Allgemeines zur Sturzprävention
Die Studienlage zur Sturzprävention ist deutlich besser als in vielen anderen Behandlungsbereichen älterer Menschen. Sturzprävention im häuslichen Bereich ist dabei separat von Sturzprävention in Krankenhäusern, Rehabilitationseinrichtungen und Pflegeeinrichtungen zu betrachten
Zu Hause lebende ältere Menschen profitieren von spezifischen Interventionen. Sowohl multifaktorielle Interventionen als auch reine Trainingsinterventionen können hier das Risiko und die Häufigkeit von Stürzen reduzieren (Hopewell et al.
2018; Sherrington et al.
2020). Multifaktorielle Interventionen können die Zahl von Stürzen um 23 % und sturzbedingten Frakturen um 27 % reduzieren, indem das individuelle Risikoprofil berücksichtigt und entsprechende Maßnahmen ergriffen werden. Bei Interventionen, die das Training mit einer weiteren Komponente, unabhängig vom Risikoprofil, kombinieren, kann die Sturzrate um 26 % verringert werden.
Multifaktorielle Interventionen adressieren die im multifaktoriellen Assessment identifizierten Risiken. Die möglichen Interventionen sind teilweise als singuläre Interventionen untersucht.
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Umweltanpassungen: Maßnahmen, die darauf abzielen, umweltbedingte Risikofaktoren zu reduzieren (z. B. Beseitigung von Stolperfallen oder Anpassung der Wohnumgebung), um die Sturzgefahr zu senken, scheinen nur bei jenen älteren Menschen wirksam zu sein, die ein erhöhtes Sturzrisiko aufweisen (Clemson et al.
2023). Die Übertragbarkeit internationaler Studienergebnisse auf die deutsche Versorgungssituation ist dadurch begrenzt, dass die geschulte Wohnraumberatung durch Fachkräfte kaum verfügbar ist. Darüber hinaus ist bekannt, dass die Akzeptanz für Wohnraumanpassungen und das Anbringen von Hilfsmitteln wie Rampen und Handläufen schlecht ist.
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Medikamentenüberprüfung: Die Einnahme bestimmter Arzneistoffe kann das Sturzrisiko relevant erhöhen (sog. Fall-risk inducing drugs, FRIDS) (Tab.
2). Insbesondere psychotrope Medikamente, wie
Antidepressiva,
Antipsychotika,
Benzodiazepine und den Benzodiazepinen verwandte Substanzen (z. B.
Zolpidem), erhöhen das Sturzrisiko. Verantwortlich für ihren Einfluss auf das Sturzrisiko ist ihre Wirkung auf Aufmerksamkeit, Handlungsplanung, Muskeltonus und Kreislaufregulation. Weniger eindeutig ist die Datenlage zum Zusammenhang zwischen blutdrucksenkenden Herz-Kreislauf-Medikamenten und Stürzen. Problematisch sind jedoch
Diuretika, zentralnervös wirksame
Antihypertensiva und Vasodilatatoren. Dabei unterscheiden sich einzelne Arzneistoffe innerhalb dieser Wirkstoffklassen hinsichtlich der mit ihrer Einnahme verbundenen Risikoerhöhung. Ein Instrument zum Deprescribing von FRIDs wurde von einer europäischen Expertengruppe entwickelt (Seppala et al.
2021). Online findet sich ein nützliches Instrument, welches in der Entscheidungsfindung unterstützen kann (
https://kik.amc.nl/falls/decision-tree/). Eine Anpassung der Medikation im Sinne eines Deprescribing von FRIDs sollte jedoch stets in ein multimodales Konzept zur Sturzprävention integriert werden (Seppala et al.
2022).
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Bei Hinweisen auf eine Sehbeeinträchtigung ist es sinnvoll, eine augenärztliche Untersuchung zu veranlassen. Die Interventionsstudien zur Visusberatung zeigen allerdings, dass diese nicht trivial ist, da insbesondere Gleitsichtbrillen und Bifokalbrillen das Sturzrisiko im außerhäuslichen Bereich erhöhen können (Haran et al.
2010). Es ist aber sinnvoll, behandelbare Ursachen wie einen Katarakt zeitnah anzugehen (Harwood
2005).
Tab. 2
Fall-risk inducing drugs. (Nach Seppala et al.
