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Orthopädie und Unfallchirurgie
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Publiziert am: 13.05.2021

Kindesmisshandlung

Verfasst von: Monika Luxl
Das Battered-Child-Syndrom wurde bereits 1860 von Ambroise Tardieu als eine Folge von Quälerei und Misshandlung beschrieben, die auf Kinder durch Eltern oder andere Bezugspersonen ausgeübt werden. Definiert wird das Battered-Child-Syndrom als nicht unfallbedingte, sondern gewaltsame, körperliche oder seelische Schädigung eines Kindes durch aktives verletzendes Verhalten oder durch unterlassenen Schutz durch eine erwachsene Betreuungsperson. Hinsichtlich der Terminologie empfehlen Hermann et al. anstelle von „battered child“ die Begriffe nichtakzidentelle Verletzung („non accidental injury“, NAI) oder Misshandlungsverletzung („abusive injury“ oder „inflicted injury“) zu verwenden. Der Begriff des „battered child“ skizziere eine umschriebene Befundkonstellation, die dem heutigen Spektrum misshandlungsbedingter Befunde nicht mehr gerecht würde.

Einleitung

Definition und Terminologie

Das Battered-Child-Syndrom wurde bereits 1860 von Ambroise Tardieu als eine Folge von Quälerei und Misshandlung beschrieben, die auf Kinder durch Eltern oder andere Bezugspersonen ausgeübt werden. Definiert wird das Battered-Child-Syndrom als nicht unfallbedingte, sondern gewaltsame, körperliche oder seelische Schädigung eines Kindes durch aktives verletzendes Verhalten oder durch unterlassenen Schutz durch eine erwachsene Betreuungsperson.
Hinsichtlich der Terminologie empfehlen Hermann et al. (2010) anstelle von „battered child“ die Begriffe nichtakzidentelle Verletzung („non accidental injury“, NAI) oder Misshandlungsverletzung („abusive injury“ oder „inflicted injury“) zu verwenden. Der Begriff des „battered child“ skizziere eine umschriebene Befundkonstellation, die dem heutigen Spektrum misshandlungsbedingter Befunde nicht mehr gerecht würde (Herrmann und Eydam 2010).

Formen der Kindesmisshandlungen

  • Körperliche Misshandlung
  • Sexueller Missbrauch
  • Psychische oder emotionale Misshandlung
  • Vernachlässigung
  • Münchhausen-by-Proxy-Syndrom
Häufig liegen mehrere Formen der Kindesmisshandlung gleichzeitig vor. Jede körperliche Misshandlung oder jeder sexuelle Missbrauch bedeutet auch eine psychische Misshandlung des Kindes.
Körperliche Befunde sind meist der Ausgangspunkt des Verdachtes auf Kindesmisshandlung. Fachgerechte und wissenschaftlich abgesicherte Befunderhebung, Interpretation, Diagnose und Differenzialdiagnosen können weitreichende Folgen haben, weshalb der Erstbegutachtung ein essenzieller Stellenwert zukommt.

