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DGIM Innere Medizin
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Publiziert am: 21.04.2015

Myelodysplastische Syndrome

Verfasst von: Aristoteles Giagounidis und Ulrich Germing
Myelodysplastische Syndrome (MDS) sind hämatopoetische Stammzellerkrankungen. Zugrunde liegt ein pathologischer Klon, der gegenüber der normalen Hämatopoese einen Wachstumsvorteil aufweist. Die Ausreifungsstörung führt typischerweise zu defekten Blutzellen und zu den klinischen Zeichen von Anämie, Leukozytopenie und Thrombozytopenie. Die führende Symptomatik myelodysplastischer Syndrome besteht in Abgeschlagenheit, Kraftlosigkeit, gehäuften Infektionen und erhöhter Blutungsneigung. Die Zahl und Schwere von Komorbiditäten beim einzelnen Patienten bedingt den Schweregrad der Krankheitsausprägung wesentlich mit. Der Verdacht auf ein myelodysplastisches Syndrom entsteht meist aufgrund unerklärter Zytopenien des peripheren Blutes. Die Diagnostik besteht daher zunächst in der Durchführung eines peripheren Blutausstriches, anschließend in einer Knochenmarkpunktion mit Aspirationszytologie und knochenmarkhistologischer Untersuchung. Der Schwerpunkt der Behandlung von Niedrigrisiko-MDS liegt auf der Verhinderung krankheitsbedingter Komplikationen wie Infektionen, Blutungen, anämische Symptome und Organeinschränkungen durch transfusionsbedingte Eisenüberladung. Daneben stehen Versuche, die Patienten durch aktive Therapieintervention transfusionsfrei zu machen. Bei Hochrisiko-MDS sind demethylierende Substanzen, Azacitidin und Decitabin, intensive Chemotherapie sowie allogene Blutstammzellentransplantation indiziert.

Definition

Myelodysplastische Syndrome (MDS) sind hämatopoetische Stammzellerkrankungen. Der Name leitet sich aus dem griechischen myelos (= Mark) und dysplasia (= Missbildung) ab. Zugrunde liegt ein pathologischer Klon, der gegenüber der normalen Hämatopoese einen Wachstumsvorteil aufweist. Somit wird die normale Hämatopoese im Extremfall vollständig verdrängt. Die klonale Hämatopoese proliferiert zwar reichlich im Knochenmark, unterliegt aber einer Ausreifungsstörung, die typischerweise zu defekten Blutzellen und zu den klinischen Zeichen Anämie, Leukozytopenie und Thrombozytopenie führt.

Pathophysiologie

Die genaue Ursache der Bildung abnormer Stammzellen ist nicht im Einzelnen geklärt. Unstrittig ist, dass die maligne Hämatopoese einen Wachstumsvorteil erlangt, der zum dysplastischen Knochenmarkbild führt. Dabei stehen zwei unterschiedliche Faktoren im Vordergrund. Die maligne Stammzelle proliferiert einerseits stärker als das physiologische Knochenmark. Diese proliferative Komponente einer Stammzelle alleine führt jedoch nicht zum myelodysplastischen Syndrom. Wenn Proliferation nämlich isoliert auftritt, ergibt sich das Krankheitsbild eines myeloproliferativen Syndroms (Kap. Myeloproliferative Neoplasien). Es kommt zu Leukozytose, Thrombozytose oder Polyglobulie. Bei MDS kommt dagegen ein weiterer Faktor hinzu: Die Stammzellen weisen einen Ausreifungsdefekt auf. Dadurch kommt es zwar grundsätzlich zu einer Übervölkerung des Knochenmarks mit dysplastischen Zellen, diese reifen jedoch nicht bis zur wirksamen Effektorzelle (Erythrozyt, Thrombozyt, Granulozyt) aus, sondern erliegen dem intramedullären Zelltod, ausgelöst durch den jeder Zelle eigenen Apoptosemechanismus (kontrollierter Zelltod). Frühformen der MDS können im Verlauf zusätzliche genetische Veränderungen auf Stammzellebene akkumulieren. Dadurch nimmt der proliferative Anteil bei bestehender Ausreifungsstörung zu. Es entwickeln sich vermehrt undifferenzierte Blasten. Ab einem Prozentsatz von 20 % Blasten im Knochenmark spricht man von akuten Leukämien. 30–40 % der MDS gehen im Verlauf der Erkrankung in akute Leukämien über. MDS sind also pathophysiologisch dynamische Erkrankungen, bei denen die Akkumulation genetischer, epigenetischer und immunologischer Störungen auf Stammzellenebene über die Krankheitsentwicklung entscheidet.
Unsicherheit besteht über die Bedeutung der einzelnen Faktoren, die zur Stammzellenanomalie führen. Gesichert ist, dass genetische Schäden der DNA einen entscheidenden Einfluss haben, ob hämatopoetische Progenitoren mit MDS-Folge auftreten. 50 % der Patienten mit MDS weisen klonale zytogenetische Aberrationen in der Hämatopoese auf (z. B. Deletionen an Chromosomen oder Verlust ganzer Chromosomen). Mit sensitiveren Techniken wie den plattformbasierten Untersuchungen auf „single nucleotide polymorphisms“ (SNP) oder komparativer genomischer Hybridisierung (CGH) können Anomalien bei bis zu 80 % der Patienten nachgewiesen werden, auch bei Patienten mit normalem Karyotyp. Wiederkehrende Mutationen in zellulären Basisprozessen wie dem RNA-Splicing (bei 45–85 % aller MDS!), den DNA-Reparaturvorgängen und der Signaltransduktion durch Tyrosinkinasen sind entdeckt worden und werden unten kurz beschrieben. Es ist jedoch bekannt, dass auch das Knochenmark-Microenvironment, in dem sich Stammzellen zur Proliferation einnisten, genetische Veränderungen aufweisen kann. Dies stützt die Hypothese, dass die MDS-Stammzelle evtl. auch durch Umgebungsfaktoren verändert wird. Weiter ist bekannt, dass in MDS-Stammzellen häufig zwar grundsätzlich eine intakte DNA vorliegen kann. Epigenetische Veränderungen, also DNA-regulierende Prozesse wie das An- und Abschalten gewisser Gene, können jedoch ebenfalls pathologisch verändert sein. Dadurch sind insbesondere Gene, die zellzyklusregulierend sind, fehlgesteuert und treiben den pathophysiologischen Prozess in nicht unerheblichem Maße an. Schließlich sind Immunanomalien bekannt, bei denen regulierende T-Zellen eine Autoimmunantwort auf normale hämatopoetische Stammzellen auslösen können, die zur Schwächung der physiologischen Hämatopoese führt. Die Summe dieser Störungen führt somit in Frühstadien der MDS zu einer klonalen Hämatopoese mit dem Leitbild eines zellreichen Knochenmarks bei peripherem Blutzellmangel. Im Verlauf kommt es dann zu einer proliferativen, ausreifungsgestörten Dominanz der abnormen Hämatopoese mit Blastenakkumulation und Übergang in eine akute Leukämie.

