Allgemeines
Thrombozytopenien sind ein relevantes klinisches Problem. In der Bundesrepublik Deutschland werden pro Jahr ca. 0,5 Mio. Thrombozytenkonzentrate
transfundiert. 75 % erhalten Patienten mit hämatologischen Erkrankungen oder unter Chemotherapie. Die Gewinnung von Thrombozytenkonzentraten ist jedoch aufwendig und teuer und die Transfusion nicht ohne Risiken. Der Gedanke liegt nahe, analog der Gabe von
Erythropoetin zur Vermeidung von Erythrozytentransfusionen, einen entsprechenden Thrombozytenwachstumsfaktor einzusetzen, um Thrombozytentransfusionen zu sparen.
In den 1950er-Jahren wurde gezeigt, dass die intravenöse Gabe von
Plasma von Patienten mit Thrombozytose bei Mäusen einen Anstieg der Thrombozytenzahl auslösen kann (Kelemen et al.
1958). In dieser Studie wurde erstmals der Begriff
Thrombopoetin benutzt. Doch erst Anfang der 1990er-Jahre gelang es, zuerst die Struktur des Thrombopoetin-Rezeptors und danach die von Thrombopoetin selbst aufzuklären.
In den Folgejahren wurden zahlreiche Studien mit im Wesentlichen 2 Molekülen durchgeführt: rekombinantem humanen
Thrombopoetin (rhTPO) und pegyliertem Megakaryozyten-Wachstumsfaktor (peg-MGDF). Diese Moleküle wurden in zahlreichen Indikationen beim Menschen geprüft (Übersicht bei Kuter und Begley
2002). Bei prolongierten
Thrombozytopenien nach
nichtmyeloablativen Chemotherapien für solide Tumoren, gelang es, diese abzumildern oder ganz zu verhindern, sodass die Tumortherapie ohne Dosisreduktion oder Verzögerung weitergeführt werden konnte. Bei
dosisintensiveren Chemotherapien, z. B. Induktionstherapien bei akuter myelotischer Leukämie (AML), oder bei
myeloblativer Therapie vor Stammzelltransplantation war jedoch nur ein geringer Einfluss auf die Thrombozytenzahl und keine relevante Verminderung von Thrombozytentransfusionen festzustellen. Bei Patienten mit
myelodysplastischen Syndromen (MDS) und Thrombozytopenie konnte eine Verbesserung der Werte erreicht werden. Weitere, allerdings nicht internistisch-onkologische Indikationen waren die Immunthrombozytopenie (ITP), Thrombozytopenien bei
Leberzirrhose und die Steigerung der Thrombozytenzahl von Thrombozytenspendern vor Apherese.
Unerwartet kam es jedoch bei einigen Probanden und Patienten nach Anwendung von Megakaryozyten-Wachstumsfaktor
(MGDF) zu prolongierten
Thrombozytopenien. Grund war die Ähnlichkeit des MGDF-Moleküls mit körpereigenem
Thrombopoetin und die Induktion kreuzreagierender, neutralisierender Thrombopoetin-Antikörper. Daraufhin wurde die weitere Entwicklung von peg-MGDF in Europa und Amerika eingestellt. In China ist rhTPO seit 2005 zur Therapie der Chemotherapie-induzierten Thrombozytopenie zugelassen.
Ende der 1990er-Jahre gingen dann weitere Thrombopoetin-Rezeptor-aktivierende Substanzen in die klinische Prüfung, die in ihrer molekularen Struktur so unterschiedlich zu humanem
Thrombopoetin waren, dass das Risiko, kreuzreagierende Thrombopoetin-Antikörper zu stimulieren, gering erschien. Es handelt sich dabei um kurzkettige Peptide oder nichtpeptidische Moleküle. Diese neuen Wirkstoffe wurden zunächst bei der ITP geprüft, weil erwartet wurde, dass bei dieser Erkrankung die thrombozytensteigernde Wirkung schneller erkennbar sei, da das
Knochenmark weniger beeinträchtigt ist als bei Patienten mit MDS oder nach Chemotherapie. Tatsächlich waren die neuen Wirkstoffe
Romiplostim (
Nplate®) und
Eltrombopag (in der EU vermarktet unter Revolade
®, in den USA und anderen Ländern unter Promacta
TM) so erfolgreich und so gut verträglich (Nebenwirkungen siehe Übersicht), dass sie seit 2009 bzw. 2010 zur Therapie der chronischen ITP zugelassen sind. Diese beiden neuen Thrombopoetin-Rezeptor-Agonisten (TRA) wurden auch bei weiteren internistisch-onkologischen Indikationen geprüft (Dosierungen siehe Tab.
1).
