Grundlegende Kenntnisse der Anatomie des Ohrs, der Physiologie des Hörorgans sowie von häufigen Ohrerkrankungen sind zentral für ein Verständnis jeglicher präventiver, diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen. Entsprechend sollen PEU möglichst früh im Laufe der Berufsfindung der Aufbau und die Funktionsweise des Ohres und des Hörorgans, sowie deren wichtigste Erkrankungen nahegelegt werden.
Die Prävention von Ohrerkrankungen bei PEU zielt insbesondere darauf ab, vorübergehende und bleibende Hörschäden zu verhindern. Dabei muss bei PEU ein Wissen über vermeidbare gehörschädigende Einflüsse bestehen, welche insbesondere Lärm und ototoxische Substanzen umfassen. Weiter können unter Umständen kardiovaskuläre Risikofaktoren, insbesondere der Nikotinabusus, schädlichen Einfluss auf das Gehör haben. Schließlich können bleibende Hörstörungen durch Erkrankungen des äußeren Ohres, des Mittel- sowie des Innenohres entstehen, deren rechtzeitige und adäquate Therapie deshalb insbesondere auch bei PEU eine besondere Rolle zukommt (s. Abschnitt „Spezielle Aspekte von Ohrerkrankungen und Therapie“).
Lärm
Lärm ist der mit Abstand bedeutendste beeinflussbare Risikofaktor für eine Schwerhörigkeit. Seit Jahrzehnten ist gut bekannt, dass eine übermäßige Lärmexposition nach wenigen Stunden zu einer Schädigung der schalldetektierenden Haarzellen im Innenohr führt, was wiederum eine permanente Anhebung der Hörschwelle bewirkt [
66]. Bis vor gut zehn Jahren existierte das Dogma, dass Lärm primär Haarzellen schädigt. In der Umkehr wurde geschlossen, dass eine Lärmschädigung, welche keine permanente Hörschwellenerhöhung verursacht, ohne einen Haarzellverlust einhergeht und daher gutartig ist [
72]. Diese Annahme liegt auch den aktuellen Kriterien für das Schädigungsrisiko von Lärm am Arbeitsplatz zugrunde [
3,
72]. In den letzten Jahren hat jedoch Forschung in Tiermodellen gezeigt, dass auch eine Lärmbelastung mit einer nur vorübergehenden Hörschwellenerhöhung zwar nicht zu einem Haarzellschaden, jedoch zu einer Schädigung des Hörnervs führen kann [
61]. Auch bei Menschen wurde gezeigt, dass beispielsweise bereits eine Belastung von 88 dB (A) über 20 min zu einer temporären Hörschwellenverschiebung von bis zu 40 dB führt [
23]. Dabei kommt es zu einem Verlust der Kontakte zwischen Hörnervenfasern und Haarzellen (sog. cochleäre Synaptopathie) [
67]. Eine cochleäre Synaptopathie kann vermutlich zu Tinnitus, Hyperakusis und einer verminderten Sprachverständlichkeit führen, auch wenn sich im konventionellen Reintonaudiogramm eine Normakusis findet (sog. „hidden hearing loss“) [
59,
67]. Somit scheint ein konsequenter und großzügig eingesetzter Gehörschutz insbesondere bei PEU angezeigt, und zwar möglicherweise auch bei tieferen Schallpegeln als gesetzlich vorgeschrieben [
67].
Bereits unverstärkte Musik, wie sie beispielsweise beim individuellen Üben oder Stimmen von Instrumenten erklingt, kann schädigende Schallpegel aufweisen (eine entsprechende Schallpegeltabelle findet sich unter [
122]). In diesem Zusammenhang gibt es in der Musikermedizin seit Jahrzehnten eine zunehmende Anzahl von Studien, welche eine hohe Prävalenz von Hörschäden bei professionellen Musikern zeigen, was eine vermehrte Anwendung von gehörschützenden Maßnahmen bei Musikern sowohl in Orchestern als auch bei Konzerten mit verstärkter Musik zur Folge hatte [
31,
83,
95]. Musiker sind aber nur eine von vielen gefährdeten Berufsgruppen, welche schädigenden Schalldruckpegeln ausgesetzt und gleichzeitig in hohem Maß auf ein funktionierendes Hörorgan angewiesen ist. Deshalb sollten die Grundsätze zum Gehörschutz für Musiker auch auf andere PEU angewendet werden, z. B. Tonmeister oder Klavierbaumeister und andere Instrumentenbauer.
Grundsätzlich sollten neben Gehörschutzmitteln jegliche Maßnahmen zur Verringerung der Schallpegel wahrgenommen werden. Hierzu gehören eine Vergrößerung des Abstands zur Schallquelle, eine Optimierung der Raumakustik sowie der Einsatz von Reflektoren und Schallschirmen. Weiter sollten im beruflichen Alltag wählbare Schallpegel wie z. B. Abhörpegel bewusst zurückhaltend auf ein nicht schädigendes Maß limitiert werden [
70].