Epidemiologie

Myelodysplastische Syndrome sind seltene Erkrankungen, die einen Inzidenzgipfel um das 70. Lebensjahr aufweisen (Abb. 1). Über alle Altersklassen gerechnet beträgt die Inzidenz zwar nur etwa 4 auf 100.000 Fälle (etwa 4000 Neuerkrankungen pro Jahr in Deutschland), allerdings steigt die Erkrankungshäufigkeit in höherem Alter sprunghaft an: Unter 40 Jahren sind MDS eine ausgesprochene Rarität. Im Alter über 80 Jahren beträgt die Inzidenz dagegen bis zu 40/100.000 Personen dieses Alters. Bei steigender Lebenserwartung werden MDS in Zukunft somit auch häufiger eine Herausforderung im hausärztlichen Bereich darstellen. MDS kommen bei beiden Geschlechtern vor: Männer sind grundsätzlich etwa häufiger betroffen als Frauen, was auf eine höhere berufliche Noxenexposition zurückgeführt wird. Der spezielle MDS-Subtyp del(5q) (sprich: Deletion 5q) allerdings ist bei Frauen deutlich häufiger.

Klinik

Die führende Symptomatik myelodysplastischer Syndrome besteht in Abgeschlagenheit, Kraftlosigkeit, gehäuften Infektionen und erhöhter Blutungsneigung. Sie beruht auf den sich im Krankheitsverlauf ausbildenden Zytopenien, die unterschiedliche Ausmaße annehmen können. Häufig, jedoch nicht immer, ist die Anämie führend und löst auch die Diagnostik bei der Erkrankung aus.
Die Zahl und Schwere von Komorbiditäten beim einzelnen Patienten bedingt jedoch den Schweregrad der Krankheitsausprägung wesentlich mit. Da es sich überwiegend um Patienten im fortgeschrittenen Lebensalter handelt, leiden viele Patienten an kardialen Symptomen. Lässt man die Progression zu akuten Leukämien außen vor, so sind kardiale Komplikationen die führende Todesursache bei MDS (51 % der nicht leukämischen Todesursachen). Danach folgen Infektionen (31 %), Blutungsereignisse (8 %) und Leberversagen (8 %).
Patienten mit MDS leiden bei Diagnosestellung grundsätzlich nicht an Eisenüberladung. Häufige Transfusionen (250 mg Eisen befinden sich in einem Beutel eines Erythrozytenkonzentrats) führen jedoch im Verlauf zu einer Eisenakkumulation, die innerhalb kurzer Zeit zur Verdopplung des Körpereisens führen kann. Patienten mit schwerer Eisenüberladung können neben Herzinsuffizienz und erhöhten Lebertransaminasen auch seltenere Symptome wie neu aufgetretenen Diabetes mellitus oder generalisierte Knochenschmerzen aufweisen. Obwohl es sich bei MDS um eine Stammzellenerkrankung handelt, ist die lymphatische Zellreihe kaum beeinträchtigt, sodass opportunistische Infektionen wie bei Patienten mit AIDS die Ausnahme darstellen.

Diagnostik

Der Verdacht auf ein myelodysplastisches Syndrom entsteht in den allermeisten Fällen aufgrund unerklärter Zytopenien des peripheren Blutes. Meist präsentieren sich MDS als normozytäre oder makrozytäre Anämien bei gleichzeitiger Retikulozytopenie. Die Makrozytose ist dabei fast nie so ausgeprägt wie bei megaloblastären Anämien, bei der sie typischerweise über 110 fl liegt. Selten sind MDS Ursache mikrozytärer Anämien. Variable Ausmaße an Leukozytopenien und Thrombozytopenien sind häufig mit einer Anämie assoziiert, nur ganz selten liegen sie bei normalen bis gering verminderten Hämoglobinwerten vor. Eine typische, wenn auch nicht sehr häufige Konstellation bei MDS ist die Kombination aus leichter Leuko- und Neutropenie bei makrozytärer Anämie und normalen oder erhöhten Thrombozytenwerten. In diesen Fällen liegt häufig eine Deletion im langen Arm von Chromosom 5 vor.
Der erste Schritt zur Diagnostik von MDS ist die Durchführung eines peripheren Blutausstriches. Hier lassen sich gelegentlich bereits Anomalien der Erythrozyten, der kernhaltigen Zellen oder der Thrombozyten erkennen: Bei den Erythrozyten liegt regelhaft eine Poikilozytose (Formanomalie der Erythrozyten) bei fehlender Polychromasie (keine Intensitätsunterschiede in der Färbung der Erythrozyten als Hinweis auf mangelnde Neubildung) vor. In den ausreifenden granulopoetischen Zellen sind Degranulationen oder Hypolobulierungen nachzuweisen. Bilden die segmentkernigen Granulozyten nur zwei Segmente, die durch einen schmalen Chromatinstreifen miteinander in Verbindung stehen, spricht man von Pseudo-Pelgerzellen in Anlehnung an die hereditäre Pelger-Huëtsche-Anomalie bei Kindern. Thrombozyten können eine Anisometrie oder auch Hypogranulationen aufweisen („grey platelets“).
Der nächste Schritt in der Diagnostik der MDS ist eine Knochenmarkpunktion mit Aspirationszytologie und knochenmarkhistologischer Untersuchung. Eine zytogenetische Untersuchung aus dem Knochenmark ist obligat. Die Aspirationszytologie aus dem Knochenmark ist die führende Untersuchung, da sie die Einzelzellmorphologie der Knochenmarkzellen begutachtet. Sie wird ohne oder mit EDTA- bzw. Citrat-Antikoagulans durchgeführt und schnell als Quetschpräparat oder Ausstrichpräparat auf einen Objektträger gebracht. Der Technik des Ausstreichens kommt höchste Bedeutung zu, da bei schlechter Durchführung die Auswertbarkeit der Ausstriche stark beeinträchtigt ist. Die wichtigsten morphologischen Anomalien, auf die im Knochenmark geachtet werden muss, sind in Tab. 1 aufgeführt. Die Knochenmarkhistologie ist nicht zwingend. Allerdings bringt die Auswertung durch erfahrene Hämatopathologen häufig zusätzliche Hinweise, wie auf den Grad der Fibrosierung, atypische Lokalisation von myeloischen Progenitoren oder das Vorhandensein von Lymphfollikeln. Die Zytogenetik wird in Heparin- bzw. EDTA-Röhrchen abgenommen und sofort prozessiert oder per Express an Speziallaboratorien verschickt. Die rasche Bearbeitung ist notwendig, da bei MDS die Zahl der ausgewerteten Metaphasen von Bedeutung ist. Grundsätzlich gelten 20 ausgewertete Metaphasen als lege artis.
Tab. 1
Wichtige morphologische Befunde bei myelodysplastischen Syndromen
Erythrozytopoese
- Megaloblastäre Transformation
- Kernentrundungen
- Doppel- und Mehrkernigkeit
- Karyorrhexisfiguren
- Kernbrückenbildung
- Zytoplasmavakuolisierung
- Positiver Ausfall der PAS-Färbung
- Degranulierung von Promyelozyten und Myelozyten
- Hypergranulierung
- Pseudo-Pelgerzellen
- Anormale Chromatinklumpung
- Partieller Defekt der Myeloperoxidase
- Hypersegmentierungen
- Mikromegakarozyten
- Mononukleäre Megakaryozyten
- Hypersegmentierung mit Abrundung der Kernsegmente