Klinik

Anamnese

Mögliche Hinweise auf eine Kindesmisshandlung finden sich oft bereits in der Anamnese. Als Voraussetzung für die Beurteilung einer möglichen Diskrepanz zwischen der angegebenen Unfallursache und dem klinischen Befund sind fundierte theoretische Grundlagen sowie praktische klinische Erfahrung mit typischen Unfallmechanismen erforderlich. Wenn die angegebene Unfallursache und die Verletzungsfolgen nicht plausibel sind, muss dem nachgegangen werden, ebenso einem wechselnd oder widersprüchlich vorgebrachten Unfallhergang.
Bei Unfällen gibt es nahezu immer eine Erklärung des Unfallgeschehens, bei Misshandlungen fehlt sie in 40 % der Fälle (Alexander et al. 2001).
Zu hinterfragen ist immer, wann der angegebene Unfall passiert ist und ob diese Angaben mit dem erhobenen somatischen Befund korrelieren. Zeitferne Erstvorstellungen gelten immer als verdächtig, besonders bei schweren Verletzungen, da normalerweise eher unverzüglich medizinische Hilfe in Anspruch genommen wird. Als fragwürdig sind auch Erklärungen einzustufen, wenn als Unfallmechanismus Verletzungen durch Geschwisterkinder oder gar durch das Kind selbst angegeben werden. Häufig wird auch die Geschichte vom tollpatschigen Kind genannt, das ständig stürzt. Hinweisen von Dritten muss nachgegangen werden, und ernst zu nehmen sind immer Angaben des Kindes selbst.
Mögliche Hinweise auf eine Kindesmisshandlung
  • Fehlende, vage, unklare, wechselnde Erklärungsmuster
  • Inadäquater Unfallmechanismus
  • Verzögertes Aufsuchen medizinischer Hilfe
  • Schwere Verletzungen angeblich durch das Kind selbst oder Geschwister zugefügt
  • Entdecken zusätzlicher, zuvor nicht angegebener Verletzungen
  • Rezidivierende unklare Verletzungen mit gehäuftem Wechsel der medizinischen Betreuung
  • Hinweise von Dritten oder dem Kind selbst
Zu einer detaillierten Anamnese gehören neben der Erhebung der aktuellen Verletzung und deren Ursachen auch eine Befragung der medizinischen Vorgeschichte wie beispielsweise nach früheren Verletzungen und Erkrankungen, Störungen im Wachstum oder in der Entwicklung, chronische Erkrankungen und Behinderungen. Auch das fehlende Wahrnehmen von Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt und nicht durchgeführte Impfungen können Hinweise geben.
Ja nach vorliegendem Befund muss nach Blutgerinnungsstörungen oder Knochenerkrankungen in der Familie gezielt gefragt werden.
Von großer Bedeutung ist auch die Verhaltens-, Sozial- und Entwicklungsanamnese (Tab. 1). Befindet sich die Familie in einer chronischen Stress- oder Krisensituation? Handelt es sich um ein „schwieriges Kind“? Ist die Eltern-Kind-Beziehung belastet? Gibt es Hinweise auf Überforderung oder Erschöpfung der Eltern?
Tab. 1
Risikofaktoren für Kindesmisshandlung
Kindliche Risikofaktoren
Elterliche Risikofaktoren
• Kränkelndes Kind
• Kind mit Behinderung/Gedeihstörung
• Schreibaby
• Hyperaktivität, Einnässen
• Erstgeborenes Kind
• Kurz aufeinanderfolgende Schwangerschaften
• Frühgeborenes Kind
• Junge Eltern
• Erfahrung mit Gewalt oder Vernachlässigung in der Kindheit
• Psychische oder psychiatrische Erkrankungen, Sucht
• Beziehungs- oder Partnerkonflikte
• Unerwünschte Schwangerschaft
• Übertriebene, unrealistisch hohe Erwartungen an das Kind
• Akute und chronische Belastungen der Familie

Klinischer Befund

Die Untersuchung des verletzten Kindes erfolgt prinzipiell als Ganzkörperuntersuchung. Bei einvernehmlicher Atmosphäre kann und soll die Untersuchung immer im Beisein eines Elternteils durchgeführt werden. Besonders bei kleinen Kindern kann dadurch eine neuerliche Traumatisierung vermieden werden.
Bei größeren Kindern ist es wichtig, jeden Untersuchungsschritt zu erklären und gleichzeitig dem Kind auch zu versichern, was alles in Ordnung ist. Dieses Vorgehen ist für das Kind nicht nur beruhigend, sondern schafft auch eine gute Vertrauensbasis. Direkte Fragen (War Mama/Papa das?) sind in der Akutsituation zu vermeiden.
Besonderes Augenmerk bei der klinischen Untersuchung sollte auf versteckte Prädilektionsstellen gelegt werden. Dazu gehören das Frenulum der Lippen und Zunge, die Schleimhaut der Lippen und Wangen, Zähne sowie die Ohren. Ebenso müssen Verletzungen im Anogenitalbereich und am Gesäß ausgeschlossen werden; besonders bei Kindern, die noch Windeln tragen, werden diese oft übersehen.

