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Erschienen in: Psychotherapeut 2/2013

01.03.2013 | Originalien

Implizites Beziehungswissen

verfasst von: Prof. Dr. Ulrich Streeck, MA

Erschienen in: Die Psychotherapie | Ausgabe 2/2013

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Zusammenfassung

Die Art und Weise, wie wir uns im Zusammensein mit Anderen verhalten, gründet überwiegend in prozedural repräsentiertem, implizitem Wissen. Implizites Beziehungswissen entzieht sich der sprachlichen Beschreibung weitgehend. Stattdessen zeigt sich implizites Beziehungswissen im Vollzug von Handlungsabläufen. Das Zusammensein mit Anderen entfaltet sich Schritt für Schritt. Jedes nachfolgende Verhalten einer Person zeigt, wie das vorangegangene Verhalten des Gegenübers verstanden wurde. Nach Auffassung der Boston Change Process Study Group (BCPSG) ist die Veränderung von implizitem Beziehungswissen an die Entfaltung zunehmender Integration und Kohärenz im therapeutischen Prozess gebunden, die es ermöglichen, dass auch affektiv aufgeladene und schwierige Erfahrungen in die therapeutische Beziehung aufgenommen werden können und damit für den Patienten „beziehungsfähig“ werden.
Fußnoten
1
In der Boston Change Process Study Group (BCPSG) hatten sich namhafte Entwicklungspsychologen und Psychoanalytiker – u. a. Louis Sander, Daniel Stern und Edward Tronick – zusammengeschlossen, um eine Antwort auf die Frage zu finden, wodurch psychoanalytische Therapien Veränderungen bewirken.
 
2
Auch wenn erfahrene Ärzte Diagnosen oft mit großer Zuverlässigkeit stellen können, ohne dass sie in der Lage wären, ausdrücklich zu sagen, wie sie dabei vorgehen und auf welche Regeln sie sich beziehen, stützen sie sich auf implizites Wissen. Das Beispiel macht deutlich, dass implizites Wissen in hohem Maß erfahrungsabhängig ist.
 
3
Der Begriff „implizites Beziehungswissen“ lehnt sich an den Begriff „implizites Wissen“ an und geht auf die Bostoner Gruppe zurück. „The procedural knowledge of how to do things with others we have termed implicit relational knowing“ (Boston Change Process Study Group 2010, S. 31). Da Vortrag und vorliegende Arbeit vor Erscheinen der deutschen Übersetzung („Veränderungsprozesse. Ein integratives Paradigma“) geschrieben wurden, beziehen sich die Seitenangaben der Literaturverweise auf die amerikanische Originalausgabe.
 
4
Implizites Beziehungswissen ist nicht ehemals gewusst, aber verdrängt, also nicht im dynamischen, sondern im beschreibenden Sinn unbewusst.
 
5
Implizites Beziehungswissen weist Überschneidungen mit den Konzepten des „inneren Arbeitsmodells“ („inner working model“; Bowlby 1973) sowie der „generalisierten Interaktionsrepräsentationen“ („representation of interaction that have been generalized“, RIG; Stern 1985) auf. Beide bezeichnen „generalisierte Repräsentationen von Beziehungserfahrungen“ (Bretherton 1985), die sich im Fall der „inneren Arbeitsmodelle“ auf Bindungsfiguren beziehen, während RIG gleichsam der Mittelwert vieler ähnlicher Interaktionserfahrungen sind.
 
6
Die Abb. 1, Abb. 2, Abb. 3, Abb. 4 gehören zu dem von Tronick kommentierten videografierten „Still-face“-Experiment, das unter Youtube (http://www.youtube.com/watch?v=apzXGEbZht0) allgemein zugänglich ist.
 
7
Das ist einer der Gründe, warum Studien, die die Wirksamkeit psychotherapeutischer Methoden mit Untersuchungsdesigns prüfen, deren Muster dem von pharmakologischen Wirkstudien angelehnt ist, so wenig überzeugen können. Psychotherapie heißt nicht, eine Methode an einem Patienten anwenden, sondern beschreibt – wie schon die Definition von Strotzka (1975) betont – einen interaktiven Prozess und damit ein Geschehen wechselseitiger Abstimmung.
 
8
In der Konversationsanalyse wird ein interaktiver Zug „turn“ genannt (Heritage 1984), Säuglingsforscher sprechen von einem „relational move“. Dass Säuglingsforscher mit einem „relational move“ eine intentionale Einheit verbinden, Konversationsanalytiker sich demgegenüber jeden Schlusses auf mentale Ereignisse enthalten, kann in diesem Zusammenhang außer Betracht bleiben.
 
9
Dass mit einer verzögerten Reaktion auf eine Einladung hin kenntlich gemacht wird, dass die Einladung abgelehnt wird, hat die Konversationsanalyse in Zusammenhang mit dem Konzept der „adjacency pairs“ bzw. der konditionellen Relevanzen gezeigt (z. B. Sacks et al. 1974).
 
10
Das trifft sinngemäß für die allermeisten Gesten und körperlichen Verhaltensweisen zu, die im Zusammensein mit Anderen verwendet werden; ihre Bedeutung wird kokonstruiert. Mead (1968) hat davon gesprochen, dass die Bedeutung einer Geste die nachfolgende Handlung ist, die sie anzeigt.
 
11
Zu „Begegnungsmomenten“ kann es in Zusammenhang mit überraschenden Ereignissen („now moment“; Boston Change Process Study Group 2010) kommen, etwa wenn der Patient wie aus heiterem Himmel fragt: „Mögen Sie mich eigentlich?“ oder die Patientin unvermittelt sagt: „Ich glaube, ich habe mich in Sie verliebt“ oder der Patient sich beschwert: „Warum haben Sie mich eigentlich neulich vor dem Kino nicht gegrüßt und so getan, als ob Sie mich nicht sehen?“ Augenblicklich fällt das Scheinwerferlicht auf die reale Beziehung von Patient und Therapeut.
 
12
Sollten die innovativen Ideen der Bostoner Gruppe, so Fonagy, nur „die geläufigen therapeutischen Methoden rechtfertigen und festschreiben …, wären sie weit weniger wichtig als dann, wenn daraus auch Veränderungen für die therapeutische Technik abzuleiten wären, zumindest für einige Patientengruppen“ (Fonagy 1998, S. 351; Übersetzung U. Streeck).
 
13
Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode wurde schon in den 1970er Jahren für die Behandlung von Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen aus der Psychoanalyse entwickelt und in der Folgezeit mit dem Fokus auf Interpersonalität weiter entwickelt.
 
Literatur
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Metadaten
Titel
Implizites Beziehungswissen
verfasst von
Prof. Dr. Ulrich Streeck, MA
Publikationsdatum
01.03.2013
Verlag
Springer-Verlag
Erschienen in
Die Psychotherapie / Ausgabe 2/2013
Print ISSN: 2731-7161
Elektronische ISSN: 2731-717X
DOI
https://doi.org/10.1007/s00278-013-0969-5

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