Klassifikation

Myelodysplastische Syndrome werden aktuell nach der seit 2008 gültigen WHO-Klassifikation unterteilt (Tab. 2). Dabei stehen Erkrankungen mit Dysplasien in nur einer Zellreihe (erythroide Reihe oder Granulopoese oder Megakaryozyten) Erkrankungen gegenüber, die Mehrliniendysplasien aufweisen. Patienten mit erhöhtem Blastenanteil im Knochenmark (≥5 %) werden in refraktäre Anämien mit Blastenexzess I (bis unter 10 %) und refraktäre Anämien mit Blastenexzess II (10 % bis unter 20 %) eingeteilt. Patienten mit isolierter del(5q)-Anomalie werden als eigenständige Erkrankung innerhalb der MDS klassifiziert, da sie ein klinisch gut abgrenzbares Kollektiv darstellen und therapeutisch auf Lenalidomid besonders gut ansprechen. Unklassifizierbare MDS sind sehr seltene Unterformen der MDS, die nicht in eine der anderen Gruppen passen, z. B. multilineäre oder unilineäre MDS mit 1 % Blasten im peripheren Blut, unilineäre MDS mit Panzytopenie oder Erkrankungen ohne sichere Dysplasien, aber mit typischen zytogenetischen Aberrationen der MDS.
Tab. 2
WHO-Klassifikation der myelodysplastischen Syndrome
MDS-Subtyp
Blut
Knochenmark
Refraktäre Zytopenie mit unilineärer Dysplasie (RCUD)
Refraktäre Anämie (RA)
Refraktäre Neutropenie (RN)
Refraktäre Thrombozytopenie (RT)
<1 % Blasten
Uni- oder Bizytopenie
<5 % Blasten, <15 % Ringsideroblasten innerhalb der Erythrozytopoese, Dysplasiezeichen in mehr als 10 % der Zellen einer Zellreihe
Refraktäre Anämie mit Ringsideroblasten (RARS)
Anämie, keine Blasten
<5 % Blasten, ≥15 % Ringsideroblasten innerhalb der Erythrozytopoese, ausschließlich Dyserythropoese
Refraktäre Zytopenie mit multilineärer Dysplasie (RCMD) mit oder ohne Ringsideroblasten
<1 % Blasten, Zytopenie(n)
<1000/μl Monozyten
<5 % Blasten, Dysplasiezeichen in mehr als 10 % der Zellen in 2–3 Zellreihen
MDS mit isolierter del(5q)
≤1 % Blasten, Anämie
Thrombozyten oft vermehrt
<5 % Blasten, meist typische mononukleäre Megakaryozyten, isolierte del(5q)-Anomalie
Refraktäre Anämie mit Blastenvermehrung I (RAEB I)
<5 % Blasten, Zytopenie(n)
<1000/ml Monozyten
<10 % Blasten, uni- oder multilineäre Dysplasiezeichen, keine Auer-Stäbchen
Refraktäre Anämie mit Blastenvermehrung II (RAEB II)
<20 % Blasten, Zytopenie(n)
<1000/μl Monozyten
<20 % Blasten, uni- oder multilineäre Dysplasien, Auer-Stäbchen möglich
Unklassifizierte MDS (MDS-U)
≤1 % Blasten, Zytopenien
<1000/μl Monozyten
<5 % Blasten
Zytogenetische Aberrationen
Etwa 50 % der Patienten mit MDS weisen zytogenetische Aberrationen in den maligne entarteten Knochenmarkzellen auf. Die Zahl der nachgewiesenen Aberrationen ist enorm, die häufigsten Aberrationen sind in Tab. 3 dargestellt. Gegenüber akuten myeloischen Leukämien, bei denen Translokationen zwischen Chromosomen häufig sind, treten bei MDS Monosomien, Trisomien und Deletionen in den Vordergrund. Generell gilt: Je mehr Aberrationen in einer Zelle kumulieren, desto schlechter ist die Prognose. Einzelne Aberrationen können günstige oder ungünstige Prognosen nach sich ziehen. Schanz et al. erarbeiteten einen zytogenetischen Score, der einen Eindruck der Prognose abhängig von verschiedenen zytogenetischen Aberrationen vermittelt (Tab. 6).
Tab. 3
Häufige zytogenetische Aberrationen bei myelodysplastischen Syndromen
Chromosomenaberration
Häufigkeit (%)
del(5q)
10–15
−7
10
+8
10
del(20q)
5
−5
3
-Y
3
−18
3
+mar
2
+21
2
del(7q)
2
Komplexe Chromosomenaberrationen (≥3 Anomalien)
10–15
Tab. 4
Genetische Mutationen bei Patienten mit MDS
Gen
Erklärung
Häufigkeit (%)
ASXL1
„Additional sex-comb like-1“: kodiert ein Protein, das epigenetische Expression von Genen reguliert. Prognostischer Wert bisher unklar.
10
EZH2
„Enhancer of Zeste homolog 2”: Histonmethyltransferase. Methyliert Lysinreste an Histonen und führt zu Chromatinkondensation, supprimiert damit die Expression des entsprechenden Gens. Positioniert auf Chromosom 7q36. Sehr wahrscheinlich Tumorsuppressor. Mutationen prognostisch ungünstig.
25
RAS
„Rat sarcoma“: Konstitutionelle Aktivierung führt zu aktivierter Signaltransduktion mit unkontrolliertem Zellwachstum. Üblicherweise NRAS, selten KRAS oder HRAS. Gehäuft bei Deletion 7 oder 7q-. Prognostischer Wert nicht sicher.
10–35
RUNX1
„Runt-related transcription factor 1“:Reguliert die Differenzierung hämatopoetischer Vorläufer zu ausdifferenzierten Zellen. Mutationen sind prognostisch ungünstig.
7–15
TET2
„Ten-eleven translocation gene 2“: kodiert Proteine, die die DNA-Expression durch Demethylierung epigenetisch kontrollieren. Funktionsverlust führt zu erhöhter DNA-Methylierung und Stummschaltung normalerweise exprimierter Gene. Prognostisch eher günstig.
15
IDH
Isocitrat-Dehydrogenase: führt zu DNA-Hypermethylierung und veränderter Genexpression. Prognostisch ungünstig.
Selten
TP53
Tumorsuppressorgen p53 („guardian of the genome“): führt physiologischerweise bei Zellstress zu Zellzyklusarrest. Mutationen häufiger bei sekundären MDS-Erkrankungen. Prognostisch ungünstig.
5–15
SF3B1
„Splicing factor 3B subunit 1“: notwendig zur Umwandlung genetischer Information von DNA in mRNA. Meist mutiert bei RARS-Patienten. Mutationen prognostisch günstig.
20
Tab. 5
Überarbeitete Fassung des internationalen Prognosesystems (IPSS-R)
Variable
Punktzahl
 