Dokumentation

Jede gefundene Verletzung muss dokumentiert werden. Eine detaillierte Beschreibung hinsichtlich Lokalisation, Größe, Farbe und Form sollte erfolgen. Hilfreich ist die Dokumentation in Form eines Untersuchungsbogens, mittlerweile gehört jedoch eine Fotodokumentation zum Standard jeder Abklärung bei Verdacht auf Kindesmisshandlung. Für eine gerichtlich verwertbare Dokumentation muss anhand der Fotos eine Identifikation des Kindes (Ganzkörperaufnahme mit Gesicht) möglich sein. Die Lokalisation (Übersichtsaufnahme) und Größe und Farbe der Verletzung (Detailaufnahme mit Maßstab) müssen erkennbar sein.
Dokumentiert werden müssen auch Umstände und Art der Vorstellung sowie Äußerungen und Verhalten der Beteiligten (Begleitperson und Kind!). Neben Beschreibungen empfiehlt es sich auch, alle Aussagen in Zitatform niederzuschreiben.

Bildgebung

Bei Kindern unter 3 Jahren ist das Röntgen-Skelettscreening (Tab. 2) die Methode der 1. Wahl und hat die Skelettszintigrafie auch international verdrängt. Neben der erhöhten Strahlenbelastung und der für die Untersuchung bei Kleinkindern notwendigen Narkose bietet die Knochenszintigrafie als einen einzigen Vorteil eine gute Darstellung von frischen Rippenfrakturen, die im Röntgen oft nicht sichtbar sind.
Tab. 2
Röntgen-Skelettscreening
1 Ebene1
2 Ebenen
• Beide Arme und Beine a.p.
• Hände und Füße p.a
• Thorax a.p.2
• Beckenübersicht a.p.3
• Schädel
• Wirbelsäule3
1Gefundene Frakturen im 2-Ebenen-Röntgen
2Ergänzende Schrägaufnahmen, wenn keine Frakturen sichtbar sind
3Nur dann, wenn eine oder mehrere Frakturen nachgewiesen werden
Im Skelettscreening sollen Thorax, Becken und alle Extremitäten in einer Ebene, dabei entdeckte Frakturen, Schädel und Wirbelsäule in 2 Ebenen dargestellt werden. Ein Babygramm ist aufgrund seiner unscharfen Darstellung der Metaphysen und seiner Verzerrungsartefakte mittlerweile obsolet.
Ein standarisiertes Röntgen-Skelettscreening zum Nachweis okkulter Frakturen soll bei allen Kindern <24 Monaten durchgeführt werden, falls der begründete Verdacht auf eine körperliche Misshandlung besteht oder eine körperliche Misshandlung vorliegt; hierzu zählen insbesondere Kinder mit misshandlungsbedingten thermischen Verletzungen, Kinder mit nachgewiesener misshandlungsbedingter Fraktur und Kinder mit misshandlungsbedingtem Schädel-Hirn-Trauma.
Bei Kopfverletzungen und neurologisch auffälligem Kind ist eine zerebrale Computertomografie durchzuführen. Bei positivem Befund empfiehlt sich eine Kernspintomografie als Verlaufskontrolle bzw. Ergänzung zeitnah und nach 2–3 Monaten. Damit kann zum einen eine neuerliche Strahlenbelastung vermieden werden, zum anderen ist die MRT auch sensitiver. Es kommen hier auch minimale Läsionen des Parenchyms oder schmalste Subduralhämatome zur Darstellung. (klinischer Standard! 1)

Zusätzliche Maßnahmen

Ein essenzieller Bestandteil jeder Diagnostik bei Verdacht auf Misshandlung ist die Fundoskopie aufgrund der hohen Korrelation von retinalen Blutungen mit nichtakzidentellen intrakraniellen Verletzungen. Bei Blutungen an der Netzhaut ist auch beim neurologisch unauffälligen Kind die Durchführung einer Computertomografie indiziert.
Weitere Untersuchungen ergeben sich nach klinischer Indikation bzw. zum Ausschluss von Differenzialdiagnosen, wie beispielsweise eine Sonografie des Abdomens bei vorliegendem Verdacht auf ein stumpfes Bauchtrauma sowie die laborchemische Beurteilung des Knochenstoffwechsels und Erhebung des Gerinnungsstatus.
Tab. 3 gibt einen Überblick über Vorgehen und Diagnostik bei Verdacht auf körperliche Misshandlung.
Tab. 3
Misshandlungsbedingte Frakturen als Indikation für ein Röntgen-Skelettscreening
Rö-SS
Indikation besteht bei
Kinder <18 Monate
Mit mindestens einer
• Rippenfraktur*
• Metaphysären Fraktur der langen Röhrenknochen*
• Humerusfraktur
• Unterarmfraktur
• Femurfraktur
• Unterschenkelfraktur
Kinder bis 48 Monate
• Mit mindestens einer Rippenfraktur
• Mit einer komplexen Schädelfraktur*
Rö-SS
Indikation prüfen bei
Kindern mit
• Schädelfraktur mit intrakranieller Beteiligung (Anamnese!)
• Mehrere Frakturen
• Einer Wirbelsäulenverletzung
• Einer Beckenfraktur
Bei misshandlungsverdächtigen Befunden im Rö-SS → cMRT und Fundoskopie
cMRT, kraniale Magnetresonanztomografie; Rö-SS, Röntgen-Skelettscreening
*Mit cMRT und Fundoskopie

