wenn mehr dafür als dagegen spricht und ernste Zweifel ausscheiden (BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R). Hinreichende Wahrscheinlichkeit erlaubt ein größeres Maß an Unsicherheit. Diese Beweiserleichterung gilt nur für die Kausalität selbst, nicht für die Tatsachen, an die der Kausalbeweis anknüpft (sog. Anknüpfungstatsachen).
Beispiel
V ist im Betrieb gestürzt. Eine Woche später geht er wegen Kniebeschwerden zum Arzt und schildert seit dem Unfalltag bestehende Beschwerden. Der Arzt stellt einen Meniskusschaden fest. Der Beschwerdeverlauf seit dem Unfall ist Anknüpfungstatsache. Er ist im Vollbeweis nachzuweisen. Ist der volle Beweis erbracht, dient er als Indiz, das verwendet werden kann, um in Abhängigkeit von der übrigen Befundlage auf einen „hinreichend wahrscheinlichen“ Ursachenzusammenhang zu schließen.

Beweis durch Erfahrungssätze („Anscheinsbeweis“)

Beweisführung über medizinische Fragestellungen ist oft auf Erfahrungssätze gestützt. Im Zivilrecht heißt ein auf Erfahrung gestützter Beweis „Anscheinsbeweis“. Im Sozialrecht wird dieser Begriff seltener verwendet. Der Anscheinsbeweis erlaubt bei typischen Geschehensabläufen von einer Ursache auf eine bestimmte Folge zu schließen, wenn das Geschehen nach Erfahrung regelmäßig in gleicher Weise abläuft [Schönberger et al. (2017), S. 59 f.]. Er setzt also einen Erfahrungssatz voraus. Sachverständige müssen offenlegen, worauf Erfahrungssätze gestützt sind, die sie verwenden, und unter welchen Bedingungen sie gelten (BSG, Urteil vom 24.07.2011, B 2 U 9/11 R – „Testfahrer“).
Auf Erfahrung gestützte Argumentation kann wertvoll sein, um Kausalität (mit Wahrscheinlichkeit) zu beweisen. Aber auch Anknüpfungstatsachen, die dem Vollbeweis unterliegen, können sich allein an Hand von ärztlicher Erfahrung nachweisen lassen, also sogar ohne „handfeste“ Befunde.
Beispiel
Der 80-jährige freiwillig versicherte Unternehmer U fängt reflexhaft einen Schlüssel auf, den ihm ein Mitarbeiter zuwirft. Im Anschluss hat er Beschwerden, die sich als auf einen Sehnendefekt gegründet herausstellen. Befunde, die eine Texturstörung der geschädigten Sehne belegen, gibt es nicht. Ist eine Texturstörung (im Vollbeweis) nachweisbar?
Ja, denn dieser Beweis kann sich auf ärztliche Erfahrung stützen, nämlich:
Erfahrungssatz 1: Die geringe Intensität der Gewalteinwirkung wäre nicht in der Lage gewesen, eine gesunde Sehne zu zerreißen. (Also muss die Sehne vorgeschädigt oder „texturgestört“ gewesen sein.)
Erfahrungssatz 2: 80-jährige haben typischerweise, d. h. in einem hohen Prozentsatz, Texturstörungen an der als geschädigt festgestellten Sehne. (Also war die Textur der Sehne von U wahrscheinlich ebenfalls gestört.)
Sachverständige müssen bei ihrer Argumentation erkennen lassen, welche Erfahrungssätze sie zugrunde legen und inwiefern dieses Erfahrungswissen in der medizinischen Wissenschaft anerkannt ist. Deswegen sollten sie Quellen angeben. Dann können Erfahrungssätze die Basis sein, um den Beweis für eine umstrittene Tatsache zu erbringen.

Konsequenzen für Sachverständige

Die Zitate aus der Rechtsprechung, die dem Beweis gelten, machen Vorgaben für die subjektive Überzeugungsbildung der Gerichte. Sie sind für Sachverständige nur mittelbar bedeutsam, indem sie Auskunft über Maßstäbe geben, die Verwaltung oder Gericht an ihre Ausführungen anlegen. Sachverständige sollten sie kennen, nicht nur, damit sie wissen, woran ihre Ausführungen gemessen werden, sondern auch um die Verständigung über medizinische und juristische Sicht auf einen Sachverhalt zu erleichtern.
Beweismaße selbst anzuwenden, sollten Sachverständige vermeiden, auch wenn sie (scheinbar) dazu aufgefordert werden. Beweisfragen werden nicht immer optimal formuliert. So kommen Fragen danach vor, ob eine Einwirkung einen Schaden „mit (hinreichender) Wahrscheinlichkeit“ verursacht hat oder ob eine Tatsache „mit Gewissheit“ vorliegt. Auch wenn solche Fragen gestellt sind, hat es wenig Sinn, wenn Sachverständige ihr subjektives Verständnis davon ausbreiten, was sie für „hinreichend wahrscheinlich“ oder „gewiss“ halten.
Die Beweiswürdigung ist (alleinige) Aufgabe von Verwaltung oder Gericht. Persönliche Überzeugungen von Sachverständigen sind dafür nicht unmittelbar relevant.
Trotzdem haben Gutachten oft (starken) Einfluss auf die Überzeugungsbildung der Auftraggeber (Gerichte, UV-Träger). Dabei kommt es aber primär auf die Fakten (Befunde) an und auf die (medizinischen) Begründungen, die über die Bedeutung dieser Tatsachen Auskunft geben, nicht auf die „Meinung“ der Sachverständigen oder deren Verständnis von Rechtsbegriffen. Gutachten sollten sich deshalb vor allem durch die Validität der tatsächlichen Feststellungen und die Überzeugungskraft der (medizinischen) Argumentation auszeichnen.

Ursachenzusammenhang („Theorie der wesentlichen Bedingung“)

Haftungsbegründende und haftungsausfüllende Kausalität

Entschädigungsleistungen der GUV setzen einen doppelten ursächlichen Zusammenhang (Kausalität) voraus. Man unterscheidet die haftungsbegründende und die haftungsausfüllende Kausalität. Haftungsbegründende Kausalität ist der ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Einwirkung und dem Erstschaden. Die haftungsausfüllende Kausalität bezeichnet die Bedingtheit der gutachtlich festgestellten Folgen des Versicherungsfalls durch den primären Schaden [Becker (2007b), S. 727].
Die Prüfung des Ursachenzusammenhangs richtet sich dabei stets nach der „Theorie der wesentlichen Bedingung . Sie ist zweistufig, hat einen tatsächlichen und einen rechtlichen Teil. Erst ist die Tatsachenfrage der („natürlichen“) Kausalität festzustellen, bevor rechtlich zu entscheiden ist, ob die berufliche Ursache nach der Theorie der wesentlichen Bedingung dem versicherten Risiko zugerechnet werden kann.