0
0,5
1
1,5
2
3
4
Blasten im Knochenmark
<2 %
 
2–<5 %
 
5–10 %
>10 %
 
Zytogenetische Kategorie
Sehr gut
 
Gut
 
Intermediär
Schlecht
Sehr schlecht
Hämoglobinwert
>10 g/dl
 
8–10 g/dl
<8 g/dl
   
Neutrophile
>0,8/nl
<0,8/nl
     
Thrombozyten
>100/nl
50–<100/nl
<50/nl
    
Tab. 6
Altersbedingte Prognoseberechnung (mittleres Überleben in Jahren angegeben)
 
Sehr niedrig
(0–1,5)
Niedrig
(2–3)
Intermediär
(3,5– 4,5)
Hoch
(5–6)
Sehr hoch
(>6)
Patientenanteil
19 %
38 %
20 %
13 %
10 %
Mittleres Überleben (alle Alter)
8,8
5,3
3,0
1,6
0,8
Mittleres Überleben (<60 Jahre)
NR
8,8
5,2
2,1
0,9
Mittleres Überleben
(>60 Jahre)
7,5
4,7
2,6
1,5
0,7
Mittleres Überleben (>70 Jahre)
5,9
4,2
2,5
1,4
0,7
NR
Molekularbiologie
Der Nachweis, dass einzelne Gene bei MDS mutiert sein können, birgt die Hoffnung, dass zukünftig zielgerichtete Therapien entwickelt werden können, die eine Verbesserung der Prognose der Patienten ermöglichen werden. Wie bei vielen anderen Tumoren sind Deletionen oder Mutationen im p53-Gen (Chromosom 17p13) generell prognostisch ungünstig. Interessanterweise treten sie bei MDS vor allem bei Aberrationen im Chromosom 5 oder bei komplexen Karyotypanomalien unter Einbezug des Chromosoms 5 auf. Die Ursache für diesen Zusammenhang ist bisher ungeklärt.
Die p53-Genmutationen können indirekt über den Nachweis der Akkumulation des TP53-Proteins immunhistochemisch nachgewiesen werden, weil der Abbau mutierter TP53-Proteine langsamer verläuft als der des Transkripts des Wildtypgens, das relativ instabil ist. Bei del(5q) scheint ein Cut-off von 1 % eine Subgruppe zu definieren, die eine erheblich schlechtere Prognose als del(5q)-MDS mit <1 % p53-Mutationen aufweisen. Allerdings sind nicht alle TP53-Mutationen immunhistochemisch nachweisbar, etwa 15 % bleiben undetektiert. Eine Reihe anderer Mutationen in Einzelgenen sind wiederholt bei MDS nachgewiesen worden, deren prognostische Bedeutung noch nicht in allen Fällen geklärt wurden. Interessanterweise sind einige von ihnen in die epigenetische Regulation des Genoms involviert. Epigenetische Therapieansätze haben in den letzten Jahren ein erhebliches Interesse erfahren. Die wichtigsten Genmutationen sind in Tab. 4 aufgeführt.
Aberrantes Spleißen
Die in der DNA enthaltene genetische Information muss in mRNA übersetzt werden, bevor sie zur Herstellung von Proteinen verwertet werden kann. Nach einer initialen Transkription in eine prä-mRNA wird durch Spleißen eine transkriptionsreife mRNA hergestellt. Dabei werden Sequenzbereiche (Introns) aus der prä-mRNA herausgeschnitten, die für die Proteinherstellung nicht notwendig sind. Unterschiedliche Verknüpfung und Überspringen von Exons führt bei 90–95 % der menschlichen Gene zu einer erheblichen biologischen Diversität von Proteinen, die aus einem einzigen Gen hergestellt werden (alternatives Spleißen). Dass Fehlfunktionen des Spleißprozesses zu Krankheiten führen können, ist bereits bekannt. Bei der Sequenzierung des gesamten Genoms bzw. der gesamten Exone des Menschen wurde festgestellt, dass auch hämatopoetische Erkrankungen mit hohem Dysplasiegrad (MDS, chronische myelomonozytäre Leukämie [CMML], therapieassoziierte akute myeloische Leukämie [AML] u. a.) gehäuft Mutationen in der molekularen Spleißmaschine aufweisen. Die häufigsten mutierten Gene sind SF3A1, SF3B1, ZRSR2, SRSF2, U2AF2 und U2AF1. Diese Mutationen treten fast nie in Kombination auf. SF3B1-Mutationen sind eng mit ringsideroblastischen myelodysplastischen Syndromen assoziiert. Der Nachweis dieser Mutation weist mit einer positiven Vorhersagewahrscheinlichkeit von annähernd 100 % auf einen ringsideroblastischen Phänotyp hin. Der genaue kausale Zusammenhang zwischen Spleißmutationen und MDS ist jedoch noch nicht ergründet.
Epigenetische Mutationen
Epigenetische Regulation beinhaltet Vorgänge, die die Proteinexpression der Zelle nicht über Änderungen der Nukleotidabfolge der DNA, sondern über die Expression von Genen ermöglicht. Genetische Mutationen von epigenetischen Regulatoren wurden bei MDS häufig nachgewiesen. Diese führen zu abnormer DNA-Methylierung und Histonacetylierung. Beispiele sind Mutationen in den Genen DNMT3A und TET2. MDS und sekundäre AML weisen häufig eine ausgeprägte Anomalie der DNA-Methylierung und Histonacetylierung auf. Das Ausmaß der aberranten DNA-Methylierung korreliert mit dem Schweregrad der Erkrankung, der Transformationsrate zu AML und dem Gesamtüberleben der Patienten. DNMT-Inhibitoren (Azacitidine und Decitabine) sind für die Behandlung von MDS und AML zugelassen (Abschn. 9.2).
Mutationen in der Signaltransduktionskette
Die physiologische Hämatopoese ist abhängig von einer ordnungsgemäßen Regulation von wachstumsfaktor- und zytokinabhängigen intrazellulären Signaltransduktionwegen. Mutationen beteiligter Enzyme können eine dauerhafte Aktivierung der Signalwege hervorrufen, die zu verminderter Apoptose oder erhöhter Proliferation führen. Insgesamt sind Mutationen in der Signaltransduktion (z. B. FLT3-, RAS- und CBL-Mutationen) bei MDS eher selten (etwa 5 %), aber JAK2-Mutationen konnten bei der Untergruppe der RARS mit Thrombozytose in etwa 50 % der Fälle nachgewiesen werden, viele von diesen weisen auch eine SF3B1-Mutation auf.