Fassbare Befunde

Haut und Weichteile

Die Haut zeigt bei 90 % der misshandelten Kinder Verletzungsspuren. Das Vorliegen multipler Hämatome muss immer Anlass zu genauer Untersuchung sein. Trotz unterschiedlicher Färbung können diese zur selben Zeit entstanden sein. Ergebnisse neuerer Studien zeigen, dass Hämatome von der Entstehung bis zu ihrer Resorption prinzipiell jede Färbung zeigen können und Resorptionsverläufe an unterschiedlichen Körperstellen und entsprechend unterschiedlichen Hautdicken variieren können (Bariciak et al. 2003). Daher sind Schätzungen bezüglich Alter von Hämatomen aufgrund ihrer Farbe überholt. Es kann allerdings davon ausgegangen werden, dass eine Gelbfärbung frühestens nach 24 Stunden möglich ist.
Viel wichtiger als die Farbe sind Lokalisation und Verteilung der Hämatome (Abb. 1). Von Hämatomen an den typischen akzidentellen Prädilektionsstellen (Stirn, Schläfe, Nase, Kinn, Hüfte, Becken, Knie und Kniescheibe, Schienbeine, Ellbogen und Handflächen) bei Kindern im Krabbel- und Lauflernalter sind Verletzungen an untypischen Stellen zu differenzieren. Hämatome an Wange, Ohren, Hals und Nacken, Rumpf, Gesäß sowie an den Beinen beugeseitig sind hochverdächtig auf eine Misshandlung (Abb. 2)
Der Entstehungsmechanismus von symmetrischen Blutergüssen und von geformten Abdrücken (Doppelkontur nach Stockschlägen und Schlägen mit einem Gürtel, Bissspuren) muss abgeklärt werden. Hochverdächtig sind immer Hämatome bei kleinen, noch nicht mobilen Säuglingen („those who don’t cruise, rarely bruise“) (Sugar et al. 1999).
Differenzialdiagnosen bei Hämatomen
Verbrennungen machen ca. 10 % aller körperlichen Kindesmisshandlungen aus. 10–20 % aller Verbrennungsfälle im Kindesalter sind vermutlich Folgen einer Misshandlung. In der überwiegenden Anzahl (80 %) handelt es sich um Verbrühungen. Am häufigsten sind auch hier Kinder in den ersten 2 Lebensjahren betroffen.
Bei den misshandlungsbedingten Verbrennungen handelt es sich meist um Immersionsverbrühungen durch Tauchen in heiße Flüssigkeiten. Diese Art der Verbrennungen ist oft symmetrisch, scharf abgegrenzt und am häufigsten an Händen, Füßen und im Anogenitalbereich lokalisiert (z. B. durch Setzen des Kindes in heißes Badewasser im Rahmen der „Sauberkeitserziehung“). Typischerweise bleiben die Beugefalten in der Leiste durch das reflexartige Anziehen der Beine vom heißen Wasser verschont und gleichzeitig kann es zu geformten Aussparungen durch das Andrücken des Gesäßes auf den kühleren Wannenboden kommen („Donutmuster“, Abb. 3; AWMF 2008).
Misshandlungsbedingte Verbrühungen weisen neben den klaren Abgrenzungen meist eine einheitliche Verbrennungstiefe auf. Verbrennungen im Rahmen eines Unfalls haben einen Abtropfmechanismus, wodurch es zu unterschiedlichen Verbrennungstiefen kommt.
Auch bei Kontaktverbrennungen sind akzidentelle von fremd zugefügten Verletzungen recht gut differenzierbar. Bei Unfällen im Haushalt kommt es zu unregelmäßigen Verbrennungen an den Prädilektionsstellen (Hand auf die Herdplatte!) im Gegensatz zu scharf geformten oder gar abbildenden geometrischen Mustern, die als Negativbild Rückschlüsse auf den benutzten Gegenstand ermöglichen können. Abdrücke von heißen Gegenständen (Zigaretten, Bügeleisen!) entstehen nur im Rahmen einer Misshandlung des Kindes. Verbrennungen durch Zigaretten sind meist ausgetanzt und 8 mm im Durchmesser, am häufigsten gruppiert an Händen, Unterarmen und nicht selten am Gesäß des Wickelkindes, da sie dort oft nicht gesehen werden.