Tab. 1
Dosierung von TRA
. Die Dosierungen bei Chemotherapie-induzierter
Thrombozytopenie und MDS sind nur als Beispiele gedacht ohne Anspruch darauf, alle Studien abzubilden. Bei Patienten ostasiatischer Abstammung muss Eltrombopag niedriger dosiert werden (siehe Fachinformation)
Immunthrombozytopenie | Eltrombopag | Anfangsdosis 50 mg/Tag, kann auf max. 75 mg gesteigert werden |
| Romiplostim | Anfangsdosis 1 μg/kg KG/1× pro Woche, kann auf max. 10 μg/kg KG gesteigert werden |
| Eltrombopag | Anfangsdosis 50 mg/Tag, kann auf max. 150 mg gesteigert werden |
Chemotherapie-induzierte Thrombozytopenie („off-label“) | Eltrombopag | 50, 75 oder 100 mg/Tag an den Tagen 2–11 des Chemotherapiezyklus (Kellum et al. 2010) |
| Romiplostim | Anfangsdosis 1–3 μg/kg KG, in Folgezyklen 1–10 μg/kg KG/Woche, je nach Therapieansprache (Al-Samkari et al. 2017; Miao et al. 2017; Parameswaran et al. 2014) |
| Eltrombopag | 100–300 mg/Tag (Mittelman et al. 2018) |
| Romiplostim | 300–1500 μg/Woche (Absolutdosis) (Kantarjian et al. 2010), 750 μg/Woche (Giagounidis et al. 2014; Greenberg et al. 2013), 750 μg alle 1–2 Wochen (Sekeres et al. 2011) |
Chemotherapie-induzierte Thrombozytopenie (CIT)
Mit TRA
kann bei Patienten, die unter Chemotherapie eine prolongierte
Thrombozytopenie entwickeln, die Thrombozytenzahl angehoben und die Chemotherapie planmäßig fortgesetzt werden (Al-Samkari et al.
2017; Kellum et al.
2010; Miao et al.
2017; Parameswaran et al.
2014). Bei einigen Patienten kam es jedoch zu Thrombosen; ob diese häufiger sind als bei Tumorpatienten ohne TRA-Behandlung muss offen bleiben.
Im Gegensatz zu diesen positiven Ergebnissen kommt eine
Metaanalyse jedoch zu dem Schluss, dass der Effekt von TRA auf die Zahl klinisch relevanter Blutungen zu gering sei, um bereits eine Therapieempfehlung auszusprechen (Zhang et al.
2017). Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass das primäre Ziel einer TRA-Therapie bei CIT nicht die Senkung einer ohnehin nicht sehr hohen Blutungsrate ist, sondern die Fortsetzung der Chemotherapie ohne Verzögerung oder Dosisreduktion.
TRA sind für die Prophylaxe oder Therapie der CIT arzneimittelrechtlich bisher nicht zugelassen.
Myelodysplastische Syndrome (MDS)
Mit TRA kann bei einem Teil der Patienten mit MDS
die Thrombozytenzahl angehoben werden. Blutungen treten seltener auf, und die Zahl der Thrombozytentransfusionen wird reduziert (Kantarjian et al.
2010a,
b; Greenberg et al.
2013; Mittelman et al.
2018; Sekeres et al.
2011; Wang et al.
2012;
Metaanalyse bei Prica et al.
2014). Da
Thrombopoetin jedoch nicht nur
Megakaryozyten, sondern auch
hämatopoetische Stammzellen stimuliert, bestand immer die Sorge, durch die Gabe eines TRA die
Transformation des MDS in eine AML zu fördern. Tatsächlich zeigte dann auch eine große Phase-3-Studie in der Interimanalyse mehr AML-Ereignisse und wurde deshalb vorzeitig abgebrochen (Giagounidis et al.
2014). Die Studie war jedoch nicht für dieses Ereignis gepowert, und im weiteren Verlauf kam es auch im Placeboarm zu Transformationen, sodass der Unterschied letztlich nicht mehr signifikant war. Aktuelle Daten bestätigen, dass mit TRA nicht mehr MDS in eine AML transformieren als ohne (Fenaux et al.
2017; Kantarjian et al.
2018; Prica et al.
2014).
TRA sind für die Therapie des MDS arzneimittelrechtlich bisher nicht zugelassen.
Im Gegensatz zum oben Genannten steht eine Die Studie ist mittlerweile vollpubliziert, s. unten Studie zur Wirksamkeit von Eltrombopag bei MDS-Patienten zur Verfügung, die gleichzeitig eine Therapie mit Azacitidin
erhielten (Dickinson et al.
2017). Die Studie wurde vorzeitig abgebrochen, weil unter Eltrombopag mehr Patienten eine
Transformation in eine AML entwickelten und auch der Verbrauch an Thrombozytenkonzentraten höher war als in der Placebogruppe. Möglicherweise waren die Behandlungsarme nicht ausgeglichen, aber auch eine pharmakodynamische Interaktion von Eltrombopag mit Azacitidin ist nicht ausgeschlossen.
Interleukin-11
Interleukin-11 kann eine Chemotherapie-induzierte
Thrombozytopenie abmildern. Dies hat sogar zur Zulassung des Wirkstoffes Oprelvekin
unter dem Handelsnamen Neumega
TM in den USA geführt. Aufgrund seiner pleiotropen Effekte und teilweise belastenden Nebenwirkungen (allergische Reaktionen bis hin zur
Anaphylaxie, Wassereinlagerung etc.) hat Neumega
TM jedoch nie einen höheren klinischen Stellenwert erreicht. In Europa ist es nicht zugelassen.
Zusammenfassung
Thrombopoetin-Rezeptor-Agonisten sind wirksame neue Medikamente zur Behandlung von
Thrombozytopenien. Aktuell sind sie nur zur Therapie der ITP, der schweren
aplastischen Anämie und einigen wenigen anderen Indikationen zugelassen. Eine spürbare Reduktion des Verbrauchs an Thrombozytenkonzentraten wird jedoch nur erreichbar sein, wenn TRA auch für die Chemotherapie-induzierte Thrombozytopenie und
myelodysplastische Syndrome eingesetzt werden können. Aktuell sind diese Indikationen noch „off-label“. Es bleibt abzuwarten, ob die bisherigen Studien für eine Zulassungserweiterung ausreichen.