Natürliche Kausalität (Stufe 1)

Das Recht setzt eine universelle Gültigkeit der Kausalität voraus, indem „es keine Ursache ohne Wirkung und keine Wirkung ohne Ursache“ gibt (BSG-Urteil vom 24.07.2012, B 2 U 9/11 R). Salopp formuliert: Von Nichts kommt nichts. Zunächst ist zu fragen, ob der Versicherungsfall eine naturwissenschaftlich-philosophische Bedingung für den Eintritt der Gesundheitsstörung war (BSG, B 2 U 31/11 R, Urteil vom 15.05.2012). Die erste Stufe des Ursachenzusammenhangs, die natürliche oder „objektive“ Kausalität, wird auch als „naturwissenschaftlich-philosophische“ bezeichnet. Sie ist gleichbedeutend mit der Antwort auf die Frage nach der „conditio sine qua non“. Dabei ist „conditio sine qua non“, was nach den einschlägigen Erfahrungssätzen nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass die gesundheitliche Schädigung entfiele. Aussagen über Verursachung sollen auf medizinischem Erfahrungswissen über tatsächliche Kausalbeziehungen zwischen Einwirkungen und Gesundheitsschäden beruhen. Dazu ist der aktuelle medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisstand heranzuziehen (BSG-Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R).
Sachverständige haben die Aufgabe, auf dieser Grundlage den tatsächlich eingetretenen Schaden nachträglich kausal zu erklären [ausführlich Forchert (2022), S. 172 ff.]. Wichtiges Indiz für die natürliche Kausalität ist eine enge zeitliche Verbindung. Allein reicht sie zum Beweis aber nicht aus. Es müssen weitere Argumente dazukommen, um vom zeitlichen auf den kausalen Zusammenhang zu schließen.
Weil ein „positiver“ Nachweis gefordert ist, genügt eine Beweisführung nach dem Ausschlussverfahren nicht.
Auch wenn keine konkurrierenden Ursachen feststellbar sind, müssen zusätzliche Indizien (typischerweise: medizinische Erfahrungssätze) dafür sprechen, dass die versicherte Einwirkung natürliche Ursache der Gesundheitsschädigung ist.

Konkurrierende Ursachen

Ist die versicherte Einwirkung natürliche Ursache, ist weiter zu fragen, ob es noch andere natürliche Ursachen gibt. Das können Bedingungen aus dem nicht versicherten Lebensbereich sein wie Vorerkrankungen, Schadensanlagen, nicht versicherte Betätigungen oder Verhaltensweisen (BSG, B 2 U 31/11 R, Urteil vom 15.05.2012). Genauso wie die versicherte Einwirkung sind auch etwaige konkurrierende Ursachen im Vollbeweis nachzuweisen (Abschn. 9.1). Die häufigste konkurrierende Ursache sind Vorschädigungen.
  • Vorschädigungen
Vorschädigungen können die Frage aufwerfen, ob durch das versicherte Ereignis überhaupt ein Erstschaden eingetreten ist. Außerdem können sie den Kausalzusammenhang zweifelhaft erscheinen lassen. Der Begriff „Vorschädigung“ dient als Oberbegriff, der „Schadensanlage“ und „Vorschaden/Vorerkrankung“ zusammenfasst [DGUV (2018), S. 14]. Schadensanlagen und Vorschäden zu unterscheiden ist wichtig, weil sie unterschiedliche rechtliche Konsequenzen haben.
  • Schadensanlagen
Als Schadensanlage bezeichnet man eine bereits vorhandene, jedoch klinisch stumme Krankheitsdisposition, die noch eines äußeren Anstoßes bedarf, um krankhaft zu werden.
Beispiele für typische Schadensanlagen
Asymptomatische Knochenentkalkung oder Texturstörungen der Sehnen, genetische Anomalien, Formvarianten bestimmter Knochen.
Treffen versichertes Ereignis und Schadensanlage zusammen, ist die Entstehung des Gesundheitserstschadens zu klären. Dafür gilt das „Alles-oder-nichts-Prinzip. Ist das versicherte Ereignis rechtlich als Ursache für den Gesundheitserstschaden anzusehen, sind alle gesundheitlichen Folgen des Ereignisses zu entschädigen, ohne dass wegen der Schadensanlage etwas abzuziehen wäre.
  • Vorschäden oder Vorerkrankungen
Vorschäden (Abschn. 7.5) oder Vorerkrankungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie bereits vor dem versicherten Ereignis klinisch in Erscheinung getreten sind, also bereits symptomatisch waren und/oder behandelt werden mussten.
Beispiel
Ein Röntgenbild zeigt eine alte arthrotisch deformierte Bruchverletzung.
Sind Vorschaden und versichertes Ereignis gemeinsam Ursachen bestimmter gesundheitlicher Folgen, stellt sich die Frage nach einer Verschlimmerung des Vorschadens. In diesem Fall wird nur der Verschlimmerungsanteil von der GUV entschädigt. Vom Gesamtschaden ist also die Beeinträchtigung abzuziehen, die bereits vor dem versicherten Ereignis bestanden hatte.

Rechtliche Wesentlichkeit (Stufe 2)

Nach der Feststellung der natürlichen Kausalität auf Stufe 1 ist auf Stufe 2 zu bewerten, ob die versicherte Ursache „rechtlich wesentlich“ ist. Nur wenn sowohl die versicherte Einwirkung als auch konkurrierende Ursachen des Gesundheitsschadens feststehen, kommt es auf die rechtliche Bewertung an. Der Rechtsbegriff der „Wesentlichkeit“ dient dazu, die Grenze zu ziehen zwischen dem allgemeinen Lebensrisiko, für das die Gesetzliche Krankenversicherung zuständig ist, und dem spezifischen (meist beruflichen) Risiko, das die GUV versichert.
Diese Grenze zu bestimmen, ist Aufgabe von Verwaltung oder Gericht, nie von medizinischen Sachverständigen.
  • „Wesentlichkeit“ als „besondere Beziehung zum Erfolg“
Ob eine Ursache im Einzelfall rechtlich wesentlich ist, bewertet die Rechtsprechung „nach der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs“ (BSG-Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R). „Wesentlichkeit“ liegt vor, wenn die versicherte Einwirkung unter Würdigung aller festgestellten mitwirkenden unversicherten Ursachen die Realisierung einer in den Schutzbereich des Versicherungstatbestandes fallenden Gefahr ist. Eine Rechtsvermutung, dass eine versicherte Einwirkung wegen ihrer faktischen Mitverursachung rechtlich wesentlich ist, gibt es nicht. Die Wesentlichkeit ist zusätzlich und eigenständig nach Maßgabe des Schutzzwecks der GUV zu beurteilen (BSG-Urteil vom 13.11.2012, B 2 U 19/11 R.) „Wesentlich“ ist dabei nicht gleichzusetzen mit „gleichwertig“ oder „annähernd gleichwertig“. Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere Ursache keine überragende Bedeutung hat (BSG vom 30.01.2007, B 2 U 15/05).
Diese häufig zitierten Formeln aus der Rechtsprechung richten sich nicht an Sachverständige. Sie betreffen die (richtige) Auslegung des Gesetzes.
  • Mitwirkungsanteile
Aufgabe medizinischer Gutachter ist es, sich zu den tatsächlichen Feststellungen sachverständig zu äußern, die dieser rechtlichen Zurechnung vorausgehen.
Damit Verwaltungen oder Gerichte die rechtliche Wertung nach der „Wesentlichkeit“ vornehmen können, müssen Sachverständige eine Vorfrage beantworten, nämlich die Frage nach den tatsächlichen „Mitwirkungsanteilen“ (BSG-Urteil vom 24.07.2012, B 2 U 7/11 R) von versicherten Einwirkungen und unversicherten Faktoren (Abschn. 12.4).
Die Rechtsfrage der „Wesentlichkeit“ selbst ist keine Tatsache und daher nicht beweisbar. Für die „Wesentlichkeit“ gibt es damit auch keine „hinreichende Wahrscheinlichkeit“.