Skelettmanifestation (Tab. 4)

Bei etwa 50 % aller misshandelten Kinder finden sich Frakturen, viele Kinder haben mehrfache Frakturen unterschiedlichen Alters. Hochverdächtig sind auch hier Frakturen bei sehr kleinen Kindern vor Erlangung der Mobilität.
Tab. 4
Differenzierung akzidentelle und misshandlungsbedingte Fraktur
Lokalisation
Häufigkeit
Verdächtig
Eher akzidentell
Wirbelsäule
Selten
Kantenabsprengung
Meist Zufallsbefunde
Meist asymptomatisch
DD: Apophysen
Becken
Selten
Hoch pathognomonisch ohne adäquaten Unfall
Erhebliche Gewalteinwirkung
DD: Apo-/Epiphysen
Humerus
12–57 % insgesamt
85 % unter 18 Monaten misshandlungsbedingt
Schaftfraktur
Spiralfrakturen!
„Griff zum Kind“
Supracondylär
Unterarmfraktur
5–10 %
Parierfraktur Ulna
Distale Unterarmfrakturen
Diaphysär
Femurfraktur
12–29 % insgesamt
60 % unter 1. Lj misshandlungsbedingt
Meta- und epiphysär
Kinder im Lauflernalter
Klavikula
3–10 %
Unter 4. Lj
Typisch lateral
Ältere Kinder
DD: Geburtstrauma
Tibia
7–18 %
Distal metaphysär
Toddler-Fraktur
DD, Differenzialdiagnose; Lj, Lebensjahr
80 % aller misshandlungsbedingten Frakturen finden sich bei Kleinkindern unter 18 Monaten. 85 % aller Kinder mit Frakturen nach Unfällen sind über 5 Jahre alt. In 80 % dieser Fälle liegt nur eine Fraktur vor, misshandelte Kinder weisen im Durchschnitt 3 Frakturen auf. Betroffen sind vorwiegend die langen Röhrenknochen und das Rippenskelett. Frakturtypen mit hoher Spezifität für das Vorliegen einer Misshandlungsfolge sind gelenknahe Frakturen („corner fractures“, meist bilateral und gehäuft an der Tibia) und periostale Reaktionen bei Kindern im Säuglingsalter (Abb. 4).
Weniger eindeutig auf eine Misshandlung hinweisend, jedoch viermal häufiger finden sich Frakturen im Schaftbereich der langen Röhrenknochen, hier vor allem komplexere Schräg- oder Spiralfrakturen. Es kann davon ausgegangen werden, dass fast 100 % aller Frakturen am Humerusschaft (Abb. 5) und 60 % aller Frakturen am Femurschaft (Abb. 6) bei Kindern unter 15 Monaten Folgen einer Misshandlung sind.
Hochverdächtig sind immer Rippenfrakturen, da es im Kindesalter durch die Elastizität der Brustkorbs sogar beim mehrfach verletzten Kind selten zu Frakturen im Bereich des knöchernen Thorax kommt (<2 %). Im Unterschied zum Erwachsenen sind Rippenfrakturen bei Kindern sogar nach Reanimationen selten zu finden. Rippenbrüche sind meist multipel, oft bereits knöchern verheilt und am häufigsten dorsal und lateral lokalisiert.
Prinzipiell ist eine Altersbestimmung von Frakturen schwierig und auch nicht exakt möglich, sicher ist nur, dass bei Vorliegen einer periostalen Reaktion der Entstehungszeitpunkt mindestens 4 Tage zurückliegt (Abb. 4).
Schädelfrakturen in den ersten 2 Lebensjahren sind häufig (Sturz vom Wickeltisch). Sie sind meist linear und ohne Begleitverletzungen. Bei Vorliegen von linearen Frakturen, die die Schädelnähte kreuzen, von bilateralen Frakturen sowie von komplexen Schädelfrakturen ist an eine nichtakzidentelle Ursache zu denken. Gleichzeitig diagnostizierte intrakranielle Verletzungen ohne erklärenden Unfallmechanismus sind pathognomonisch auf eine stattgefundene Misshandlung.
Abgeklärt und ausgeschlossen werden müssen bei allen Frakturen bei sehr kleinen Kindern Differenzialdiagnosen wie Osteogenesis imperfecta, Osteopenie bei Frühgeborenen oder bei Inaktivität (gehunfähige Kinder aufgrund einer Behinderung) und Rachitis. Alle diese Zustände sind aber entweder anamnestisch und klinisch klar oder kommen viel seltener vor als Kindesmisshandlung.

