Jede verzögerte Knochenbruchheilung muss als Komplikation und damit als unerwünschter Verlauf der Therapie einer Knochenbruchbehandlung gesehen werden. Daher erfordert die Therapie eine strukturierte und konzentrierte Herangehensweise, um dafür zu sorgen, dass die ergriffene Therapie nicht ebenso scheitert wie der erste Versuch. So erfordert die Pseudarthrosebehandlung zunächst eine umfangreiche und umfassende Analyse der Ursache der ausgebliebenden Knochenbruchheilung. Das von Giannoudis et al. publizierte Diamond-Konzept
kann als Checkliste herangezogen werden, um die wichtigsten Punkte zu überprüfen (Giannoudis et al.
2007,
2008). Für eine erfolgreiche Knochenbruchheilung
sind demnach folgende Aspekte erforderlich:
-
Mechanische Stabilität
-
Biologie im Sinne von Vaskularität, Wachstumsfaktoren und viablen Knochenzellen
-
Matrixstrukturen, in die Knochenzellen einwachsen können
-
Abwesenheit von Infekten (vgl. Infektpseudarthrose!)
Diese Punkte sind Schritt für Schritt bei jedem Patienten abzuklären und die Ursache der ausbleibenden Heilung eindeutig festzulegen. Dann kann ein alternatives Konzept erarbeitet werden. Wenn eine bestimmte Therapie, wie beispielsweise eine Operation mit einem Implantat, nicht funktioniert hat, ist es nicht empfehlenswert, die gleiche Operation zu wiederholen, ohne die Ursache des Versagens geklärt zu haben.
Mechanische Stabilität
Eine der wesentlichen biologischen Funktionen des Knochens ist das Tragen von Last. Liegt eine Fraktur vor, kann der Knochen diese Funktion nicht aufrechterhalten. Grundlagenforschung der vergangenen Jahrzehnte hat gezeigt, dass es für die Umwandlung der Zellen im Frakturspalt ein klar definiertes Spektrum der mechanischen Bewegung und der daraus resultierenden Bildung von entweder Knochenstrukturen oder Pseudarthrosezellen gibt. Liegen die Mikrobewegungen unterhalb von ca. 100 μm, ist die Umwandlung der mesenchymalen Zellen in Knochenzellen verlangsamt, liegen die Bewegungen über 300 μm bilden sich weiche Kalluszellen bei ausbleibender Verknöcherung.
Das Ziel der unfallchirurgischen Versorgung sollte daher sein, zum einen durch die Reposition den Abstand der Knochenenden so gering wie möglich zu gestalten und zum anderen durch die Implantation von Osteosynthesematerial die Knochenenden so zu stabilisieren, dass ein optimales Mikrobewegungsmuster entsteht. Dieses Bewegungsmuster
führt mittels Mechanotransduktion eine funktionelle Antwort im Knochen herbei (Duncan und Turner
1995), die in eine Zellantwort mittels Aktivierung von „immediate early genes“ und Signaltransduktionsmolekülen umgesetzt wird (Kawata und Mikuni-Takagaki
1998). So führt Scherstress im Frakturbereich zu einer verzögerten Heilung (Augat et al.
2003). Dies hängt zum Teil mit der lokalen Vaskularisierung
und Gewebedifferenzierung in Abhängigkeit der mechanischen Stabilität zusammen (Claes et al.
2002). Eine zeitlich begrenzte Distraktion und Kompression hingegen beschleunigen die Knochenheilung (Claes et al.
2008).
Die Möglichkeiten einer direkten Stabilitätsüberprüfung sind derzeit noch begrenzt. Daher erfolgt die Stabilisierung entsprechend der empirisch ermittelten Technologien, um die oben genannten Stabilitätskriterien zu erreichen. Im Falle einer Pseudarthrose ist daher kritisch zu prüfen, ob die Ursache gegebenenfalls in der mechanischen Stabilisierung liegt und diese entweder zu steif oder zu locker sein könnte. Um die Stabilität bei ausbleibender Knochenbruchheilung zu beurteilen, sollte nicht nur die Analyse des Frakturspalts erfolgen. Sehr hilfreich kann auch die Betrachtung der indirekten Lockerungszeichen der Implantate sein. Wenn sich in den radiologischen Kontrollen keine ausreichende Bruchheilung einstellt, gleichzeitig aber deutliche Lockerungszeichen entlang des liegenden Implantats zu finden sind, ist von einer Instabilitätspseudarthrose auszugehen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft nicht durchbauen wird. Finden sich im Gegensatz dazu bei ausbleibender Knochenbruchheilung fixierte Implantate, ist die Option des Abwartens ernsthaft zu überlegen.
Biologie
Die einzelnen Schritte der Knochenbruchheilung erfordern eine ausreichende Vaskularität
der Umgebung der Fraktur. Auch wenn in dem Frakturhämatom zunächst keine Gefäße vorhanden sind, wandeln sich die dort enthaltenen Zellen auch ohne Durchblutung langsam in Kalluszellen um. Dieser Prozess erfordert eine ausreichende Versorgung mit Sauerstoff
und Nährstoffen. Die Diffusionsstrecke beträgt lediglich 200 μm. Daher kann man in einzubauenden Matrizes zum Beispiel einen Sauerstoffgradienten sehen (Wolff et al.