Rentenbegutachtung (Formulargutachten)

Obwohl Leistungen stets einen ursächlichen Zusammenhang voraussetzen, geben UV-Träger nicht nur Kausalitätsgutachten in Auftrag. Nach Arbeitsunfällen sind es oft Zustandsgutachten (Rentengutachten). Rentengutachten beruhen auf der Annahme unproblematischer oder geklärter Kausalität. Sachverständige sind trotzdem aufgefordert, den Ursachenzusammenhang kursorisch zu prüfen.
Erweist sich die Kausalitätsfrage wider Erwarten als komplex, empfiehlt es sich, Kontakt zum Auftraggeber aufnehmen, um den Auftrag in ein Zusammenhangsgutachten zu ändern.
Die meisten Rentengutachten sind Formulargutachten. Aber auch freie Gutachten kommen vor, z. B. bei komplexen Verletzungen („Polytrauma“) oder bei Gutachten außerhalb des orthopädisch-chirurgischen Fachgebiets („Zusatzgutachten“). Rentengutachten sollen klären, welche Folgen ein Unfall hinterlassen hat. Primäre Aufgabe von Sachverständigen ist daher, den Untersuchungsbefund sorgfältig zu erheben und vollständig zu dokumentieren sowie einzuschätzen, in welchem Ausmaß die Erwerbsfähigkeit der versicherten Person durch die Unfallfolgen gemindert ist.
Gutachtenformulare können auf der Webseite der DGUV (https://www.dguv.de/formtexte/aerzte/index.jsp) heruntergeladen werden. Stets gefragt sind Anamnese, aktuelle Klagen und Beschwerden, aktueller Befund, Vorschädigungen, Beschreibung der Unfallfolgen, MdE-Einschätzung und Vorschläge für sinnvolle weitere medizinische und/oder berufliche Rehabilitationsmaßnahmen.

Erstes Rentengutachten

Das Erste Rentengutachten (A 4200) dient dazu festzustellen, ob, und wenn ja in welcher Höhe, ein Anspruch auf Verletztenrente besteht, wenn nach dem Versicherungsfall die Heilbehandlung abgeschlossen ist. Es erfordert eine Bestandsaufnahme des Behandlungsverlaufs und der Unfallfolgen. Unfallfolgen müssen plausibel und nachprüfbar sein und deshalb aus der Befundbeschreibung im Gutachten hervorgehen und durch die entsprechenden Messbögen belegt sein.
Nur nachgewiesene Funktionsstörungen sind der MdE-Einschätzung zugrunde zu legen.
Beeinträchtigungen, die nicht durch Messung oder Augenschein unmittelbar festgestellt werden können, sind durch Indizien zu objektivieren. Funktionseinschränkungen werden weder durch Diagnosen noch durch Benennung anatomischer Defekte (z. B. Arthrose, deformiert verheilter Knochenbruch, Narbe) zureichend definiert. Stattdessen sind die Auswirkungen dieser Defekte auf die Funktionsfähigkeit des Organismus zu beschreiben, um verstehen zu können, inwiefern die Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist oder die Arbeitsmöglichkeiten vermindert sind. Angaben zum Ausmaß von Beeinträchtigungen und Beschreibungen des spezifischen Funktionsausfalls sind daher unerlässlich. Wichtig für die UV-Träger sind außerdem Hinweise auf erforderliche medizinische Rehabilitationsmaßnahmen (operative Eingriffe, Physiotherapie, orthopädische Hilfsmittel u. ä.), die Einschätzung, ob die versicherte Person ihre konkrete Berufstätigkeit konkurrenzfähig fortsetzen und den Verrichtungen des alltäglichen Lebens eigenständig nachgehen kann und eine Prognose, wie sich aus medizinischer Sicht der Unfallfolgezustand entwickeln wird.
Dem UV-Träger ist eine Gesamtvergütung (Abschn. 6.2) vorzuschlagen, wenn die Untersuchung Befunde ergibt, die einer MdE von 20 Prozent entsprechen, die Aussicht auf eine weitere Besserung (spontan oder durch Therapiemaßnahmen) realistisch ist und der Zeitpunkt, zu dem die MdE-Änderung im konkreten Fall voraussichtlich eintreten wird, nach medizinischer Erfahrung abgeschätzt werden kann.
Unfallverletzungen, die häufig mit Gesamtvergütungen entschädigt werden, sind unkomplizierte körperferne Speichenbrüche, unkomplizierte Außenknöchelbrüche, isolierte Ober- und Unterschenkelbrüche ohne Weichteilschäden und ohne Gelenkbeteiligung, unkomplizierte Hand- und Fußverletzungen.

Rente nach Gesamtvergütung

Nach der Gewährung einer Verletztenrente in Form der Gesamtvergütung wird das Gutachtenformular „Rente nach Gesamtvergütung“ (A 4520) verwendet, damit Sachverständige prüfen, ob die unfallbedingten Funktionseinschränkungen auch über das Ende des Zeitraums hinaus, für den die Gesamtvergütung geleistet wurde, eine MdE in rentenberechtigendem Grad verursachen. Sie sind dabei an das Vorgutachten nicht gebunden und müssen auch keine Aussage dazu treffen, ob sich im Vergleich zu den Befunden, die zur Gesamtvergütung geführt haben, eine Änderung eingestellt hat.

Zweites Rentengutachten

Das Zweite Rentengutachten (A 4500) gilt der Klärung, ob der versicherten Person eine Rente für unbestimmte Zeit (Abschn. 6.3) zusteht.
Auf der Basis der Befunde zum Untersuchungszeitpunkt ist die MdE frei einzuschätzen und an den Erfahrungswerten der GUV zu orientieren (Abschn. 7.2). Sachverständige sind dabei nicht an Vorgutachten gebunden kann und dürfen sie auch abweichend von der bisherigen Einschätzung bewerten, selbst wenn sich die gesundheitlichen Verhältnisse nicht geändert haben.
Die MdE-Empfehlung zu begründen, ist im Formulargutachten nicht ausdrücklich gefordert, aber empfehlenswert, um die Plausibilität des Gutachtens erhöhen – vor allem wenn die MdE-Einschätzung von früheren Feststellungen abweicht, obwohl die Befunde nahezu unverändert sind.

Gutachten zur Nachprüfung der MdE

Gutachten zur Nachprüfung (A 4510) der MdE haben den Zweck zu ermitteln, ob sich die Unfallfolgen verändert (verschlimmert oder gebessert) haben. Dazu müssen die Sachverständigen wissen, womit sie die von ihnen erhobenen Befunde vergleichen müssen. Daher haben die UV-Träger im Gutachtenauftrag den Vergleichsbefund zu benennen und das Bezugsdokument (meist ein vorheriges Gutachten) vorzulegen. Beträgt der Unterschied zwischen alter und neuer MdE 10 %, macht die Veränderung (Verschlimmerung oder Besserung) – in MdE ausgedrückt – „mehr als 5 vom Hundert“ (§ 73 Abs. 3 SGB VII) aus, ist die Rente anzupassen, wenn die Änderung länger als 3 Monate andauert.
Nachprüfungsgutachten erfordern drei Verfahrensschritte:
(1)
Vergleich der aktuellen Befunde mit den Befunden, die der bisherigen Entscheidung über die Rentenhöhe zu Grunde lagen (Vor- oder Vergleichsgutachten).
 