Prognoseabschätzung

Die Prognoseabschätzung ist komplex, da MDS sehr heterogen sind. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die neuesten Prognosemodelle zytologische, zytogenetische und klinisch-laborchemische Faktoren aufwändig miteinander kombinieren, um eine zuverlässige Aussage zur Gesamtüberlebenszeit der Patienten zu ermöglichen. Aktuelle Prognoseberechnungen gelten für unbehandelte Patienten. Der Einfluss einer erfolgreichen Behandlung auf die Prognose ist nicht ablesbar.
Das neueste Prognosemodell, das International Prognostic Scoring System, revised (IPSS-R, Tab. 5), besteht aus drei Komponenten: der Anzahl der Blasten im Knochenmark, der Ausprägung der Zytopenien im peripheren Blut sowie der zytogenetischen Aberrationen in den malignen Knochenmarkzellen. Die Ausprägung jeder Einzelkomponente wird mit Punkten bewertet. Je mehr Punkte ein Patient erhält, desto höher ist sein Score und desto schlechter die Prognose für das Gesamtüberleben oder die Häufigkeit des AML-Übergangs (Abb. 2 und 3).
Blasten sind bei MDS als potenzielle Leukämievorstufen gefürchtet. Der IPSS-R wertet nur Blasten <2 % aller Knochenmarkzellen als prognostisch günstig. Bereits ab 3 % Blasten am gesamten kernhaltigen Knochenmarkzellgut verschlechtert sich die Prognose. Der Schwellenwert von 2 % ist deshalb von Bedeutung, weil in der Vergangenheit grundsätzlich Knochenmarkblasten bis 5 % in der Zytologie als noch „akzeptabel“ gewertet wurden.
Für die peripheren Blutzellwerte sind ebenfalls bestimmte Grenzwerte definiert, deren Unterschreitung zu Punktvergabe führen. Schließlich werden zytogenetische Einzelbefunde in die Wertung eingebracht, die auf dem von Schanz et al. erarbeiteten zytogenetischen Prognosemodell basieren (Tab. 7). Niedrigrisiko-MDS werden in diesem Prognosescore gewertet als Patienten, die in den Risikoklassen sehr niedrig, niedrig oder intermediär liegen. Das mediane Gesamtüberleben dieser Patienten beträgt mindestens 3,5 Jahre. Hochrisikopatienten weisen die Risikoklassen hoch oder sehr hoch auf.
Tab. 7
Relevante zytogenetische Kategorien für den IPSS-R
Sehr gut
Gut
Intermediär
Schlecht
Sehr schlecht
-Y, del(11q)
Normal, del(5q), del(12p), del(20q);
del(5q) + 1 weitere Aberration
del(7q), +8, +19, i(17q);
mehrere Klone mit unabhängigen Einzelaberrationen oder Doppelaberrationen
−7, inv(3), t(3q), del(3q);
−7/del(7q) + 1 weitere Aberration;
komplex: 3 Anomalien
Komplex: >3 Anomalien
Bei der Prognoseabschätzung sollte dem Lebensalter des betroffenen Patienten gebührend Rechnung getragen werden. Die altersbedingte Anpassung der Prognoseberechnung ist in Tab. 6 wiedergegeben. Eine Berechnung der mittleren Überlebensraten der Patienten mit MDS des Düsseldorfer MDS-Registers mittels IPSS-R ist in Abb. 4 dargestellt.

Differenzialdiagnose

Die Sicherung myelodysplastischer Syndrome kann schwierig sein. Bei typischen zytogenetischen Aberrationen und eindeutigen Dysplasien der Knochenmarkzellen ist die Diagnose zwar stichhaltig, allerdings sind in weniger eindeutigen Fällen andere Erkrankungen in Betracht zu ziehen, die Zytopenien hervorrufen können (Abb. 5). Exemplarisch seien hier Viruserkrankungen wie durch HIV (Kap. HIV/AIDS) genannt, die durch ungeklärte Zytopenien auffallen und im Knochenmark mit geringen Dysplasien einhergehen können. Dies gilt auch für Autoimmunerkrankungen wie den systemischen Lupus erythematosus (Kap. Systemischer Lupus erythematodes) oder das Felty-Syndrom.
Andere Erkrankungen sind knochenmarkmorphologisch eindeutig abgrenzbar: Die megaloblastäre Anämie (Kap. Anämie) weist ein typisches Knochenmarkbild auf, das sicher von MDS unterschieden werden kann. In der typischen Präsentation zeigen megaloblastäre Anämien auch erheblich höhere LDH-Werte als MDS und ein höheres MCV. Eine schwierige Differenzialdiagnose der MDS kann die paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH) sein. Bei voll ausgeprägter PNH liegen zwar eine Retikulozytose und eine sehr hohe LDH vor. Aber bei milden Verlaufsformen können durchaus mehrere Zytopenien mit nur geringer LDH-Erhöhung bei knochenmarkmorphologisch prominenter Erythropoese vorliegen. Dieses Bild kann mit frühen MDS verwechselt werden. Daher ist hier der einfach durchzuführende durchflusszytometrische Ausschluss einer Defizienz Glykosyl-Phosphatidyl-Inositol-verankerter Antigene in der Zellwand der betroffenen Zelllinien (Erythrozyten, Granulozyten und Monozyten) von großer Bedeutung.
Eine Herausforderung sind Anämien bei chronischen Erkrankungen (so genannte Tumor-/Infektanämien). Diese sind nicht selten normochrom-normozytär oder normochrom-makrozytär und können mikroskopisch mit frühen MDS mit nur geringen Dysplasien verwechselt werden. Die Beurteilung der Eisenhomöostase inklusive Ferritin und Transferrin hilft nicht weiter, da auch MDS in Frühstadien erhöhte Ferritinwerte bei vermindertem oder grenzwertigem Transferrin aufweisen können. Hier kommt der Mikroskopie des Knochenmarks und eventuell der Verlaufsbeurteilung eine erhebliche Bedeutung zu.

