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Die Anästhesiologie
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Publiziert am: 18.04.2017

Prä- und perioperative Aspirationsprophylaxe

Verfasst von: Stefan Kleinschmidt
Die pulmonale Aspiration von Mageninhalt gehört zu den am meisten gefürchteten anästhesiologischen Komplikationen mit möglicherweise tödlichem Ausgang. Prinzipiell hat jeder nichtnüchterne Patient ein erhöhtes Aspirationsrisiko.Das vorliegende Kapitel beinhaltet die medikamentösen Optionen einschließlich der Nüchternheitsgrenzen.
Einleitung
Die pulmonale Aspiration von Mageninhalt gehört zu den am meisten gefürchteten anästhesiologischen Komplikationen mit möglicherweise tödlichem Ausgang; siehe auch Kap. Intubation bei Aspirationsrisiko und Kap. Esmarch-Handgriff, Guedel-Tubus und Wendel-Tubus. Das vorliegende Kapitel beinhaltet nur die medikamentösen Optionen der Aspirationsprophylaxe einschließlich der Nüchternheitsgrenzen.

Inzidenz und Risikofaktoren

Prinzipiell hat jeder nichtnüchterne Patient ein erhöhtes Aspirationsrisiko. Weiterhin muss in folgenden Situationen mit einem erhöhten Aspirationsrisiko gerechnet werden.
Gefahr von Regurgitation und Aspiration
  • Akutes Abdomen
  • Erhöhter intraabdomineller Druck
    • Ausgeprägter Aszites
    • Intraperitoneale Raumforderung
  • Gastroösophagealer Reflux
    • Refluxösophagitis
    • Hiatushernie
    • Zustand nach Magenresektion und -rekonstruktion
  • Störungen der Magenentleerung
    • Pylorusstenose
    • Magen- oder Darmtumor
    • Magenatonie
    • Autonome Neuropathie mit Gastroparese bei Diabetes mellitus
    • Medikamentenwirkung, z. B. durch Opioide
  • Schluckstörungen
    • Distale Ösophagusstenosen
    • Ösophagusdivertikel
  • Akute, generalisierte Grunderkrankungen mit gesteigertem Sympathikotonus, Schmerz, Fieber
  • Traumapatienten mit ausgedehnten Verletzungen
  • Schwangerschaft ab der 12. SSW bis 2 Wochen post partum
  • Ausgeprägte Urämie
Adipositas wird vielfach als Risikofaktor für eine Aspiration angesehen. Studien, die dieses Risiko verifizieren, existieren jedoch nicht. Vielmehr konnte gezeigt werden, dass Adipositas per se nicht mit einer verzögerten Magenentleerung einhergeht [5]. Allerdings steigt der Anteil von Patienten mit einer Refluxerkrankung mit steigendem Body Mass Index [6]. Sicherlich muss auch nicht bei einer relativ gleichmäßigen Fettverteilung und schlaffen Bauchdecken mit einem erhöhten intraabdominellen Druck gerechnet werden. Andererseits ist bei dem adipösen und sehr adipösen Patienten mit einer erheblichen Einschränkung der funktionellen Residualkapazität (häufig <1000 ml) zu rechnen, sodass die Apnoetoleranz je nach Gewicht bei einem O2-Verbrauch von ca. 3 ml/kg Realgewicht erheblich reduziert ist. Kommen dann noch Intubationsschwierigkeiten hinzu, so kann eine RSI bei den Patienten zu einer Hypoxämie führen.
Zur allgemeinen Risikoeinschätzung werden anamnestische Hinweise auf Nahrungsaufnahme, Sodbrennen bzw. Reflux, Übelkeit, Erbrechen, Vorerkrankungen, aktuelle Medikation sowie Untersuchungsbefunde zu Allgemeinzustand, Peritonitiszeichen sowie die vorhandene bildgebende Diagnostik verwendet.
Im Zweifel gilt ein Patient immer als aspirationsgefährdet.

Maßnahmen zur Aspirationsprophylaxe

Zur Minimierung des Aspirationsrisikos werden verschiedene Verfahren und Maßnahmen angewandt, deren Evidenz z. T. umstritten ist. In den vergangenen Jahren wurden sie von verschiedenen wissenschaftlichen Fachgesellschaften einer kritischen Überprüfung unterzogen [2, 8]. Durch die Weiterentwicklung der Ultraschalldiagnostik in der Anästhesiologie ist es möglich, mittels Sonografie bei einem Risikopatienten das Ausmaß der Magenfüllung recht zuverlässig abzuschätzen [3].