Kopfverletzungen

Kopfverletzungen machen 10–20 % der Misshandlungen aus, 80 % betreffen Kinder im 1. Lebensjahr. Bei Vorhandensein intrakranieller Verletzungen sind sie mit 75 % die häufigste misshandlungsbedingte Todesursache. Diagnostisch und therapeutisch stehen die Kontrolle und Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen im Vordergrund.
Die Kinder können primär symptomatisch sein oder auch erst nach einem symptomfreien Intervall, wobei die gesamte Bandbreite neurologischer Facetten einer Bewusstseinsstörung mit Erbrechen als einem ersten Zeichen des Hirndrucks über Somnolenz bis hin zu Koma und Tod.
Klinische Hinweise auf eine nichtakzidentelle Kopfverletzung
  • Reduzierter Allgemeinzustand
  • Trinkschwäche
  • Nahrungsverweigerung
  • Schläfrigkeit
  • Erbrechen
  • Muskelhypotonie
  • Zerebrale Krampfanfälle
  • Apnoe
  • Temperaturregulationsstörungen
  • Bradykardie
  • Somnolenz, Apathie, Koma und Tod
Zu Kopfverletzungen kann es durch direkte Schläge auf den Kopf kommen oder auch durch Zu-Boden-Werfen des Kindes.
Zu den indirekten Gewaltmechanismen gehört Schütteln mit forciertem Hin- und Herpendeln des Kopfes („shaken baby“). Mit einer Prävalenz von 14–30/100.000 bei Kindern unter einem Jahr ist es ebenso häufig wie beispielsweise der juvenile Diabetes (14/100.000).
Das Kind wird dabei an Brustkorb oder Oberarmen gepackt und heftig gewaltsam hin und her geschüttelt. Am häufigsten betrifft es Kinder in den ersten 8 Lebensmonaten, dem physiologischen „Hauptschreialter“. Neben Frakturen an Oberarmen und Rippen durch das Festhalten des Kindes kommt es an den Kniegelenken durch das unkontrollierte Herumpendeln der Beine zu typischen Eckfrakturen (Abb. 7).
Es wird immer wieder die Frage gestellt: Wissen Erwachsene, was sie tun, wenn sie ein Baby schütteln? Dafür gibt es mittlerweile eine klare Antwort:
Die American Academy of Pediatrics konstatiert, dass das diagnostizierte Schütteltraumasyndrom von derartiger Schwere ist, dass auch medizinisch nicht gebildeten Personen das Schädigende und potenziell Lebensgefährliche dieser Gewalthandlung offensichtlich ist (AAP 2009).
Für das Outcome entscheidend sind jedoch die intrakraniellen Verletzungen. Durch das Vor- und Zurückpendeln des Kopfes kommt es zum Einriss von Brückenvenen und damit zur Entstehung von Subduralhämatomen sowie zu Kontusionsblutungen. Beschleunigungskräfte sind die Ursache multipler neuronaler Verbindungen, und es kommt zu einem diffusen axonalen Trauma („diffuse axonal injury“, DAI) und einem erheblichen Hirnparenchymschaden. Folgen des Shaken-Baby-Syndroms reichen von gravierenden Entwicklungsstörungen bis hin zu bleibenden Behinderungen und Tod. Das Shaken-Baby-Syndrom ist damit auch die schwerste Form der Kindesmisshandlung.
Bei allen kopfverletzten Kindern mit und ohne neurologischen Auffälligkeiten ist wegen der positiven Korrelation retinaler Blutungen mit nichtakzidentellen Verletzungen des Zentralnervensystems immer eine Untersuchung des Augenhintergrunds durchzuführen.