Therapie

Niedrigrisiko-MDS

Der Schwerpunkt der Behandlung von Niedrigrisiko-MDS liegt auf der Verhinderung krankheitsbedingter Komplikationen wie Infektionen, Blutungen, anämische Symptome und Organeinschränkungen durch transfusionsbedingte Eisenüberladung. Daneben stehen Versuche, die Patienten durch aktive Therapieintervention transfusionsfrei zu machen.
Eisenchelation
Chronisch transfusionspflichtige Patienten erleiden zwangsläufig eine sekundäre Hämochromatose, da mit jeder Bluteinheit bis zu 250 mg Eisen übertragen werden, der tägliche Bedarf aber nur bei 1 mg liegt und der Körper keine physiologische Möglichkeit der Eisenelimination kennt. Die konsekutive Eisenüberladung kann zu Eisenablagerungen in der Leber, den endokrinen Organen und dem Herzen führen, was Funktionseinschränkungen zur Folge haben kann. Obwohl formal keine Beweise eines verbesserten Überlebens oder einer Reduktion der Leukämieübergangswahrscheinlichkeit gezeigt werden konnten, empfehlen internationale Konsensusprotokolle die Einleitung einer Eisenchelationstherapie bei Ferritinwerten >1000 ng/ml bis 2500 ng/ml. Für diese Fälle ist die Substanz Deferasirox mit oraler Verfügbarkeit und einer Halbwertszeit von bis zu 16 Stunden zugelassen, wenn die parenteral applizierbare Substanz Deferoxamin nicht anwendbar ist. Die Zieldosis von Deferasirox beträgt 20–30 mg/kg Körpergewicht einmal täglich per os und führt regelhaft zu einer Reduktion sowohl der Ferritinwerte, des nicht transferringebundenen Eisens im Serum und zum Abfall der Lebereisenkonzentration selbst bei höherer Transfusionspflicht (wie z. B. vier Erythrozytenkonzentrate pro Monat). Retrospektive Auswertungen verschiedener Studien ohne Placebokontrollarm haben Hinweise auf eine Verlängerung des Gesamtüberlebens unter Eisenchelation gegeben, eine Verbesserung verschiedener Organfunktionen (Herz, Leber) sowie eine Verbesserung der hämatologischen Knochenmarkfunktion mit Anstieg der Hämoglobinwerte und anderer Zelllinien bei 10–20 % der Patienten. Die Ergebnisse einer placebokontrollierten Langzeitstudie stehen hierzu allerdings noch aus.
Wachstumsfaktoren
Für die nicht lymphatischen Zelllinien sind Wachstumsfaktoren entwickelt worden, die grundsätzlich als Therapie bei MDS eingesetzt werden können: Erythropoetin (EPO), Granulozyten-Kolonie-stimulierender Faktor (G-CSF) und Thrombopoetin (TPO).
Der Einsatz von EPO ist bei MDS gut untersucht und hat sich bewährt. Ein von der Arbeitsgruppe um Hellström-Lindberg erarbeitete Prognosescore ist nützlich, um abzuschätzen, ob ein Patient wahrscheinlich von der Anwendung von Erythropoetin profitieren wird (Tab. 8). Patienten mit niedrigem Erythropoetinspiegel und geringem Transfusionsbedarf an Erythrozyten weisen eine hohe Ansprechwahrscheinlichkeit auf (74 %), die bei hoher Transfusionspflicht und hohem EPO-Spiegel auf sehr niedrige Werte absinkt (7 %). Interessant ist hier die Zwischengruppe mit einem Scoreergebnis von 1. Diese Patienten sind nicht selten: Sie benötigen eine bereits signifikante Erythrozytengabe pro Monat (>2 Beutel), haben aber noch einen Erythropoetinspiegel von <500 U/l. Obwohl die Ansprechwahrscheinlichkeit von 23 % niedrig erscheint, ist sie verglichen mit anderen Therapieinterventionen bei MDS durchaus beachtlich. Als individuelle Entscheidung ist bei diesen Patienten also eine Therapie mit EPO eine sinnvolle Option. Ob kurzwirksame oder langwirksame (pegylierte) Erythropoetine eingesetzt werden sollen, ist in direktem Vergleich nicht untersucht worden. Die vorhandenen Daten scheinen keine Bevorzugung einer Substanzgruppe zu rechtfertigen. Erythropoetin wird in der Dosis von 40.000–80.000 IE wöchentlich verabreicht. Die niedrigere Dosis wird über 4–6 Wochen gegeben, bei Nichtansprechen wird sie verdoppelt.
Tab. 8
Scoringsystem zur Abschätzung der Ansprechwahrscheinlichkeit auf Erythropoetintherapie bei myelodysplastischen Syndromen
Variable
Wert
Punktzahl
Wert
Punktzahl
Transfusionsbedarf*
<2 U/Monat
0
≥2 U/Monat
1
Serum-EPO-Spiegel*
<500 U/l
0
≥500 U/l
1
*Prätherapeutisch
Eine Zugabe von G-CSF in geringer Dosierung (30 Mio. Einheiten ein- bis zweimal wöchentlich) kann die Ansprechrate erhöhen. In einer retrospektiven Matched-pair-Analyse mit MDS-Patienten gleichen Risikos konnte keine Erhöhung der Leukämieübergangsrate unter EPO und G-CSF nachgewiesen werden. Die Gesamtüberlebenszeit wurde tendenziell eher verbessert (Jadersten et al. 2008).
Granulozyten-Kolonie-stimulierende Faktoren erhöhen auch bei MDS die peripheren Neutrophilenzahlen. Mikroskopisch lassen sich dabei dysplastische Granulozyten (z. B. Pseudo-Pelgerzellen) ebenso wie nicht dysplastische Zellen vermehrt antreffen. Eine prophylaktische G-CSF-Gabe hat sich nicht bewährt. Bei neutropenischen Infektionen ist G-CSF zusätzlich zur kalkulierten Antibiose jedoch sinnvoll, um den Heilungsverlauf zu beschleunigen und schwere septische Verläufe zu verhindern.