(2)
Bewerten, ob die aktuellen Befunde im Vergleich zu den Befunden aus dem Vorgutachten eine Änderung der MdE um 10 % rechtfertigen („wesentliche Änderung“)
 
(3)
Einschätzung der aktuellen MdE unter Berücksichtigung der Erfahrungswerte.
 
Änderungen zu beurteilen kann schwierig sein, wenn Sachverständige die Vergleichsbefunde anders beurteilen als Vorgutachter und der UV-Träger die MdE dem Vorgutachten entsprechend festgesetzt hatte. War die MdE zu niedrig bewertet, kann die aktuelle MdE um 10 % höher einzuschätzen sein, obwohl der Vergleich der Befunde nur eine unbedeutende Verschlimmerung ergibt.
Beispiel
Nach einem Fersenbeinbruch ist bei V trotz Arthrose mit schmerzhafter Wackelsteife im USG und deutlicher Gangstörung die MdE mit 10 % bewertet worden. Die Arthrose hat anschließend weiter zugenommen und die Störung des Gangbilds hat sich geringfügig verstärkt. Die aktuelle MdE beträgt korrekt eingeschätzt 20 %, die Befundänderung ist aber gering und eigentlich „unwesentlich“ (< 5 %).
Notwendig ist hier eine rückwirkende Aufhebung des Rentenbescheids, der der zu niedrigen Rentenzahlung zu Grunde liegt.
Der Gutachter sollte in solchen Fällen deshalb das Ergebnis seiner Beurteilung deutlich machen und die Verwaltung auffordern, die ursprüngliche MdE zu überprüfen.
Behauptet er stattdessen in der Absicht, dem Betroffenen zu helfen, fälschlich eine wesentliche Änderung, schadet er ihm. Denn die höhere Rente würde dann erst ab Eintritt der Verschlimmerung gezahlt statt von Anfang an.
Noch komplizierter sind die Verhältnisse, wenn die ursprüngliche MdE zu hoch eingeschätzt wurde. Dann kann der Befundvergleich eine wesentliche Verschlimmerung nahelegen, obwohl die korrekt eingeschätzte MdE geringer, genauso hoch oder nur 5 % höher ausfällt als die bereits anerkannte MdE.
Beispiel
Der Fersenbeinbruch von V hat zunächst nur beginnende arthrotische Veränderungen hinterlassen, die Beweglichkeit im Sprunggelenk nur minimal eingeschränkt und das Gangbild nicht gestört. Trotzdem erhält er bereits Rente nach einer MdE von 20 %. Die Arthrose hat in der Folge weiter zugenommen und führt nun zu einer Wackelsteife im USG, die sein Gehen beeinträchtigt, sodass die aktuelle MdE nach den Erfahrungswerten der GUV korrekt mit (nur) 20 % einzuschätzen ist, obwohl die Befundverschlechterung als „wesentlich“ (> 5 %) zu bezeichnen ist.
Auch hier ist es für den Gutachter ratsam, sich darauf zu beschränken, die medizinischen Tatsachen herauszustellen und die Gründe für die abweichende Einschätzung der Ausgangs-MdE zu nennen, die Befundtatsachen anzugeben, die sich geändert haben, das Ausmaß dieser Änderung medizinisch zu bewerten, die aktuelle MdE einzuschätzen und anhand der Erfahrungswerte der GUV zu begründen. Die rechtliche Entscheidung über die künftige Rentenhöhe hat er der Verwaltung zu überlassen.

Zusammenhangsbegutachtung

Zusammenhangsgutachten gehen über Rentengutachten hinaus, indem sie zusätzlich der Frage gewidmet sind, was den konkreten Gesundheitsschaden verursacht hat. Schwerpunkt ist die Argumentation des Sachverständigen, der auf der Grundlage des aktuellen medizinischen Wissensstandes über Ursache-Wirkungs-Beziehungen überzeugend klären soll, ob ein versichertes Ereignis die festgestellten Gesundheitsschäden hervorgerufen hat [ausführlich Forchert (2018), S. 107 ff.]. Um die natürliche Kausalität zu klären und die Mitwirkungsanteile von versicherten und unversicherten Ursachen einzuschätzen, hat er mehrere tatsächliche Fragen zu beantworten, nämlich:
(1a) Hat das versicherte Ereignis den Gesundheitsschaden tatsächlich (mit-)verursacht?
(1b) Haben unversicherte Faktoren den Gesundheitsschaden tatsächlich (mit-)verursacht?
(2) Wie groß waren die (tatsächlichen) Mitwirkungsanteile der versicherten Einwirkung einerseits und unversicherter konkurrierender Ursachen andererseits?
Echte Kausalfragen sind nur die Fragen 1a) und 1b). Die Frage nach den Mitwirkungsanteilen setzt tatsächliche Verursachung voraus und fordert einen Vergleich von versicherten und unversicherten Ursachen nach medizinischen Kriterien. Sie ist wichtige Vorfrage für die rechtliche Zurechnung („rechtliche Wesentlichkeit“).