Am Beispiel von Musikern ist bei PEU gut bekannt, dass insgesamt eine starke Skepsis gegenüber einem Gehörschutz besteht und Gehörschutzmittel beispielsweise bei Orchestermusikern eher selten angewendet werden [
31,
64,
118]. Auch wenn sich etwa zwei Drittel von Orchestermusikern um ihr Gehör sorgen [
91], finden über 80 % die Anwendung eines Gehörschutzes schwierig oder unmöglich [
80]. Neben der Einschränkung des Klangerlebens hat dies sicherlich auch mit einer stigmatisierenden Wirkung eines äußerlich sichtbaren Gehörschutzes zu tun. Weiter scheinen PEU die tatsächlich erlebten Schallpegel über die Zeit zu unterschätzen, weshalb eine Messung der Schallpegel am Tätigkeitsort von PEU dringend empfohlen bzw. in gewissen Situationen sogar rechtlich vorgeschrieben ist (vgl. hierzu beispielsweise die europäische Arbeitsschutzrichtlinie „Lärm“ 2003/10/EG oder die Schweizer Verordnung über die Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten, Artikel 34 Lärm und Vibrationen). In jedem Fall besteht bei einem vorübergehenden Tinnitus, Ohrdruckgefühl und/oder Dysakusis nach einer Schallexposition der Verdacht auf eine schädliche Schallexposition, was weitere Schritte zur Bestimmung der Schallexposition und einer audiometrischen Abklärung des PEU zur Folge haben sollte [
46].
Informationen über die Bedeutung und Anwendung eines konsequenten Gehörschutzes bei schädigenden Schallpegeln sind zentral bei PEU. In diesem Kontext ist speziell die Aufklärung über konkrete Typen von Gehörschutzmitteln wichtig [
91]. Die Anforderungen an einen Gehörschutz bei PEU sind sowohl hinsichtlich des Tragekomforts als auch des akustischen Dämpfungsprofils hoch. Durch den Verschluss des Gehörgangs durch den Gehörschutz kommt es zur Dämmung des Schalls, welcher auf das Trommelfell trifft. Begleitend werden durch die Okklusion eigene Körpergeräusche verstärkt wahrgenommen (sog. Okklusionseffekt) [
33,
44]. Zusätzlich wird der Resonanzraum des Gehörgangs aufgehoben, womit eine selektive Verstärkung der Frequenzbänder um etwa 3 kHz wegfällt [
25]. Schließlich dämmen selbst individuell angepasste und nur wenig dämmende (< 10 dB) Gehörschutzmittel über das Frequenzspektrum unterschiedlich stark [
2]. Somit kommt es insgesamt zu einer Veränderung des Höreindrucks sowohl durch einen verminderten Schallpegel als auch durch eine Veränderung des Frequenzspektrums. Dies kann die Beurteilung einer Schallinformation beeinflussen, was für PEU besonders schwerwiegend sein kann. Weiter stellt sich die Frage, ob die Benutzung von Gehörschutzmitteln die spektralen Eigenschaften produzierter Musik verändert. Hierzu existiert eine kontroverse Studienlage, wobei eine aktuelle Studie mit individuell angepassten Gehörschutzmitteln mit gleichmäßigen Dämmungseigenschaften keinen Einfluss auf die Klangfarbe oder dynamische Kontrolle bei Instrumentalmusikern fand [
60,
106]. Bei Neuanschaffung eines Gehörschutzes ist mit einer Angewöhnungszeit von mehreren Wochen zu rechnen [
128]. Auch das Einsetzen des Gehörschutzes einige Stunden vor der eigentlichen Schallexposition kann den Höreindruck natürlicher erscheinen lassen.
Als gängiges Gehörschutzmittel sind für PEU aufgrund des Schalldämmungsprofils und des Tragekomforts primär individuell angepasste Gehörschutz-Otoplastiken empfohlen [
128]. Eine im Rahmen der Berufsausbildung durchgeführte, frühzeitige Information über mögliche Gehörschutzmittel, eine Hilfestellung bei der Auswahl sowie finanzielle Unterstützung zum Erwerb der kostspieligen Gehörschutzmittel könnte die Akzeptanz und Anwendungshäufigkeit erhöhen [
91]. Eine neuere Entwicklung sind aktive Gehörschutzsysteme [
43,
81]. Bei unverstärkter Musik kann beispielsweise ein passiver Gehörschutz mit einer aktiven Komponente nach dem Prinzip eines Hörgeräts mit Mikrofon, Prozessor und Lautsprecher kombiniert werden [
81]. Somit kann die spektrale Information des Schalls besser erhalten und die Dämpfung bzw. Verstärkung des Schalls an den Schallpegel adaptiert werden [
81]. Im Fall von verstärkter Musik kann ein solches System zusätzlich mit einem Im-Ohr-Monitor verbunden werden [
43]. Für eine umfassende Beratung zu Gehörschutzmitteln sollen PEU an einen erfahrenen Hörgeräteakustiker verwiesen werden. Bei individuell angefertigten Gehörschutz-Otoplastiken muss dabei beachtet werden, dass nach der individuellen Anfertigung die Schutzwirkung nachgewiesen und periodisch überprüft werden muss (vgl. hierzu auch [
130]).