Die aktuell verfügbaren Thrombopoetin-Rezeptoragonisten (TPO-RA) weisen keine Homologie zum natürlichen Thrombopoetin auf. Die TPO-RA sind bei Immunthrombozytopenie als Zweitlinientherapie nach Splenektomie zugelassen. Thrombopoetin wirkt am c-mpl-Rezeptor, der nicht nur auf reifen Megakaryozyten, sondern auch auf hämatopoetischen Vorstufen vorhanden ist. Bei myelodysplastischen Syndromen mit niedrigem oder intermediärem Risiko (nach ehemaligem IPSS) konnte unter Verabreichung von Fixdosierungen von 750–1000 μg Romiplostim einmal wöchentlich eine Thrombozytenansprechrate von 36 % gezeigt werden (Giagounidis et al. 2014). Außerdem ließen sich auch wiederholt Erhöhungen der Leukozyten und des Hämoglobinwertes erkennen. Allerdings kann Romiplostim Knochenmarkblasten stimulieren. Dies könnte Leukämieübergänge hervorrufen oder vortäuschen, sodass der Einsatz nur bei sicherem Blastennachweis von <5 % zu Beginn der Behandlung zu rechtfertigen wäre. Die Substanz ist in dieser Indikation jedoch nicht zugelassen. Eltrombopag, ein oraler TPO-RA, hat bei derselben Zielgruppe von MDS-Patienten ebenfalls erstaunlich hohe Ansprechraten gezeigt (Oliva et al. 2012). Der genaue Stellenwert dieser Substanzen wird in weiteren Studien zu ermitteln sein.
Immunsuppression
Die Behandlung von Niedrigrisiko-MDS mit Immunsuppressiva beruht auf dem pathophysiologischen Hintergrund, dass Fehlregulationen von T-Zellen ähnlich der aplastischen Anämie auch bei MDS nachgewiesen werden konnten. Eine zur aplastischen Anämie analoge Therapie mit Antithymozytenglobulin und Cyclosporin A ergab Ansprechraten von etwa 30 % mit Reduktion bis völligem Sistieren der Transfusionspflicht für Erythrozyten, Anstieg der Thrombozytenwerte und langfristiger Normalisierung der Leukozytenwerte. Ähnlich ermutigende Ergebnisse konnten mit dem CD52-Antikörper Alemtuzumab erreicht werden, bei dem durch seine Fähigkeit zur T-Zellsuppression ein ähnlicher therapeutischer Mechanismus postuliert wird. Beide Therapiestrategien sind hämatologischen Zentren mit besonderer Expertise in der Behandlung der aplastischen Anämie und der MDS vorbehalten.
Lenalidomid
Lenalidomid ist ein Abkömmling des Thalidomid (Contergan), das bereits beim multiplen Myelom mit großem Erfolg eingesetzt wird. Der genaue Wirkmechanismus der Substanz ist nicht aufgeklärt. Klinische Studien bei myelodysplastischen Syndromen zeigen, dass die Substanz besonders beim Subtyp der MDS mit interstitieller Deletion am langen Arm von Chromosom 5 eine außerordentlich hohe Ansprechrate aufweist. Die del(5q)-MDS treten häufiger bei Frauen auf, haben oft normale bis erhöhte Thrombozytenwerte und eine makrozytäre Anämie. Sie fallen durch ein charakteristisches Knochenmarkbild mit häufig vermehrten, monolobulär deformierten Megakaryozyten auf. Bei Patienten mit isolierter del(5q) und einem Blastenanteil von <5 % betragen die Ansprechraten (Transfusionsfreiheit und Reduktion der Transfusionsfrequenz) etwa 75 %.In dieser Indikation ist die Substanz im Juni 2013 von der europäischen Arzneimittelbehörde auch zugelassen worden. Der mediane Hämoglobinanstieg beträgt bis zu 6 g/dl. Komplette zytogenetische Remissionen treten regelhaft auf. Die Dauer des medianen Ansprechens beträgt insgesamt etwa zwei Jahre. Patienten mit einer Zusatzaberration sprechen etwa gleich an, bei erhöhtem Blastenanteil bis 10 % und isolierter del(5q) wirkt die Substanz ebenfalls ähnlich gut. Patienten mit komplex-aberranten Chromosomenveränderungen inklusive del(5q) sprechen – wenn überhaupt – nur kurzfristig an und sollten rasch – falls möglich – der kurativen Therapieoption der allogenen Blutstammzellentransplantation zugeführt werden.
Die wesentlichen Nebenwirkungen sind eine dosisabhängige Neutropenie und Thrombozytopenie, die sich insbesondere in den ersten acht Wochen manifestiert. Weitere Nebenwirkungen sind Diarrhoe, Hautausschlag, Muskelkrämpfe und Juckreiz der Haut, die in variabler Ausprägung in einem Teil der Patienten auftreten. Im Gegensatz zu der Therapie bei multiplem Myelom sind thrombotische Komplikationen ungewöhnlich. Eine Prophylaxe wird bei Patienten angeraten, die venöse Thromboembolien in der Vorgeschichte aufweisen. Die optimale therapeutische Dosis beträgt 10 mg täglich für 21 konsekutive Tage alle 28 Tage. Dosisreduktionen bis hin zu 5 mg dreimal pro Woche sind bei Nebenwirkungen möglich.
Patienten ohne del(5q)-Aberration (in der betreffenden Studie überwiegend Erythropoetin-refraktär) zeigen im Gegensatz dazu eine deutlich geringere Ansprechwahrscheinlichkeit. Transfusionsfreiheit und Reduktion der Transfusion bis zu 44 % wurden berichtet, die Ansprechdauer beträgt median etwa neun Monate und die Nebenwirkungsrate ist insgesamt etwa halb so häufig und weniger schwer ausgeprägt als bei del(5q)-Patienten. Qualitativ treten allerdings dieselben Nebenwirkungen auf wie bei del(5q)-Patienten.