2019), der wichtig für die Knochenheilung ist. Außerdem gibt es im Frakturhämatom ein immunologisches Milieu, dessen Zusammensetzung abhängig von den Begleitverletzungen (vgl.
Polytrauma) ist (Horst et al.
2015).
Daraus resultiert in der Ursachenanalyse einer Pseudarthrose
das systematische Abfragen vaskulärer Risikofaktoren, wie zum Beispiel
Diabetes oder Nikotinabusus. Im letzteren Fall ist die Indikation zur Revision gegebenenfalls von der Bereitschaft des Patienten abhängig zu machen, dass dieser zumindest für die Phase der initialen Knochenbruchheilung von ca. 3 Monaten abstinent bleibt. Seltenere Ursachen sind:
Leberzirrhose,
Kortikosteroide oder
Immunsuppressiva, Chemotherapie, Bestrahlungstherapie, Lymphknotenresektion im Abflussgebiet, sämtliche Formen der psychosomatischen
Essstörungen, etc. Sollte sich ein Risikofaktor finden, der gegebenenfalls zu ändern ist, empfiehlt es sich zunächst, dieses Thema mit dem Patienten zu lösen, da bei gleichbleibenden schlechten biologischen Bedingungen nicht davon auszugehen ist, dass es zu einer suffizienten Knochenbruchheilung kommen wird.
Häufig liegen gerade bei Frakturen der unteren Extremitäten relevante Störungen der Haut vor. So führt eine gerade noch über dem Knochen liegende, residual verheilte Hautwunde nicht immer zu einer ausreichenden Versorgungsstruktur, um eine Knochenbruchheilung zu ermöglichen. Liegen daher derartig instabile Wundverhältnisse vor, ist frühzeitig an plastische Verfahren (z. B. Lappenplastiken) zu denken. Es ist bekannt, dass eine gute Weichteilabdeckung vor allem mit Muskelgewebe essenziell für die Frakturheilung ist (Schmidhammer et al.
2006; Shah et al.
2013).
Wichtig im Bereich der Biologie für die intrinsische Heilung, aber auch für mögliche Therapien, sind die mesenchymalen Stammzellen
. Mesenchymale Stammzellen können über einen chemotaktischen Gradienten in Gewebe migrieren, die verletzt und/oder entzündet sind (Wang et al.
2002). In-vivo-Versuche und erste klinische Anwendungen konnten zeigen, dass mesenchymale Stammzellen sich in unterschiedliche verletzte Gewebe einnisten können und dort in gewebespezifische Zellen differenzieren können. Somit übernehmen sie die verlorengegangenen Zellfunktion (Granero-Molto et al.
2009; Porada und Almeida-Porada
2010).
Neben deren einzigartigen Eigenschaft, in unterschiedliche Zelltypen differenzieren zu können, sezernieren mesenchymale Stammzellen auch ein Panel an
Zytokinen mit antiinflammatorischen und anabolen Wirkungen (Porada und Almeida-Porada
2010). Außerdem haben sie immunmodulatorische Möglichkeiten (Beyth et al.
2005; Krampera et al.
2003; Kronsteiner et al.
2011; Potian et al.
2003).
Daher spielen mesenchymale Stammzellen
in mehreren Aspekten eine wichtige Rolle für die Knochenregeneration:
-
Direkte Differenzierung in gewebespezifische Zellen, um als Ersatz zu dienen
-
Sekretion von löslichen Faktoren, die antiinflammatorisch oder anabol wirken
-
Direkte Immunmodulation
Diese Funktionen führen zu einer Anregung der Vaskularisierung, Zellproliferation, Zelldifferenzierung und „Bereinigung“ des entzündeten Areals.
Erste klinische Anwendungen konnten zeigen, dass allogene mesenchymale Stammzellen aus dem Fettgewebe erfolgreich in 3 Pseudarthrosen (zweimal kongenital, einmal erworben) zusammen mit demineralisiertem Knochenmatrix implantiert werden konnten (Dufrane et al.
2015). Mesenchymale Stammzellen aus dem
Knochenmark wurden erfolgreich bei 3 Patienten mit Femurpseudarthrose, 3 Patienten mit Tibiapseudarthrose und einem Patienten mit Ulnapseudarthrose angewandt (Fernandez-Bances et al.
2013). Ähnlich gute Ergebnisse wurden mit dieser Art mesenchymaler Stammzellen in Pseudarthrosen der oberen Extremität erzielt (Giannotti et al.
2013a,
b). Eine weitere Möglichkeit besteht darin, die mesenchymalen Stammzellen aus dem Knochenmark in der Docking-Site nach Distraktionsosteogenese einzusetzen (Kitoh et al.
2007).