Erstschaden und tatsächliche Verursachung

Erstschaden ist die organische Verletzung oder seelische Erschütterung, die unmittelbar durch ein versichertes Ereignis eingetreten ist [Becker (2007b), S. 722; BSG-Urteil vom 15.05.2012, B 2 U 16/11 R]. Die Frage nach der tatsächlichen Verursachung, also danach, ob das versicherte Ereignis conditio sine qua non für den Erstschaden ist, gilt als Teilaspekt der haftungsbegründenden Kausalität. Rechtliche Prüfschemen unterscheiden diese beiden Prüfpunkte und ordnen ihnen unterschiedliche Beweisgrade zu.
In der Praxis hängen Erstschaden und tatsächliche Verursachung untrennbar zusammen. Mit dem Nachweis des Erstschadens ist regelmäßig auch seine tatsächliche Verursachung durch das versicherte Ereignis bewiesen. Denn die Definition des Erstschadens als unmittelbare Folge der versicherten Einwirkung erfordert den Blick auf seine Entstehung und damit auf seine tatsächlichen Ursachen.
Der Nachweis des Erstschadens ist gedanklich-logisch notwendig, um den tatsächlichen Zusammenhang zwischen versichertem Ereignis und pathologischem Zustand (Gesundheitsschaden/Unfallfolge) schlüssig zu beweisen [Näheres bei Forchert (2021), S. 18]. Klafft hier eine (zeitliche) Lücke muss sie überbrückt werden. Wichtigster Pfeiler dieser Brücke ist der Erstschaden. Nur wenn ein Ereignis überhaupt eine Wirkung auf die geschädigte Person hatte, nur wenn – in den Worten des BSG – eine „Änderung des physiologischen Körperzustands“ (Urteil vom 20.08.19, B 2 U 1/18 Rn. 23 m. w. N.) eingetreten ist, kann das Ereignis Ursache für (spätere) gesundheitliche Folgen sein. Denn ohne unmittelbare Auswirkung des versicherten Ereignisses auf die Gesundheit der versicherten Person, ohne „Änderung des physiologischen Körperzustands“, müsste für die Kausalität an „Nichts“ angeknüpft werden.
Den Erstschaden zu beweisen heißt, die Überzeugung davon zu vermitteln, dass unmittelbar durch das versicherte Ereignis eine (frische) Verletzung eingetreten ist. An diesen Beweis dürfen keinesfalls Anforderungen gestellt werden, denen die medizinische Wissenschaft nicht genügen kann. Tatsächliche Verursachung ist als logische Verbindung von Einwirkung und Schaden definiert, nämlich als „notwendige Bedingung“ oder „conditio sine qua non“. Insofern sind typische Beweisschwierigkeiten im Rahmen der Beweiswürdigung angemessen zu berücksichtigen (BSG-Urteil vom 06.10.2020, B 2 U 9/19 R). Der Beweis lässt sich regelmäßig ohnehin nur auf (ärztliche) Erfahrung stützen. Ihn mit naturwissenschaftlichen Methoden zu führen, ist praktisch unmöglich.
Beispiel
V ist vom Dach gestürzt. Der Durchgangsarzt macht ein Röntgenbild, das einen frischen Wirbelkörperbruch zeigt.
Selbst in diesem offenkundigen Fall ist der Erstschaden nicht befundmäßig zu beweisen. Das Röntgenbild zeigt Unfallfolgen, nicht die (unmittelbare) Verletzung. Allerdings ermöglicht es einen überzeugenden (Indizien)-Schluss auf den Erstschaden, der sich auf ärztliche Erfahrung („Das Röntgenbild zeigt das typische Bild einer frischen Bruchverletzung.“) und den Hergang („Ein Sturz vom Dach ist mit Gewalteinwirkungen verbunden, denen Knochen vielfach nicht standhalten.“) stützen kann.
Wird ein Knochenbruch dagegen nach einem Ereignis festgestellt, das erfahrungsgemäß folgenlos hätte bleiben müssen (etwa Sprunggelenksfraktur nach Belastung durch normales Gehen), spricht der Anschein gegen eine unmittelbare Verletzung. Dann sind andere aussagekräftige Indizien notwendig, um trotzdem einen Erstschaden zu beweisen.
Ob, und wenn ja, welche unmittelbare Verletzung als nachgewiesen gelten kann, ist wegweisend für viele Schädigungen, die als schwierig zu beurteilen gelten (etwa bei Läsionen des Meniskus oder der Rotatorenmanschette). Sind Beeinträchtigungen erst mit zeitlicher Distanz zum versicherten Ereignis dokumentiert und ließen sie sich auch erklären, wenn eine Verletzung nicht stattgefunden hätte, wird sich nur schwer die Überzeugung gewinnen lassen, dass durch das Ereignis ein unmittelbarer Erstschaden eingetreten ist.

Generelle Geeignetheit

Statt wie beschrieben die tatsächliche Verursachung im Einzelfall zu prüfen, wird nicht selten auf eine allgemeine Beweisführung ausgewichen und die „generelle Geeignetheit“ erörtert. Sie ist ein primär zivilrechtlicher Begriff. Nach der sog. Adäquanztheorie des Zivilrechts muss ein Ereignis „im Allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, ganz unwahrscheinlichen und nach dem regelmäßigen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen zur Herbeiführung eines Erfolges der eingetretenen Art geeignet sein“ (BGHZ NJW 2017, 263).
Den Unterschied zwischen zivil- und sozialrechtlicher Verursachung verdeutlicht ein Sachverhalt, der einem anderen Urteil des BSG (vom 30.01.2007, B 2 U 8/06 R) entlehnt ist:
Ein Versicherter, der bei einem Geschäftsessen ein Dessert aß, das Nüsse enthielt, erlitt wegen einer latenten Nussallergie einen anaphylaktischen Schock. Nach Reanimation verblieb ein hypoxischer Hirnschaden mit apallischem Syndrom. Das im Restaurant servierte Dessert hatte den schweren Gesundheitsschaden des Geschäftsmanns insofern tatsächlich (mit-)verursacht.
Zivilrechtlich setzt Haftung eine generelle Eignung des angeschuldigten Umstands voraus, den eingetretenen Schaden zu verursachen. Das Dessert war „lege artis“ hergestellt. Dass es ein apallisches Syndrom verursacht hat, lag an „besonders eigenartigen, ganz unwahrscheinlichen und nach dem regelmäßigen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen“, nämlich an der besonderen Verletzbarkeit des Versicherten durch Nüsse. Eine generelle Geeignetheit des Desserts, apallische Syndrome zu verursachen, ist zu verneinen. Daher schiede die zivilrechtliche Haftung des Restaurantbetreibers dafür, mit dem Dessert eine (tatsächliche) Ursache für das apallische Syndrom gesetzt zu haben, jedenfalls dann aus, wenn er seinen Hinweispflichten auf die in den Speisen enthaltene Allergene nachgekommen wäre.
Nach der sozialrechtlichen Theorie der wesentlichen Bedingung (Abschn. 10) dagegen muss bewertet werden, wie weit der Schutz der GUV im individuellen Fall reicht. Nur wenn die Bedeutung der unversicherten Ursache des konkreten Schadens im Vergleich zur versicherten Einwirkung „überragend“ und die versicherte Ursache deshalb keine „wesentliche“ ist, scheidet die Haftung des UV-Trägers aus. Für das BSG war – in aktueller Terminologie ausgedrückt – der Mitwirkungsanteil des Geschäftsessens im Vergleich mit dem Mitwirkungsanteil der latenten Allergie hinreichend groß, um nach dem Schutzzweck der GUV eine Entschädigung zu rechtfertigen. Daher hat es in diesem Einzelfall den rechtlich wesentlichen Ursachenzusammenhang bestätigt.
Statt des abstrakt-generellen Maßstabs der Adäquanz im Zivilrecht verlangt die Theorie der wesentlichen Bedingung eine konkret-individuelle Prüfung [Becker (2007a), S. 92]. Generelle Erkenntnisse über den Ursachenzusammenhang berücksichtigt sie auch. Denn natürliche Kausalität ist stets auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes festzustellen. Dieser Erkenntnisstand ist dabei kein eigener Prüfungspunkt, sondern die wissenschaftliche Grundlage, auf der Gesundheitsstörungen eines konkreten Versicherten zu bewerten sind (BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R). Ob eine Einwirkung nach wissenschaftlichen Maßstäben überhaupt geeignet ist, einen bestimmten Gesundheitsschaden hervorzurufen, ist Teil der individuellen Prüfung. Das heißt: Ist nach biomechanischen Erkenntnissen ausgeschlossen, dass eine Belastung durch ein Ereignis die geschädigte Körperstelle erreicht hat oder fehlt jede wissenschaftliche Evidenz dafür, dass ein Arbeitsstoff als Ursache einer bestimmten Erkrankung in Frage kommt, ist auch im Sozialrecht nach der Theorie der wesentlichen Bedingung die natürliche Verursachung im Einzelfall zu verneinen. Schon die „Eingangsebene der Kausalität“ [Schröter (2009), S. 231] ist dann nicht erfüllt.
Ein gänzlich anderer und unumstrittener Anwendungsbereich der „generellen Geeignetheit“ ist § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII, der die Voraussetzungen für die Einführung neuer Berufskrankheiten beschreibt.

