Einleitung
Der Beitrag richtet den Blick auf die Ethikbildung und Ethikkompetenzentwicklung zukünftiger Pflegefachpersonen. Hierbei wird deutlich, dass es im Ausbildungsverlauf aufgrund der variierenden Lernorte strukturelle Besonderheiten gibt, die angesichts der damit einhergehenden Einflüsse und Anforderungen die Ethikbildung auf unterschiedliche Weise beeinflussen. Zugleich ist beachtlich, dass die grundständige pflegeberufliche Ausbildung gegenwärtig auf unterschiedlichen Qualifikationsstufen stattfindet: akademisch oder fachschulisch. Beide Ausbildungswege – akademisch oder fachschulisch – erfolgen an mindestens zwei (Lernort Theorie und Lernort Praxis) und zunehmend an einem dritten Lernort. In Deutschland versteht man unter dem dritten Lernort einen geschützten, simulationsbasierten, fertigkeitsorientierten Lernort: Das Skillslab (Kerres et al.
2021; Schröppel
2021; Schwermann
2021). Der dritte Lernort unterscheidet sich hinsichtlich seiner Verortung, seiner Rolle und Begrifflichkeit im jeweiligen Ausbildungssystem der Pflege.
1 Vor diesem Hintergrund erfolgt im weiteren Verlauf eine definitorische Grundlegung des dritten Lernortes (Skillslab), so wie er aktuell im Kontext der Pflegeausbildung in Deutschland gerahmt wird. Wenngleich nachfolgend exemplarisch auf die Pflegeausbildung in Deutschland Bezug genommen wird, so sind die Besonderheiten der Ethikbildung – angesichts
unterschiedlicher Lernorte im Rahmen pflegeberuflicher Bildung – auch für andere Bildungssysteme anschlussfähig.
Bedeutsam im Rahmen des Beitrages ist: An allen drei Lernorten zeigt sich der Stellenwert einer integralen, d. h. alle Dimensionen pflegerischen Handelns umfassenden, professionellen Ethikbildung und Ethikkompetenzentwicklung. Dieser Auftrag erschließt sich aus dem jeweiligen Ausbildungsziel wie auch aus der Verortung spezifischer Ethikteilkompetenzen in den jeweiligen curricularen Vorgaben (z. B. den Rahmenlehrplänen). An allen drei Lernorten ist demgemäß die Grundlegung, Entwicklung, Förderung und Vertiefung von Ethikkompetenzen für den Bildungsverlauf gefordert. Ethikbildung muss im Ausbildungskontext der Pflege folglich lernortbezogen pädagogisch-didaktisch orchestriert, methodisch begleitet und realisiert werden. Ethik ist zugleich als ein immanenter Teilbereich der Pflegepädagogik zu betrachten. Dies begründet sich bereits durch die dem pädagogischen Handeln immanente Strukturlogik einschließlich ihrer unaufhebbaren Paradoxien und Antinomien (Helsper
2021,
2016). Ebenso ist die Gestaltung von Bildungsprozessen in ihrer Gesamtheit wie in den unterschiedlichen Lernorten grundsätzlich als moralische Praxis zu verstehen (Lehmeyer und Riedel
2022). Moralische Entscheidungen sind im alltäglichen Lehrendenhandeln im Bereich der Pflegepädagogik allgegenwertig. In der Folge umfasst der Beitrag sowohl die Perspektive auf die Lernenden und deren Ethikkompetenzentwicklung und ethischen Erfahrungen im Bildungsprozess wie auch die Perspektive auf die Lehrenden und auf deren Ethikkompetenz, ethische Expertise, ethische Sensibilität und „moralische Intelligenz“ (Tanner und Christen
2014; Christen et al.
2016) im Kontext der Ethikbildung.
Ziel des Beitrages ist es, für die Relevanz einer systematischen, methodisch reflektierten und lernortabgestimmten Ethikbildung in der Pflegeausbildung – über die formalen Forderungen in den Berufsgesetzen hinausgehend und die beiden Ausbildungswege (fachschulisch und akademisch) betreffend – zu sensibilisieren. Hierbei ist die folgende Frage leitend: Welche spezifischen pädagogischen und didaktischen Anforderungen, aber auch welche bildungsrelevanten Rahmungen ergeben sich angesichts der unterschiedlichen Lernorte für die Ethikbildung und die Ethikkompetenzentwicklung zukünftiger Pflegefachpersonen?
Die Besonderheiten der Ethikbildung erschließen sich einerseits aus den pflegeberuflichen Anforderungen an professionelles Pflegehandeln und andererseits aus den Erfahrungen der Lernenden an den unterschiedlichen Lernorten im Verlauf der Pflegeausbildung. Aus diesen Erfahrungen heraus ergeben sich bereits im Lehr- und Lernprozess moralische Verunsicherungen, ethische Irritationen und ethische Konfliktfelder, welche die Ethikbildung einerseits situativ initiieren und andererseits die curricular verortete und pädagogisch-didaktisch realisierte Ethikbildung untermauern. Ethikbildung in der Pflegeausbildung weist hierbei drei zentrale Anliegen auf (Riedel und Lehmeyer
2022; Lehmeyer und Riedel
2021,
2022):
1.