Neben der beruflichen Schallexposition von PEU soll auch die Lärmbelastung im Rahmen der Freizeit beachtet werden [
70]. So fand sich in einer kleinen Studie an Tonmeistern bei einer Mehrheit der Befragten eine erhebliche Lärmbelastung in der Freizeit [
79]. Solche Lärmbelastungen sollen nach Möglichkeit vermieden werden, da dies unter anderem mit dem empfohlenen (wenn auch oft schwierig einzuhaltenden) Ruheintervall von zwölf bis vierundzwanzig Stunden zwischen den oft mehrstündigen beruflichen Schallexpositionen interferiert [
46,
83].
Während ein konsequent und großzügig eingesetzter Gehörschütz bei PEU zentral ist, können übermäßig eingesetzte Gehörschutzmittel auch negative Auswirkungen mit sich bringen. Insbesondere bei ängstlich-vermeidenden Personen kann ein zu ausgeprägt angewandter Gehörschutz zu einem Teufelskreis aus Überprotektion, Hyperakusis und Phonophobie führen [
8,
52,
74]. Zusätzlich erhöht das Tragen von Gehörschutzmitteln im Gehörgang die Zerumenproduktion, was eine regelmäßige Gehörgangsreinigung nötig machen kann (s. Abschnitt „Cerumen obturans“). Nichtsdestoweniger ist ein konsequenter Gehörschutz bei PEU die wichtigste Schutzmaßnahme für das Gehör.
Ototoxische Substanzen
Ototoxische Substanzen sind neben Lärm eine der häufigsten Ursachen für eine sensorineurale Schwerhörigkeit [
50]. Weit über 100 gängige Medikamente besitzen ototoxische Eigenschaften, u. a. Aminoglykoside, Zytostatika, Salicylate, Schleifendiuretika oder Antimalariamittel [
54,
78,
97,
98]. Die Folgen der ototoxischen Wirkung können Tinnitus und/oder eine Schwerhörigkeit sein. Die klassischen, stark ototoxischen Substanzen wie z. B. Aminoglykoside oder Zytostatika werden jedoch zurückhaltend und in der Regel nur bei vitaler Indikation eingesetzt. Daneben gibt es aber auch eine Reihe von (teilweise rezeptfreien) ototoxischen Medikamenten, welche gelegentlich unkritisch eingesetzt werden und deren Ototoxizität möglicherweise unterschätzt oder wenig bekannt ist. Insbesondere bei PEU kann aber auch eine diskrete oder vorübergehende ototoxische Wirkung gravierende Folgen haben.
Ein wichtiges ototoxisches Medikament ist Acetylsalicylsäure, welches zur Therapie von Entzündungen und Schmerzen eingesetzt wird. Bei Einnahme von Acetylsalicylsäure können – in der Regel vorübergehend – ein Tinnitus, eine Schwerhörigkeit sowie eine Dysakusis auftreten, wobei das Risiko mit Zunahme der Dosis steigt [
12]. Acetylsalicylsäure wird aufgrund des Nutzen-Risiko-Profils als zunehmend obsoletes Analgetikum betrachtet [
68], weshalb von einer selbstständigen Einnahme von Acetylsalicylsäure bei PEU zur akuten Therapie von Schmerzen abgeraten werden muss. Neben Acetylsalicylsäure haben auch andere nichtsteroidale Antirheumatika gelegentlich ototoxische Nebenwirkungen, also z. B. Ibuprofen, Diclofenac, Naproxen oder Mefenamin [
62]. Diese Nebenwirkungen scheinen aber weniger ausgeprägt zu sein als bei Acetylsalicylsäure [
62]. Das Analgetikum Paracetamol weist vermutlich keine ototoxische Wirkung auf, weshalb dieses Medikament also auch hinsichtlich der ototoxischen Nebenwirkungen bei PEU primär zur Schmerzlinderung empfohlen werden kann.
Die Liste möglicher ototoxischer Medikamente ließe sich beliebig verlängern und kann hier nicht abschließend besprochen werden. Bei PEU soll jedenfalls das Bewusstsein für eine hohe Wachsamkeit bezüglich bekannter ototoxischer Nebenwirkungen bei Verschreibung von Medikamenten geschärft werden. Dabei ist allerdings auch zu beachten, dass gerade Tinnitus häufig als mögliche, wenig spezifische Nebenwirkung in Beipackzetteln aufgeführt ist und nicht immer einer ototoxischen Nebenwirkung entsprechen muss. Weiter soll die Aufklärung von PEU über gängige ototoxische Medikamente auch Hinweise auf alternative, zu bevorzugende Substanzen beinhalten.