Präoperative Nüchternheit

Die präoperativ als notwendig erachtete Nüchternzeit vor elektiven Eingriffen hängt von Art und Zusammensetzung der aufgenommenen Nahrung ab. Starre Nüchternheitsgrenzen von 6 h für flüssige und feste Nahrung werden zugunsten eines differenzierteren Vorgehens aufgegeben. So gilt heute bei elektiven Eingriffen ohne zusätzliche Risikofaktoren eine Nüchternheitsgrenze von 2 h für klare Flüssigkeiten und von 6 h bei Milchprodukten und leichter Nahrung mit geringem Fettanteil als akzeptabel. Bei fettreicher Nahrung oder Fleisch muss mit längeren Magenentleerungszeiten (≥8 h) gerechnet werden; möglicherweise hängt die Magenentleerungszeit auch von der Menge des Mageninhalts ab [1, 2]. Bei Kleinkindern konnte kein Unterschied im Magensaft-pH und Magenredialvolumen nach 1 oder 2 Stunden Flüssigkeitskarenz nachgewiesen werden [7].
Die amerikanische Anästhesiegesellschaft (ASA) und die Europäische Gesellschaft für Anästhesiologie (ESA) empfehlen in ihren aktuellen Leitlinien 2011 folgende Nüchternzeiten für ansonsten gesunde Patienten vor Elektiveingriffen [2, 8]:
  • klare Flüssigkeiten (Wasser, schwarzer Kaffee, Fruchtsaft ohne Fruchtfleisch, Sprudelgetränke): 2 h,
  • Muttermilch: 4 h,
  • leichtes Essen, Kuhmilch, Kindernahrung: 6 h,
  • fritiertes oder sehr fetthaltiges Essen, Fleisch: 8 h.
Selbstverständlich kann durch die Einhaltung dieser Nüchternzeiten keine 100 % sichere Magenentleerung garantiert werden; auch gelten diese Empfehlungen ausdrücklich nicht für Schwangere oder Notfallpatienten.

Medikamentöse Prophylaxe

Medikamentöse Ansätze zielen im Wesentlichen darauf ab, pH-Wert und Volumen des Magensafts zu vermindern.
Antazida
Antazida erhöhen zwar durch Bindung bereits gebildeter Magensäure den pH-Wert, können jedoch eine Aspiration nicht verhindern.
Cave
Unlösliche Antazida (meist Aluminiumoxid-Magnesiumhydroxid-Mischungen, z. B. Maaloxan) können nach Aspiration pulmonale Komplikationen hervorrufen.
Das lösliche Antazidum Natriumzitrat hat bei festem Mageninhalt keinen wesentlichen Nutzen und erhöht auch das Magenvolumen.
H2-Rezeptorenblocker und Protonenpumpenhemmer
Die präoperative Gabe dieser Medikamente kann zwar den pH-Wert anheben und die Magensaftproduktion vermindern, bei festen Nahrungsbestandteilen sind aber auch diese Substanzen wirkungslos.
Antiemetika und Anticholinergika
Antiemetika und Anticholinergika haben in der Prophylaxe einer Aspiration keinen Stellenwert.

Empfehlungen zum Vorgehen in der klinischen Praxis

Beim Routinepatienten ohne erkennbares Aspirationsrisiko wird eine präoperative medikamentöse Aspirationsprophylaxe nicht empfohlen [4]. Bei Patienten mit erhöhtem Aspirationsrisiko kann vor elektiven Eingriffen ein H 2 -Rezeptorenblocker (z. B. Ranitidin) oder ein Protonenpumpenhemmer (z. B. Esomeprazol) verordnet werden.
Dosierung
  • Erwachsene: 150 mg Ranitidin p.o., Esomeprazol 40 mg
  • Kinder: 2 mg/kgKG Ranitidin p.o.
Die Ranitidingabe erfolgt jeweils am Vorabend und 1–4 h präoperativ. Im Kindesalter wird am einfachsten die Ampullenlösung verwendet und als „Saft“ verabreicht. Beispiel: 5-kg-Säugling mit Pylorusstenose: Verabreicht werden jeweils 10 mg Ranitidin, also 1 ml der Ampullenlösung p.o.
Bei Operationen mit aufgeschobener Dringlichkeit (z. B. bei einem Zeitraum unter 1 Stunde zwischen Indikationsstellung und Narkoseeinleitung) können 30 ml einer 0,3 molaren Natriumzitratlösung p.o. unmittelbar vor Beginn der Präoxygenierung verabreicht werden. Dadurch wird die Azidität des Magensekrets sofort für einen Zeitraum von 1–3 h deutlich reduziert.
Bei einer Notfallschnittentbindung können 50–100 mg eines H2-Rezeptorenblockers (z. B. Ranitidin) intravenös verabreicht werden, gefolgt von 30 ml einer 0,3 molaren Natriumzitratlösung p.o. [8].
Literatur
1.
Abdulla S (2013) Pulmonary aspiration in perioperative medicine. Acta Anaesthesiol Belg 64:1–13PubMed
2.
Apfelbaum JL, Caplan RA, Connis RT et al (2011) Practice guidelines for preoperative fasting and the use of pharmacologic agents to reduce the risk of pulmonary aspiration: application to healthy patients undergoing elective procedures. Anesthesiology 114:495–511CrossRef
3.
Benhamou D (2014) Ultrasound assessment of gastric contents in the perioperative period: why is it not part of our daily practice? Br J Anaesth 114:545–548CrossRefPubMed
4.
Breuer JP, Bosse G, Prochnow L, Seifert S et al (2010) Verkürzte preoperative Nüchternheit. Anaesthesist 59:607–613CrossRefPubMed
5.
Buchholz V, Berkenstadt H, Goitein D et al (2013) Gastric emptying is not prolonged in obese patients. Surg Obes Relat Dis 9:714–717CrossRefPubMed
6.
Jacobson BC, Somers SC, Fuchs CS et al (2006) Body mass index and symptoms of gastroesophageal reflux in women. N Engl J Med 354:2340–2348CrossRefPubMedPubMedCentral
7.
Schmidt AR, Buehler P, Seglias L et al (2015) Gastric pH and residual volume after 1 and 2 h fasting time for clear fluids in children. Br J Anaesth 114:477–482CrossRefPubMed
8.
Smith I, Kranke P, Murat I, Smith A et al (2011) Perioperative fasting in adults and children: guidelines from the European Society of Anaesthesiology. Eur J Anaesthesiol 28:556–569CrossRefPubMed