Hochrisiko-MDS

Demethylierende Substanzen
Die Methylierung von Genpromotoren führt zur Inaktivierung von nachgelagerten Genabschnitten. Bei MDS und anderen hämatopoetischen Neoplasien betrifft dies unphysiologischerweise Gene, die für die Zellzykluskontrolle, DNA-Reparatur, Differenzierungsinduktion und Apoptose erforderlich sind. Diese Veränderungen können z. T. durch DNA-Methytransferase(DNMT)- und Histondeacetylase(HDAC)-Inhibitoren rückgängig gemacht werden. Am besten untersucht sind die Pyrimidinanaloga 5-Azacytidin und 5-Aza-2’-Deoxycytidin, die anstelle von Cytosin in die DNA eingebaut werden und durch Hemmung der DNMT die Hypermethylierung von Promotorgenen rückgängig machen. Für das Verständnis der Wirksamkeit der Substanzen ist wichtig, dass die Hemmung der DNA-Methylierung ein langsam zunehmender Prozess ist. Daher wird die Wirksamkeit beider Substanzen für umso höher postuliert, je häufiger die Substanzen appliziert wurden.
Azacitidin und Decitabin
Azacitidin oder 5-Azacytidin ist chemisch stark mit Cytarabin und Decitabin verwandt. Eine Studie an über 350 Patienten verglich die Therapie mit Azacitidin randomisiert gegen eine von drei alternativen Therapiemöglichkeiten: bestmögliche supportive Therapie, niedrigdosiertes Cytarabin und intensive Chemotherapie. Bei dieser Studie ergab sich für Azacitidin gegenüber der Gesamtheit der alternativen Therapiemaßnahmen eine signifikante Überlegenheit im Gesamtüberleben (24,4 Monate versus 15 Monate). Die signifikante Überlebensverlängerung konnte nur gegen „best supportive care“ und niedrigdosiertes Cytarabin gezeigt werden. Gegen intensive Chemotherapie ergab sich keine statistische Signifikanz.
In der täglichen Praxis ist die Azacitidintherapie ein wesentlicher Fortschritt in der Therapie fortgeschrittener myelodysplastischer Syndrome. Die Therapie kann ambulant durchgeführt werden, die Akuttoxizitäten sind beherrschbar. Die Ansprechraten sind altersunabhängig und auch bei Patienten >75 Jahren ebenso ausgeprägt wie bei jüngeren Patienten. Nebenwirkungen sind Diarrhoen, Übelkeit und Hautreaktionen an der Einstichstelle. Nach Applikation der siebentägigen Therapie ist mit relevanten Zytopenien zu rechnen, sodass die Patienten regelmäßig ambulant nachuntersucht werden müssen. Die 5-Azacytidintherapie sollte bis zum Progress fortgeführt werden. Im Unterschied zu 5-Azacytidin konnte für das Pyrimidinanalogon 5-Aza-2’-Deoxycitidin (Decitabin) in den bisherigen Studien kein Überlebensvorteil gesichert werden, obwohl nach Decitabin ähnliche hohe Ansprechraten wie nach 5-Azacytidin beschrieben wurden. Von zunehmendem Interesse sind Kombinationstherapien von Azapyrimidinen und anderen Substanzen, wie beispielsweise Lenalidomid oder Vorinostat.
Intensive Chemotherapie
Aggressive Polychemotherapie mit bei AML gebräuchlichen Induktionsprotokollen zielt auf eine Eradikation des myelodysplastischen Zellklons ab. Hauptzielgruppe für eine intensivierte Behandlung sind jüngere Patienten (<70 Jahre) mit Hochrisiko-MDS in gutem Allgemeinzustand. Nach neueren Studien können in diesem selektionierten Krankengut ähnlich hohe Raten kompletter Remissionen (50–75 %) wie bei Patienten mit AML erzielt werden, allerdings ist die Remissionsdauer kürzer (<12 Monate). Als ungünstige Responseparameter wurden Transformation in AML, t-MDS (therapiebezogendes MDS), männliches Geschlecht, hohe Serum-LDH-Spiegel, Fehlen von Auer-Stäbchen und Nachweis von Chromosom-7-Anomalien oder komplexen Aberrationen gesichert. Durch Konsolidierungs- und Erhaltungstherapie lassen sich bei einem Teil der MDS-Patienten lang anhaltende Vollremissionen erreichen.
Allogene Blutstammzellentransplantation
Die allogene Blutstammzellentransplantation gilt weiterhin als einzige kurative Option für Patienten mit fortgeschrittenem MDS. Das krankheitsfreie Überleben nach vier Jahren beträgt allerdings insgesamt nur etwa 36 %. Diese Optionen ist immer dann interessant, wenn der Patient ausdrücklich eine kurativ intendierte Therapie wünscht. Dies dürfte somit vor allem für Patienten unter 65 Jahren der Fall sein. Allerdings befinden sich durch neuartige reduzierte Konditionierungsprotokolle und verbesserte supportive Maßnahmen die Altersgrenzen für allogene Transplantationen in einem kontinuierlichen Aufwärtstrend. Eine individuelle Rücksprache mit einem allogenen Transplantationszentrum ist daher generell zu empfehlen.
Literatur
Giagounidis A, Mufti GJ, Fenaux P, Sekeres MA, Szer J, Platzbecker U, Kuendgen A, Gaidano G, Wiktor-Jedrzejczak W, Hu K, Woodard P, Yang AS, Kantarjian HM (2014) Results of a randomized, double-blind study of romiplostim versus placebo in patients with low/intermediate-1-risk myelodysplastic syndrome and thrombocytopenia. Cancer 120(12):1838–46PubMedCentralCrossRefPubMed
Jadersten M, Malcovati L, Dybedal I, Della Porta MG, Invernizzi R, Montgomery SM, Pascutto C, Porwit A, Cazzola M, Hellstrom-Lindberg E (2008) Erythropoietin and granulocyte-colony stimulating factor treatment associated with improved survival in myelodysplastic syndrome. J Clin Oncol 26:3607–3613CrossRefPubMed
Oliva EN, Santini V, Zini G et al. (2012) Efficacy and Safety of Eltrombopag for the Treatment of Thrombocytopenia of Low and Intermediate-1 IPSS Risk Myelodysplastic Syndromes: Interim Analysis of a Prospective, Randomized, Single-Blind, Placebo-Controlled Trial (EQoL-MDS). ASH Annual Meeting Abstracts 120:923