Nachweis von Vorschädigungen

Ist eine unmittelbare Verletzung nachgewiesen, ist der Fokus auf Einflussfaktoren zu richten, die zu dem Gesundheitsschaden beigetragen haben können. Wie der Erstschaden müssen auch Vorschädigungen (Vorschädigungen) im Vollbeweis nachgewiesen werden. Dieser Beweis wird häufig über bildgebende Verfahren oder histologische Untersuchungen geführt werden.
Er kann aber auch auf ärztliche Erfahrung gegründet sein (Abschn. 9.3). Ein Anknüpfungspunkt ist oft der Geschehensablauf. Gilt der festgestellte Unfallhergang nach dem anerkannten aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft als nicht geeignet, eine gesunde oder dem Lebensalter entsprechende degenerierte Struktur zu schädigen, ist der Schluss berechtigt, dass sie vorgeschädigt war. Ist durch ein Ereignis ein Schaden eingetreten, der sich durch dieses Ereignis gar nicht oder zumindest nicht vollständig erklären lässt, müssen weitere (konkurrierende) Ursachen beteiligt gewesen sein.
Beispiel (in Anlehnung an LSG Thüringen, Urteil vom 19.04.2018, L 1 U 56/17)
Der 55-jährige Landwirt L versucht einen Anhänger vom Hof rückwärts in die Garage zu schieben. Obwohl er weder abrutscht noch umgeknickt oder in ein Loch tritt, verspürt er dabei einen plötzlichen Schlag in der rechten Ferse. Er begibt sich sofort ins Krankenhaus. Dort wird eine Ruptur der rechten Achillessehne festgestellt und am Folgetag operiert. Histologisch finden sich Zeichen einer geringen bis mittelgradigen degenerativen Vorschädigung.
Unabhängig davon, ob die histologisch nachgewiesene Texturstörung der Sehne das Eintreten einer Achillessehnenruptur wahrscheinlich macht, ist der Nachweis der Beteiligung einer Vorschädigung durch den Hergang erbracht, der nach übereinstimmender Auffassung der medizinischen Sachverständigen die eingetretene Verletzung nicht erklären kann. Insofern müssen („ungeeigneter“) Hergang und Vorschädigung (Schadensanlage) zusammengewirkt haben, um die Achillessehnenruptur eintreten zu lassen.

Vergleich der Mitwirkungsanteile

Sind die Beteiligung von versichertem Ereignis und konkurrierenden Ursachen an der Entstehung des Schadens geklärt, müssen Sachverständige die Mitwirkungsanteile einschätzen, die beide Einflussfaktoren haben. Dabei genügt eine Kategorisierung in drei Stufen (gering, mittel, hoch), die aus der Befundlage und dem ärztlichen Erfahrungswissen zu begründen ist.
Eine hochgradige Texturstörung wird häufig überragende Bedeutung haben, und den Mitwirkungsanteil der versicherten Einwirkung deutlich übersteigen. Leichtgradige Veränderungen kommen dagegen kaum als relevante konkurrierende Ursachen in Frage. War die Belastung durch die Einwirkung so groß, dass auch gesunde Strukturen ihr nicht standgehalten hätten, ist ihr Mitwirkungsanteil typischerweise hoch. Entsprach sie stattdessen alltäglichen Belastungen, wird ihre Bedeutung regelmäßig gering sein und eine rechtliche Einordnung als „wesentlich“ kaum rechtfertigen. Ähnliches ist für Belastungen anzunehmen, die nach medizinischer Erfahrung als nicht geeignet gelten, den eingetretenen Schaden zu bewirken.
Beispiel
Streitig ist, ob ein Sehnenriss Folge des Anhebens einer 15 kg schweren Last (als versichertes Ereignis) ist. Ein medizinisches Sachverständigengutachten legt dar, dass die Rissbereitschaft der Sehne hoch war (Texturstörung Grad 3 nach Krenn), die einwirkende Kraft (15 kg) gering. Als Ursachen des Sehnenrisses sind also einerseits eine vorbestehende Texturstörung der Sehne andererseits die einwirkende Kraft von 15 kg nachgewiesen. Der (tatsächliche) Mitwirkungsanteil der Texturstörung war nach Auffassung des Sachverständigen hoch, der Anteil der Einwirkung gering. Damit hat er die Tatsachenbasis – den (rechtlich zu beurteilenden) Sachverhalt – gelegt. Alles Weitere ist Rechtsfrage. Der Sachverhalt legt die rechtliche Bewertung nahe, das geringe Risiko, dem der Versicherte wegen seiner versicherten Tätigkeit ausgesetzt war, habe zurückzutreten gegenüber dem hohen Risiko, das sich aus der (nicht in der GUV versicherten) Vorschädigung der Sehne ergab. Die tatsächliche Beurteilung des Sachverständigen, die Texturstörung habe die Sehne sehr anfällig gemacht für eine Verletzung und eine Hebebelastung von 15 kg weise ein sehr geringes Risiko auf, eine Sehne zu schädigen, ermöglicht die rechtliche Bewertung („Zurechnung“) des Gerichts, die versicherte Einwirkung sei nicht rechtlich wesentliche Ursache („Gelegenheitsursache“).
Sowohl für die zu schätzende Höhe der tatsächlichen Mitwirkungsanteile als auch für die Frage der natürlichen Verursachung im Sinne der „conditio sine qua non“ gilt das Beweismaß der hinreichenden oder überwiegenden Wahrscheinlichkeit (Abschn. 9.2). Die „Wesentlichkeit“ (Abschn. 10.4) ist als Rechtsfrage einem Beweis nicht zugänglich.

Begutachtung psychischer Störungen

Bei Gutachten über psychische Störungen sind zwei Fallkonstellationen zu unterscheiden: Psychische Störungen als (alleiniger) Erstschaden und psychische Störungen als (sekundäre) Folge organischer Gesundheitsschäden.