Stumpfes Bauchtrauma

Diese Form der Kindesmisshandlung betrifft zwar nur ca. 5 % der Fälle, weist aber eine Letalität von 50 % auf. Gründe sind die meist verzögerte Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe (100 % später als 3 Stunden im Vergleich zu >85 % innerhalb von 3 Stunden nach Unfällen) und die schleichende Symptomatik. Die unklare, meist vage Anamnese verzögert Diagnostik und Therapie. Im Unterschied zum stumpfen Bauchtrauma nach Unfällen sind meist kleinere Kinder betroffen (im Durchschnitt 2,5 Jahre im Vergleich zu 7,5 Jahre) Am häufigsten finden sich Verletzungen der Leber (47 %), des Duodenum (24 %) und des Jejunum (25 %). Nach Unfällen sind am häufigsten Milz (47 %), Niere (40 %) und Leber (34 %) betroffen. Bei fehlendem überzeugendem Unfallmechanismus ist ein intramurales Duodenalhämatom pathognomonisch für eine Misshandlung.

Sonstige Manifestationen im Kopf- und Halsbereich

Bei bis zu 75 % aller misshandelten Kinder finden sich Verletzungen im Kopf- und Halsbereich. Davon betreffen die Hälfte das Gesicht und die Mundhöhle. Es finden sich häufig geformte Hämatome an den Wangen (Handabdruck bei Ohrfeigen), Strangulationsmarken am Hals und Verletzungen an den Ohren (s. auch Abb. 2). Oft übersehen werden Verletzungen im Mund, wie Schleimhauteinrisse am Zahnfleisch, Risse der Lippenbänder und des Zungenbändchens (z. B. durch Zwangsfüttern). Zahnluxationen entstehen durch das gewaltsame Herausziehen des Schnullers oder des Daumens aus dem Mund. Bei einer Routineuntersuchung kann eine Verfärbung des Zahns als posttraumatische Avitalität nach Misshandlung als Zufallsbefund zu sehen sein.
Verletzungen in dieser Körperregion sind akzidentell so selten, dass die TEN4-Regel etabliert wurde. Wenn Verletzungen an Rumpf („torso“), Ohr („ear“) oder im Halsbereich („neck“) bei Kindern unter 4 Jahren gefunden werden, sind diese als hochverdächtig auf eine stattgefundene Misshandlung zu bewerten. Ebenso Verletzungen bei Kindern vor dem 4. Lebensmonat.
TEN4-Regel
Hochverdächtige Hinweise auf Misshandlung (Sensitivität 97 %, Spezifität 84 %):
  • Blutergüsse am Rumpf, Ohr oder Halsbereich bei Kindern ≤4 Jahren
  • Blutergüsse in jeder Region bei Kindern ≤4 Monaten

Sonderform der Kindesmisshandlung

Das Münchhausen-by-proxy-Syndrom ist eine vermutlich unterdiagnostizierte schwerwiegende Form der Kindesmisshandlung. Vorwiegend Mütter mit meist schweren Persönlichkeitsstörungen produzieren aktiv schädigend auf vielfältige Weise Krankheitssymptome bei ihren gesunden Kindern mit dem Ziel wiederholter ärztlicher Aufmerksamkeit und Zuwendung. Die Prognose dieser Erkrankung ist für das abhängige Kind mit einer Letalität von bis zu 25 % besonders schlecht. Typisch sind Therapieresistenz und eine hohe Rezidivrate, weswegen zumeist die Herausnahme des Kindes aus der mütterlichen Obhut notwendig ist. Die Diagnose SIDS („sudden infant death syndrome“, plötzlicher Kindstod) stellt eine Ausschlussdiagnose dar. Schätzungen gehen von einem Anteil von bis zu 5 % Kindstötungen durch absichtliches Ertränken oder absichtliche Intoxikationen bei der Gesamtzahl der als SIDS-Opfer eingeschätzten Kinder aus (Herrmann und Eydam 2010). Durch eine zwingend erforderliche Obduktion müssen daher toxikologische, infektiöse, metabolische und traumatische Ursachen ausgeschlossen werden.