Ethikkompetenzen für das pflegeberufliche Handeln zu entwickeln und zu vertiefen, um als zukünftig professionell Pflegende ethisch kompetent argumentieren, (inter-)agieren und reagieren zu können.
2.
Spezifische Ethikkompetenzen zur Prävention und zum Umgang mit moralischem Belastungserleben (z. B. moralischem Stress) angesichts der Erfahrungen im Bildungsprozess anzubahnen, einzuordnen, zu verdichten, auch um die moralische Integrität langfristig zu schützen und zu stabilisieren (Riedel et al.
2022; Riedel und Lehmeyer
2021a; Rushton
2018; Sastrawan et al.
2018; Eby et al.
2017,
2013).
3.
Die Ausbildung eines ethisch fundierten pflegeberuflichen Selbstverständnisses bzw. die Entwicklung eines pflegespezifischen beruflichen Ethos und eines professionellen moralischen Kompasses (Riedel et al.
2022; Christen et al.
2016; Lee et al.
2020) welcher Orientierung im pflegeberuflichen Handeln eröffnet und professionellen Entscheidungen grundgelegt wird.
Der Beitrag verbindet die Ethikkompetenzentwicklung mit den Erfahrungen im Ausbildungsprozess unter konsequenter Perspektive auf die zukünftige Handlungskompetenz wie auch eines ethisch fundierten pflegeberuflichen Selbstverständnisses nach Ausbildungsende. Hierdurch ist die spezifische Anforderung an die Lehrenden an den verschiedenen Lernorten im Rahmen der Ethikbildung bereits antizipierbar. Der Beitrag konturiert diese spezifischen Herausforderungen, um vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse sodann mit methodisch angemessenen Bildungsmaßnahmen und einer reflektierten curricularen Ausgestaltung die Entwicklung der unverzichtbaren Ethikkompetenzen im Verlauf der Pflegeausbildung absichern zu können.
Eingangs beschreiben die Ausführungen die Spezifika der Pflegeausbildung, um auf dieser Basis die Besonderheiten für die Ethikbildung klarzulegen. In einem zweiten Schritt werden die drei Lernorte vorgestellt, denn – so wird deutlich werden – die Besonderheiten des Lehrens und Lernens an unterschiedlichen Lernorten hat Auswirkungen auf die ethischen Erfahrungen der Lernenden, provoziert Vulnerabilitäten und fordert Konsequenzen für die Ausgestaltung der Prozesse der Ethikbildung seitens der Lehrenden, die wiederum lernortübergreifende Elemente berücksichtigen und potenzielle Irritationen und Verletzbarkeiten antizipieren. Den Besonderheiten wahrgenommener ethischer Belastung – insbesondere in Form von moralischem Stress – gilt hierbei ein weiteres Augenmerk. Im Zusammenhang des moralischen Belastungserlebens geht es um die Erfahrung der Lernenden im Verlauf der Pflegeausbildung sowie um das besondere Augenmerk dahingehend, dass es sich hierbei um ein die Pflegefachperson begleitendes Erlebensphänomen handelt (Andersson et al.
2022; Caram et al.
2022; Palese et al.
2019). In der Folge sollte das Phänomen damit zum genuinen Lerngegenstand im Bereich der Ethikkompetenzentwicklung werden, um den Lernenden langfristig einen kompetenten, entlastenden Umgang damit zu ermöglichen. Grundlegend für die Ethikkompetenzentwicklung ist einerseits die notwendige Sensibilität der Lehrenden für das Phänomen der moralischen Belastung und seine Ausdrucksformen sowie andererseits die notwendige pädagogisch-didaktische Kompetenz einschließlich der methodischen Fähigkeiten im Kontext der Ethikbildung, an allen drei Lernorten das Phänomen als Bildungsanlass aufzugreifen und für die Lernenden situativ moralische Entlastung zu eröffnen. Der Beitrag endet mit zusammenfassenden Thesen zu relevanten Implikationen einer systematisierten Ethikbildung in der Pflege. Nachfolgendes Kapitel führt in die strukturellen Besonderheiten der Pflegeausbildung ein, da diese Spezifika pflegeberuflicher Bildung die Ethikbildung erheblich beeinflussen, rahmen und herausfordern.