Psychische Störung als Erstschaden

Erleben versicherte Personen traumatische Ereignisse, während sie unter Versicherungsschutz stehen und erkranken sie anschließend an ereignisreaktiven psychischen Störungen wie der sog. posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), können sich spezifische Probleme stellen.
Beispiel Erstschaden
V fährt mit seinen Arbeitskollegen zur Baustelle. Eine Person wirft sich in suizidaler Absicht unmittelbar vor das Auto, wird überrollt und getötet. In der Folge beginnt V, unter Schlafstörungen und ständigem Wiedererleben des Ereignisses zu leiden und er entwickelt Ängste vor dem Autofahren. Sein Nervenarzt diagnostiziert eine PTBS.
Neben dem Ursachenzusammenhang kann dann auch der Nachweis des Gesundheitserstschadens problematisch sein [ausführlicher Forchert (2021), S. 21 f.]. Den Erstschaden zu beweisen heißt, die Überzeugung davon zu vermitteln, dass das versicherte Ereignis als unmittelbare Wirkung eine seelische Erschütterung der versicherten Person hervorgerufen hat. Zwar kann es schwierig sein, diesen Beweis durch Primärbefunde zu führen. Denn psychische Symptome werden weniger beachtet als körperliche. Auch kann Dissoziation oder Dissimulation psychische Traumatisierung verbergen. Doch wird in vielen Fällen ein Anscheinsbeweis möglich sein, der an das versicherte Ereignis anknüpft. Die S2k-Leitlinie „Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen“ (Widder und Schneider 2019) weist hier den Weg. Sie unterscheidet zwischen Ereignissen, bei denen nach ärztlicher Erfahrung eine psychische Traumatisierung wahrscheinlich ist, und solchen, bei denen dies unwahrscheinlich ist. Hat ein nach objektiven Kriterien „katastrophales“ Ereignis stattgefunden, sind Zweifel an einer unmittelbaren psychischen Reaktion (Erstschaden) unangebracht.
Haftungsbegründende Kausalität und Nachweis des Erstschadens hängen eng zusammen. Ist ein „katastrophales“ Ereignis als Einwirkung nachgewiesen, wird nicht nur der Erstschaden, sondern auch die Verursachung des Erstschadens durch das Ereignis bewiesen sein. Gleiches gilt, wenn zwar ein minder schweres Ereignis stattgefunden hat, das aber nachweisbar unmittelbare psychische Reaktionen ausgelöst hat. Der enge zeitliche Zusammenhang ist dann regelmäßig ein gewichtiges Indiz für die haftungsbegründende Kausalität.
Beweisschwierigkeiten ergeben sich, wenn nach ärztlicher Erfahrung und/oder ätiologischer Erkenntnis ein Ereignis das seelische Befinden üblicherweise nicht stört. Betroffene von einem solchen minder schweren Ereignis mit dem Beweis für eine seelische Erstreaktion zu belasten, erscheint sachgerecht. Denn sie machen geltend, gegen die ärztliche Erfahrung psychisch traumatisiert worden zu sein von einem Ereignis, das eine psychische Folge nicht erwarten lässt.

Psychische Störung als Folgeschaden

Zu dieser Fallgruppe gehören körperlich Verletzte, die wegen der Verletzungsfolgen psychisch erkranken. Die zu klärenden Fragen sind zwar oft schwierig zu beantworten. Sie unterscheiden sich aber kaum von denen bei rein organischen Kausalitätsfällen. Entscheidend ist stets, ob die Bedeutung des Mitwirkungsanteils der körperlichen Verletzung im Vergleich zum Mitwirkungsanteil anderer Faktoren, die an der Entstehung der psychischen Erkrankung beteiligt sind (Vorschädigungen, Persönlichkeit, Belastungen aus dem privaten Umfeld und vieles mehr) groß genug ist, um die psychischen Folgen dem betrieblichen Risiko zuzurechnen.
Beispiel Folgeschaden
V stürzt von einem Baugerüst und zieht sich eine Querschnittlähmung zu. Ihm gelingt es nicht, sich an die massiv veränderten Lebensverhältnisse anzupassen. Das ständige Angewiesensein auf den Rollstuhl zur Fortbewegung und die Hilfe anderer Menschen sowie den Verlust seines Arbeitsplatzes und seiner sportlichen Hobbys führen dazu, dass er sich wertlos fühlt und Schwierigkeiten hat, sich überhaupt aufzuraffen, etwas zu tun. Sein Nervenarzt diagnostiziert eine Depression.

Haftungsausfüllende Kausalität

Die höchste Hürde für die Anerkennung von psychischen Störungen ist vielfach die haftungsausfüllende Kausalität. Sachverständige haben die Aufgabe, die Einzelfälle mit ihren Besonderheiten auf der Basis ätiologischen Wissens zu beurteilen. Sie sollen die Argumente benennen, die dafür oder dagegen sprechen, dass die psychische Störung tatsächlich verursacht ist von der psychischen Reaktion oder seelischen Beeindruckung (Erstschaden), die das versicherte Ereignis hervorgerufen hat.
Fast immer müssen versichertes Ereignis und seelische Erstreaktion als Ursachen verglichen werden mit unversicherten Faktoren (persönliche Vulnerabilität, Vorerkrankungen, Belastungen aus dem privaten oder beruflichen Umfeld etc.). Je deutlicher die psychische Belastung durch das versicherte Ereignis alltägliche Belastungen oder typische Lebensrisiken (Krankheit, Tod von Angehörigen, Kündigungen von Arbeitsverhältnissen, Beendigung von Partnerschaften usw.) übertrifft, desto eher wird ihr Mitwirkungsanteil genügen und eine Entschädigung rechtfertigen.
Die aktuelle Erkenntnislage ist in der Leitlinie „Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen“ (Widder und Schneider 2019) zusammengestellt. Eine leitliniengerechte Begutachtung, die von der ätiologischen Erkenntnis auf die Genese der individuellen psychischen Störung schließt, bildet eine verlässliche Basis für eine korrekte Entscheidung.

Bedeutung von Klassifikationssystemen für die Begutachtung

Für psychische Störungen betont das BSG seit 2006 die Bedeutung korrekter Diagnosen und die Notwendigkeit, die medizinischen Klassifikationssysteme (ICD-10/11, DSM IV/V) heranzuziehen. Es meint, die Feststellung konkreter Gesundheitsstörungen durch Tatsachengerichte solle nicht nur begründet sein, „sondern aufgrund eines der üblichen Diagnosesysteme und unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen erfolgen, damit die Feststellung nachvollziehbar ist“ (Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R). Das BSG macht damit Vorgaben, wie Gerichte ihre Urteile zu begründen haben. Sie sollen die tatsächlichen Feststellungen zum Gesundheitsschaden in der Terminologie der Diagnosemanuale beschreiben, um die Verständlichkeit („Nachvollziehbarkeit“) für die Revisionsinstanz zu erleichtern [Details bei Forchert (2021), S. 24 f.]. Als Folge dieser Rechtsprechung werden Sachverständige von ihren Auftraggebern zunehmend angehalten, die Klassifikationssysteme ICD-10 oder DSM-5 für die Begutachtung zu Grunde zu legen.
Sozialleistungen hängen allerdings nicht davon ab, dass eine Diagnose korrekt gestellt ist. Auch bei psychischen Störungen müssen Sachverständige primär deren funktionelle Auswirkungen beschreiben und bewerten. Diagnosen reichen dafür nicht aus. Leistungen hängen an Befunden und Symptomen, nicht an Diagnosen. Verletztenrenten setzen eine „Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens“ voraus (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Psychiatrische Diagnosen verraten darüber oft zu wenig. Die Leitlinie „Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen“ (Widder und Schneider 2019) nennt z. B. für die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) 20 (!) „syndromale Kriterien“, die vorliegen können, aber nicht müssen. Welche konkreten Gesundheitsstörungen im Einzelfall tatsächlich bestehen, ist solchen Diagnosen nicht zu entnehmen.
Sachverständige, die Unfallfolgen nur DSM-5 oder ICD-10 entsprechend beschreiben [z. B. F 43.1 („Posttraumatische Belastungsstörung“) oder T07 („Polytrauma“)], statt die Beeinträchtigungen zu benennen, die damit verbunden sind, verursachen ihren Auftraggebern Schwierigkeiten:
  • ICD oder DSM sind nicht dafür konzipiert, Funktionsbeeinträchtigungen zu beschreiben. Dafür vorgesehen ist die „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF).
  • Ist als Unfallfolge nur eine Diagnose festgestellt, muss der UV-Träger bei unspezifischen Symptomen den Ursachenzusammenhang erneut prüfen. Z. B. könnte die Ursache einer als PTBS-Symptom geltend gemachten Schlafstörung eine Schlafapnoe sein. Dann aber bestünde kein Leistungsanspruch.
  • Diagnosen als Unfallfolgen erschweren es, Änderungen der Verhältnisse festzustellen. Gesundheitsstörungen können sich mit der Zeit verändern, auch wenn die Diagnose unverändert bleibt. Ohne zu wissen, welche konkreten Funktionsbeeinträchtigen einer Diagnose zu Grunde lagen, ist ein Vergleich unmöglich.
  • Diagnosen als Unfallfolgen provozieren Streitigkeiten darüber, ob ein Einzelfall unter die Definitionen von ICD-10 oder DSM-5 „subsummiert“ werden kann. Klassifikationssysteme sind aber keine Gesetze. Den Auslegungskanon der Rechtswissenschaft darauf anzuwenden, ist unangebracht.
Wichtiger als nach den Klassifikationssystemen eine korrekte Diagnose zu vergeben, ist eine überzeugende Begründung, warum eine psychische Störung und ihre Symptome faktisch und rechtlich Folge eines versicherten Ereignisses sind.

