Die genaue Ursache der Bildung abnormer Stammzellen ist nicht im Einzelnen geklärt. Unstrittig ist, dass die maligne Hämatopoese einen Wachstumsvorteil erlangt, der zum dysplastischen Knochenmarkbild führt. Dabei stehen zwei unterschiedliche Faktoren im Vordergrund. Die maligne Stammzelle proliferiert einerseits stärker als das physiologische
Knochenmark. Diese proliferative Komponente einer Stammzelle alleine führt jedoch nicht zum myelodysplastischen Syndrom. Wenn Proliferation nämlich isoliert auftritt, ergibt sich das Krankheitsbild eines myeloproliferativen Syndroms
(Kap.
Myeloproliferative Neoplasien). Es kommt zu Leukozytose, Thrombozytose oder
Polyglobulie. Bei MDS kommt dagegen ein weiterer Faktor hinzu: Die Stammzellen weisen einen Ausreifungsdefekt auf. Dadurch kommt es zwar grundsätzlich zu einer Übervölkerung des Knochenmarks mit dysplastischen Zellen, diese reifen jedoch nicht bis zur wirksamen Effektorzelle (Erythrozyt, Thrombozyt, Granulozyt) aus, sondern erliegen dem intramedullären Zelltod, ausgelöst durch den jeder Zelle eigenen Apoptosemechanismus (kontrollierter Zelltod). Frühformen der MDS können im Verlauf zusätzliche genetische Veränderungen auf Stammzellebene akkumulieren. Dadurch nimmt der proliferative Anteil bei bestehender Ausreifungsstörung zu. Es entwickeln sich vermehrt undifferenzierte Blasten. Ab einem Prozentsatz von 20 % Blasten im Knochenmark spricht man von akuten
Leukämien. 30–40 % der MDS gehen im Verlauf der Erkrankung in akute Leukämien über. MDS sind also pathophysiologisch dynamische Erkrankungen, bei denen die Akkumulation genetischer, epigenetischer und immunologischer Störungen auf Stammzellenebene über die Krankheitsentwicklung entscheidet.
Unsicherheit besteht über die Bedeutung der einzelnen Faktoren, die zur Stammzellenanomalie
führen. Gesichert ist, dass genetische Schäden der DNA einen entscheidenden Einfluss haben, ob hämatopoetische Progenitoren mit MDS-Folge auftreten. 50 % der Patienten mit MDS weisen klonale zytogenetische Aberrationen in der Hämatopoese auf (z. B.
Deletionen an
Chromosomen oder Verlust ganzer Chromosomen). Mit sensitiveren Techniken wie den plattformbasierten Untersuchungen auf „single nucleotide polymorphisms“ (
SNP) oder komparativer genomischer Hybridisierung (CGH) können Anomalien bei bis zu 80 % der Patienten nachgewiesen werden, auch bei Patienten mit normalem
Karyotyp. Wiederkehrende Mutationen in zellulären Basisprozessen wie dem RNA-Splicing (bei 45–85 % aller MDS!), den DNA-Reparaturvorgängen und der Signaltransduktion durch Tyrosinkinasen sind entdeckt worden und werden unten kurz beschrieben. Es ist jedoch bekannt, dass auch das Knochenmark-Microenvironment, in dem sich Stammzellen zur Proliferation einnisten, genetische Veränderungen aufweisen kann. Dies stützt die Hypothese, dass die MDS-Stammzelle evtl. auch durch Umgebungsfaktoren verändert wird. Weiter ist bekannt, dass in MDS-Stammzellen häufig zwar grundsätzlich eine intakte DNA vorliegen kann. Epigenetische Veränderungen, also DNA-regulierende Prozesse wie das An- und Abschalten gewisser Gene, können jedoch ebenfalls pathologisch verändert sein. Dadurch sind insbesondere Gene, die zellzyklusregulierend sind, fehlgesteuert und treiben den pathophysiologischen Prozess in nicht unerheblichem Maße an. Schließlich sind Immunanomalien bekannt, bei denen regulierende T-Zellen eine Autoimmunantwort auf normale
hämatopoetische Stammzellen auslösen können, die zur Schwächung der physiologischen Hämatopoese führt. Die Summe dieser Störungen führt somit in Frühstadien der MDS zu einer klonalen Hämatopoese mit dem Leitbild eines zellreichen
Knochenmarks bei peripherem Blutzellmangel. Im Verlauf kommt es dann zu einer proliferativen, ausreifungsgestörten Dominanz der abnormen Hämatopoese mit Blastenakkumulation und Übergang in eine akute Leukämie.