2021)
- Benzodiazepine |
- Benzodiazepin-verwandte Substanzen |
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- Antidepressiva |
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- Antikonvulsiva |
- Diuretika |
- Alphablocker zur Blutdrucksenkung |
- Alphablocker zur Behandlung der Prostatahyperplasie |
- Zentralnervös wirksame Antihypertensiva |
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- Vasodilatatoren zur Behandlung kardialer Erkrankungen |
- Arzneistoffe zur Behandlung der Urgeinkontinenz |
Training als alleinige Maßnahme zur Prävention von Stürzen zeigt ähnlich gute Wirkungen wie multifaktorielle Interventionen. Es können durch ein gezieltes Training über 20 % der Stürze vermieden werden. Das Training eignet sich auch dazu, die Anzahl der Menschen, die einen oder mehrere schwere Stürze erleiden, um 39 % zu reduzieren. Trainingsinterventionen sind dann besonders effektiv, wenn sie eine Verbesserung des Gleichgewichts anstreben und in Form von progressivem Gleichgewichts- und Funktionstraining, alltagsintegrierten Übungen oder auch als Tai Chi vermittelt werden. Gleichgewichtstraining beinhaltet das gezielte Verlagern des Körpergewichts von einem Körperteil auf einen anderen oder intendiert das Wiedererlernen bestimmter Aspekte des Gleichgewichtssystems (z. B. des vestibulären Systems). Die Inhalte eines Gleichgewichtstrainings sind sehr vielfältig. Sie umfassen die Wiedererlangung grundlegender funktioneller Bewegungsmuster sowie die Verbesserung einer Vielzahl dynamischer Aktivitäten. Neben dem Gleichgewichtstraining sollte zumindest initial ein begleitendes Krafttraining durchgeführt werden, um die funktionellen Alltagsleistungen zu verbessern und das Risiko für Stürze zu reduzieren (Jansen et al.
2021). Ein alleiniges Krafttraining ist jedoch nicht ausreichend, um das Sturzrisiko relevant zu mindern. Auch ein Ausdauertraining, Spazierengehen und Dehnübungen sind alleine nicht geeignet, um die Sturzrate und das Sturzrisiko zu reduzieren.
Um langfristig vor Stürzen geschützt zu sein, ist ein fortgesetztes Training erforderlich. Ohne dieses Training gehen die erzielten Verbesserungen von Kraft und Balance wieder verloren und das Sturzrisiko steigt erneut an (Sherrington und Henschke
2013). Es dauert mindestens drei Monate, bis sich Trainingseffekte zeigen. Das Training sollte mindestens zweimal wöchentlich über 50 min durchgeführt werden. Dabei können die Trainingsinterventionen in Gruppen oder zu Hause durchgeführt werden. Die Ergänzung eines Gruppentrainings durch zusätzliches Eigentraining ist eine häufig angewandte Strategie, um die erforderliche Trainingsdosis zu erreichen. Das bekannteste Beispiel ist das Otago-Trainingsprogramm (Campbell et al.
1999). Die Durchführung erfolgt im Rahmen einer physiotherapeutischen Einzelverordnung oder in Gruppen, die durch Verbände oder Vereine (wie z. B. vom Deutschen Roten Kreuz oder vom Deutschen Turnerbund) angeboten werden.
Manche ältere Menschen ziehen ein Training zu Hause einer Teilnahme an Trainingsgruppen vor (Yardley et al.
2006). Diesen Vorlieben älterer Menschen kann durch ein alltagsintegriertes Training begegnet werden. Bei diesem Ansatz werden Bewegungen zur Verbesserung des Gleichgewichts und zur Steigerung der Kraft in alltägliche Aktivitäten eingebettet, sodass die Bewegungen mehrmals am Tag ausgeführt werden können. Statt einer vorgeschriebenen Reihe von Übungen, die mehrmals pro Woche durchgeführt werden, findet dieses Training dann statt, wann immer sich die Gelegenheit dazu ergibt (Clemson et al.
2012). Mit einem solchen alltagsintegrierten Training kann das Sturzrisiko vergleichbar gut gesenkt werden wie mit einem in einer Gruppe durchgeführten Sturzpräventionstraining. Bei Trainingsinterventionen besteht höchstwahrscheinlich nur ein geringfügiger oder gar kein Unterschied in der Wirkung auf die Sturzrate, ob gezielt Menschen mit einem erhöhten Sturzrisiko oder ältere Menschen ganz allgemein, unabhängig von deren Sturzrisiko, angesprochen werden.
Ein neues vielversprechendes Konzept ist es, ältere Menschen aktiv aus dem Gleichgewicht zu bringen, um deren reaktive Balance zu trainieren (McCrum et al.
2022). Hierfür wurden in Studien unterschiedliche „Perturbations-Paradigmen“ eingesetzt. Beispiele sind Platten auf einem Laufsteg, die sich lösen lassen, oder Laufbänder, die sich in verschiedene Richtungen beschleunigen lassen. Da die Menschen an und über die Grenze ihrer Balance gebracht werden sollen, ist es erforderlich, dass eine gute Sicherung über ein Gurtsystem besteht. Studien zeigen, dass eine Reduktion des Sturzrisikos bereits nach einer geringen Trainingsfrequenz einzutreten scheint (Devasahayam et al.
2022). Aus diesem Grund könnte die Perturbation, trotz des relativ hohen technischen Aufwands, in Zukunft eine wichtige Rolle spielen.