Zusammenfassung

Im Säuglings- und Kleinkindalter, der Hauptrisikogruppe für Misshandlungen, sind Unfallchirurgen neben den Kinderärzten oft die einzigen Fachleute, die mit den Kindern in Kontakt kommen. Bei Verdacht einer Kindesmisshandlung müssen hinweisende Befunde durch eine umfassende Kenntnis der normalen Entwicklung des Kindes und möglicher Prädilektionsstellen akzidenteller sowie nichtakzidenteller Verletzungen in verschiedenen Altersgruppen und ihrer Ursachen ergänzt und gegenüber möglichen Differenzialdiagnosen abgeklärt werden. Neben der klinischen Untersuchung und der Kenntnis typischer Misshandlungsbefunde stehen das Röntgen-Skelettscreening, beim neurologisch auffälligen Kind die CCT und die Fundoskopie an oberster Stelle der Diagnostik. Der Schutz des Kindes vor weiterer körperlicher oder seelischer Beeinträchtigung hat höchste Priorität. Bei gegebenem Verdacht auf stattgehabte Kindesmisshandlung wird daher dringend eine stationäre Aufnahme des Kindes empfohlen. Eine Mitaufnahme eines Elternteils sollte ebenso stattfinden, um eine neuerliche Traumatisierung des Kindes durch eine räumliche Trennung zu vermeiden. Dies ermöglicht ein strukturiertes, verbindliches und an aktuellen Leitlinien orientiertes Vorgehen mit entsprechender Diagnostik und Dokumentation und die Einbeziehung einer Kinderschutzgruppe in der weiteren Abklärung und Entscheidungsfindung.
Anamnestische und Konstellationshinweise
  • Kardialhinweis: vorliegende Befunde nicht durch Anamnese erklärbar, nicht plausibel
  • Zusätzliche unklare oder verdächtige Verletzungen erhöhen die Misshandlungswahrscheinlichkeit
  • Fehlende Anamnese (in ca. 40 % der Fälle)
  • Auffällige Sozial- oder Familienanamnese
Klinische Untersuchung:
  • Ganzkörperuntersuchung, Prädilektionsstellen berücksichtigen
  • Befundbeschreibung und Dokumentation: Lokalisation, Art, Farbe, Größe, Form; digitale Fotografie mit Maßstab (Übersichts- und Detailaufnahmen)
  • Verhalten/Aussagen wörtlich dokumentieren
Apparative und Labordiagnostik:
  • Röntgen-Skelettscreening bei Kindern <2–3 Jahre bei begründetem Verdacht
  • CCT bei neurologischen Auffälligkeiten
  • MRT sobald verfügbar und Kind stabil (Verlaufskontrolle nach etwa 2–3 Tagen und 2–3 Monaten)
  • Schädelsonografie als alleinige Diagnostik nicht zulässig
  • Abdomensonografie-Screening für abdominelle Traumata
  • Basislabor: BB + Diff, GOT, GPT, y-GT, Amylase, Lipase, AP, Calcium, Phosphor, CK-MB, Troponin, CK-BB, Quick, PTT, Urinstatus
Literatur
Alexander RC, Levitt CJ, Smith WL (2001) Abuse head trauma. In: Reece RM, Ludwig S (Hrsg) Child abuse – medical diagnosis and management, 2. Aufl. Lippincott, Williams & Wilkins, Philadelphia, S 47–80. American Academy of Pediatrics (2000)
American Academy of Pediatrics (AAP) (2009) Christian CW, Block R and the Committee in infants and children: policy statement. Pediatrics 123:1409–1411
AWMF (2008) Leitlinie Kindesmisshandlung und Vernachlässigung
Bariciak ED, Plint AC, Gaboury I, Bennett S (2003) Dating of bruises in children: An assessment of physician accuracy. Pediatrics 112(4):804–807CrossRef
Hermann, Dettmayer, Banaschek, Thyen (2010) Kindesmisshandlung, 2. Aufl. Springer, Berlin/Heildelberg
Herrmann B, Eydam AK (2010) Leitlinien und Evidenz. Neue Entwicklungen im somatischen Medizinischen Kinderschutz. Bundesgesundheitsbl 53:1173–1179CrossRef
Sugar, Taylor, Feldman (1999) Bruises in infants and toddlers: those who don’t cruise rarely bruise. Arch Pediatr Adolesc Med 153(4):399–403CrossRef