Abschließend muss angemerkt werden, dass die Biologie sich mit steigendem Alter
verschlechtert. Die Zellen werden inaktiver und zum Teil auch weniger in der Anzahl. Außerdem gibt es „immunoageing“, was wiederum einen Einfluss auf die Frakturheilung hat (Vester et al.
2014). Die Interaktionen dieser Zellsysteme, einschließlich mesenchymale Stammzellen und Immunzellen, sind wichtig für die Knochenheilung und funktionieren schlechter während des Alterns (Gibon et al.
2016). So ist bekannt, dass periostale Vorläuferzellen von alten Patienten einen verringertes osteogenetisches Potenzial haben und kaum auf eine anabole Behandlung mit
Parathormon (PTH) reagieren (Yukata et al.
2014).
Matrix
Knochen selbst ist immer noch die beste Matrix und wenn sie autolog benutzt wird, enthält sie auch die erforderlichen Vorläuferzellen. Daher werden bei der Behandlung häufig Knochentransplantationen angewendet, um den vorhandenen Spalt wieder aufzufüllen und die Knochenheilung zu stimulieren. Die osteogenen Eigenschaften des Knochentransplantats können von den Transplantatentnahmetechniken und Transplantatpräparation beeinträchtigt werden, sodass eine Osteonekrose im Anschluss auftreten könnte. Daher müssen die Transplantate vorsichtig entnommen werden und lege artis implantiert werden.
Autologe Knochentransplantate beinhalten außerdem Wachstumsfaktoren
(Schmidmaier et al.
2006), wie „bone morphogenetic protein-2“ und -4 (BMP-2 and BMP-4), „fibroblast growth factor“ (FGF), „vascular endothelial growth factor“ (VEGF), „platelet-derived growth factor“ (PDGF) und „insulin-like growth factor I“ (IGF-I).
145.775 Knochentransplantationen
wurden 2003 in Europa vorgenommen. Die sozioökonomischen Auswirkungen von Pseudarthrosen beliefen sich auf 14,7 Mrd. Euro in 2008 (Schmidmaier et al.
2008). Das Knochenmaterial ist jedoch nur spärlich vorhanden, daher wird häufig auf synthetische Knochenmaterialien zurückgegriffen. Die 3D-Struktur des Transplantats bestimmt die osteokonduktiven Eigenschaften mit. Dies bestimmt wiederum die Geschwindigkeit der Knochenintegration (Pape et al.
2010). So werden Spongiosatransplantate wegen der porösen Struktur normalerweise viel schneller mit neuem Knochen inkorporiert als kortikale Transplantate (Burchardt
1987). Diese Kombination von biologischen und mechanischen Eigenschaften zeigt den Vorteil autologer Transplantate im Vergleich zu synthetischen Knochenersatzmaterialien. Die Umwandlung von mesenchymalen Zellen
, die mit dem Frakturhämatom zwischen die Knochenenden eingeschwemmt werden, in Kalluszellen, die später zu Knochenzellen werden, erfordert eine Matrix für diese Zellen, in der sie eingebettet sind. Weist diese Matrix eine bestimmte Porengröße (üblicherweise zwischen 100–300 μm) auf, ist das Einwachsen von Knochenzellen deutlich gefördert. Die Biomaterialien haben auch einen Einfluss auf die Mechanotransduktion in den Zellen und auf die mechanische Stabilität
per se (McMurray et al.
2015).
Erfolgt der Zellentransfer, wie zum Beispiel bei der Stammzelltherapie, ist unbedingt darauf zu achten, dass diese nur funktionieren kann, wenn eine ausreichende Matrix vorhanden ist, die die Knochenzellen anfangs stützt. Ansonsten werden sämtliche zelluläre Transplantate rasch resorbiert. Für die Implantation von künstlichen Knochenersatzmaterialien bedeutet dies, dass der Bereitstellung einer ausreichenden Matrix die größte Bedeutung zukommt.
In der Forschung werden auch Möglichkeiten untersucht, wie die Vaskularisierung
beschleunigt werden kann. Einerseits gibt es Ansätze „prävaskularisierte“ Matrizes einzusetzen (Burgkart et al.
2014). Andererseits gibt es den Einsatz von Wachstumsfaktoren
für die Angiogenese, wie zum Beispiel VEGF (Dai und Rabie
2007; Li et al.
2012; Peng et al.
2002; Tarkka et al.
2003). Allerdings scheint dies nicht immer nötig zu sein, wenn Wachstumsfaktoren für die Knochenheilung, wie BMP-2, ausreichend vorliegen und zum Teil eine Angiogenese induzieren, wenn es in der richtigen Matrix eingebracht wird (Kaipel et al.
2012). Ein ähnlicher Effekt wurde mit einem ganz neuen, innovativen Ansatz gezeigt, wobei modifizierte
mRNA für BMP-2 in einer Kollagenmatrix einen „Critical size“-Defekt überbrücken konnte. Dabei wurde ebenfalls eine vermehrte Vaskularisierung
beobachtet (Balmayor et al.
2017; Zhang et al.
2018).