Verschiebung der Wesensgrundlage

Ein für psychische Störungen typischer Sonderfall ist die sog. Verschiebung der Wesensgrundlage. Der Begriff meint die nachträgliche Änderung der Ursache einer Erkrankung trotz unveränderter Symptomatik [Schönberger et al. (2017), S. 141]. Eine Verschiebung der Wesensgrundlage kann Bedeutung haben, wenn Rente gezahlt wird und sich die Frage stellt, ob in den Verhältnissen eine wesentliche Änderung eingetreten ist, die eine Herabsetzung der MdE um mindestens 10 % rechtfertigt. Sie verlangt den Nachweis, dass die der Anerkennung der Gesundheitsstörung ursprünglich zugrunde gelegten versicherten Ursachen nicht mehr wirksam und neue, nicht versicherte Ursachen an deren Stelle getreten sind (BSG-Urteil vom 06.10.2020, B 2 U 10/19 R). Gelingt der Beweis kann die Verletztenrente herabgesetzt oder auch vollständig entzogen werden.
Beispiel
V hat durch einen Verkehrsunfall eine Querschnittlähmung erlitten. Wegen der damit verbundenen vollständigen Veränderung seiner Arbeits- und Lebenswelt und des häufigen Angewiesenseins auf Hilfe entwickelt er eine Anpassungsstörung mit depressiven Symptomen. Obwohl er sich im Laufe der Zeit an seine neuen Lebensumstände gewöhnt, neue Hobbys und eine behindertengerechte Arbeit am Computer ohne körperliche Anforderungen aufnimmt, treten weiter depressive Episoden auf. Aus der gutachterlichen Exploration ergibt sich, dass V an Einsamkeit leidet, nachdem seine Partnerin die Beziehung gelöst hat und zu einem anderen Mann gezogen ist.

Gutachterauswahlrecht

Die Träger der Sozialversicherung dürfen nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden, welche Beweismittel sie benötigen, um den Sachverhalt zu ermitteln (§ 21 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Das sog. Gutachterauswahlrecht schränkt für die UV-Träger diese Ermessensfreiheit ein. § 200 Abs. 2 Halbsatz 1 SGB VII verlangt: „Vor Erteilung eines Gutachtenauftrages soll der Unfallversicherungsträger dem Versicherten mehrere Gutachter zur Auswahl benennen“. Laut BSG (Urteil vom 07.05.2019, B 2 U 25/17 R) ergibt sich aus dieser Vorschrift für die beauftragten Sachverständigen die Pflicht, der zu untersuchenden Person persönlich zu begegnen. Sie müssen ihr die Möglichkeit geben, ihre subjektiven Beschwerden zu schildern, um sich einen eigenen Eindruck von deren Beschwerden machen zu können. Die persönliche Begegnung zählt das BSG zu den nicht übertragbaren Kernaufgaben der beauftragten Sachverständigen. Sie dürfen ohnehin wie in anderen Rechtsbereichen auch den Gutachtenauftrag nicht übertragen und müssen das Gutachten persönlich erstatten (§ 407a ZPO).
Die weitergehende Pflicht zur persönlichen Begegnung gilt aber ausschließlich im Rechtsgebiet der gesetzlichen Unfallversicherung.

Gutachtenhonorare

Das Honorar für die Erstattung von Gutachten in der GUV ergibt sich aus der UV-GOÄ (§ 57 Abs. 1 des Vertrags Ärzte/UV-Träger). Ärztliche Leistungen werden zusätzlich honoriert (§ 60 des Vertrags Ärzte/UV-Träger). Dies unterscheidet die Vergütung in der GUV von den Regelungen des Justizvergütungs- und Entschädigungsgesetzes (JVEG), die für gerichtlich bestellte Sachverständige gelten und erschwert einen Vergleich dieser Vergütungsregelungen.
Für Formulargutachten sind die Gebührensätze jeweils einheitlich festgelegt (Nrn. 146 ff. UV-GOÄ). Für freie Gutachten gibt es drei Kategorien:
  • Sachverhalte mit normalem Schwierigkeitsgrad (Nr. 160);
Beispiel
Freie Gutachten, bei denen keine komplexeren Kausalfragen zu beantworten sind.
  • mit hohem Schwierigkeitsgrad (Nr. 161);
Beispiel
Typische Zusammenhangsgutsachten, die eine individuelle Beurteilung des Einzelfalls auf Basis des wissenschaftlichen Erkenntnisstands verlangen.
  • sowie mit hohem Schwierigkeitsgrad und sehr hohem zeitlichen Aufwand (Nr. 165);
Beispiel
Besonders komplexe Kausalzusammenhänge wegen unübersichtlicher medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnislage, die umfangreiche Recherchen und eigene tiefgehende wissenschaftlich fundierte Überlegungen und Begründungen erfordern.
Nur bei freien Gutachten dürfen die Gebührensätze der UV-GOÄ ausnahmsweise bei Vorliegen besonderer Gründe und nach vorheriger Zustimmung des UV-Trägers überschritten werden (§ 59 des Vertrags Ärzte/UV-Träger). Eine solche Ausnahme zu machen, kann gerechtfertigt sein, wenn es z. B. auf das intensive Studium besonders umfangreicher Akten ankommt oder im Rahmen einer stationären Begutachtung intensive Diagnostik und Exploration betrieben werden muss. Dann sollten Sachverständige die Honorarfragen unbedingt vor Erstattung des Gutachtens mit dem Auftraggeber klären. Auch der Gutachtenauftrag kann besondere Honorarvereinbarungen enthalten.
Literatur
Becker P (2007a) Die wesentliche Bedingung – aus juristischer Sicht. MedSach 2007, 92 ff
Becker P (2007b) Der Arbeitsunfall. SGb 2007, 721 ff
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