Spezifika der Pflegeausbildung und der Ethikbildung in der Pflege
Die Pflegeausbildung in Deutschland wurde mit dem seit 01. Januar 2020 gültigen Pflegeberufegesetz (PflBG)
2 zu einer grundständig generalistischen (berufsfach- oder hochschulischen) Ausbildung reformiert. Im Zuge dieser gesetzlichen Veränderungen, weg von den drei unterschiedlichen Berufsbildern der Pflege – der Gesundheits- und Krankenpflege, der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege und der Altenpflege – wurden neben formalen Veränderungen maßgebliche inhaltliche Anpassungen vorgenommen. Unter anderem wurde der Ethikbildung erstmals explizit eine fundamentale Bedeutung für die pflegeberufliche Primärqualifizierung zuerkannt. So heißt es in § 5 PflBG, welcher das Ausbildungsziel definiert, dass Pflege auf „Grundlage einer professionellen Ethik“ (§ 5 Abs. 2) zu erfolgen hat und im Rahmen der Ausbildung ein „professionelles, ethisch fundiertes Pflegeverständnis“ entwickelt und gestärkt werden soll (§ 5 Abs. 4). Die dem PflBG beigestellte Ausbildungs- und Prüfungsverordnung (PflAPrV) greift diese Grundlegungen auf und integriert pflegeethische Teilkompetenzen auf der Ebene der – im Rahmen von Zwischen- und Abschlussprüfungen – nachzuweisenden Performanzprüfungen, dies sowohl für den fach- wie den hochschulischen Ausbildungsbereich. Die Rahmenlehr- und Rahmenausbildungspläne für die Pflegeausbildung, erstellt durch eine Fachkommission nach § 53 PflBG – einer beim Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) angesiedelten Expert*innengruppe – operationalisieren die ethischen Teilkompetenzen im Kontext der übergeordnet anzustrebenden beruflichen Handlungskompetenz und verorten diese im Sinne der gestuften Kompetenzentwicklung in einem spiralig strukturierten Ausbildungsplan (Fachkommission nach § 53 PflBG
2020). Zudem werden in den weiterführenden Materialien der Fachkommission nach § 53 PflBG methodische Ansätze zur ausbildungsbezogenen Kompetenzentwicklung unter dem Primat der Subjektorientierung und zur Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung benannt (Saul und Jürgensen
2021; Jürgensen und Dauer
2021).
Sowohl die fach- wie hochschulische Ausbildung in der Pflege ist mit entsprechenden Zeitkontingenten an den Lernorten [Hoch]schule, Pflegepraxis und ggf. Skillslab (Fertigkeitslabor) angesiedelt (Hofrath und Zöller
2020). Die formalen Qualifikationsanforderungen des Lehrpersonals an den unterschiedlichen Lernorten ist dabei divergierend: Wird am Lernort [Hoch]schule für den theoretischen wie praktischen Unterricht das Master- oder ein vergleichbares Niveau bei den Lehrenden gefordert (§ 9 PflBG), so ist im Bereich des Lernorts Praxis nur für den Bereich der hochschulischen Ausbildung (in der Regel) auch hochschulisch qualifiziertes Bildungspersonal vorzuhalten (§ 31 PflBG). Für die Praxisanleitung am Lernort Praxis wird im Bereich der fachschulischen Ausbildung hingegen auf Pflegefachpersonen mit einer spezifisch definierten Expertise und einer mindestens 300-stündigen berufspädagogischen Zusatzqualifikation (§ 4 PflBG) verwiesen (Bensch
2020). Übergeordnet charakteristisch ist und bleibt derweilen der Sonderweg der pflegeberuflichen Bildung und ihres pädagogischen Personals im Vergleich zu den im Berufsbildungsgesetz (BBiG) geregelten Ausbildungsberufen und einer damit verbundenen Limitation hinsichtlich der Professionalisierung, Standardisierung und Qualitätssicherung sowie den damit einhergehenden Konsequenzen auch für den Bereich der Ethikbildung (Weyland
2020; Dielmann et al.
2020; Friese
2018).
Auf Basis dieser pointierten Darlegung der wesentlichen aktuell gültigen ausbildungsbezogenen Rahmungen der Pflegeausbildung in Deutschland können für den Bereich der Ethikbildung folgende Spezifika benannt werden:
-
Die Pflegeausbildung in Deutschland durchläuft aktuell eine tiefgreifende Umstrukturierung (insbesondere hinsichtlich der Kompetenzprofile, der Curricula an den unterschiedlichen Lernorten, der Ausbildungskooperationsgestaltung u. v. m.).
-
Die Ausprägung eines professionellen Berufsethos wird im Ausbildungsgesetz zur Grundlage einer professionellen Berufsausübung definiert, der Erwerb genuiner berufsspezifischer Ethikkompetenzen wird zum prüfungsrelevanten Kernbestandteil der Ausbildung deklariert.
-
Die lernortspezifischen, aufeinander abgestimmten Curricula, welche die ethikspezifische Kompetenzentwicklung und Performanzprüfung strukturieren, sind aktuell in der Konzeption bzw. in einer ersten Erprobung. Für die curriculare Verankerung des Lerngegenstandes [Pflege]ethik einschließlich seiner methodischen Realisierung, bestehen aktuell somit enorme Entwicklungsbedarfe und erhebliche Potenziale. Dieser per se chancenreiche Prozess ist folglich auch von pädagogisch-didaktischen Herausforderungen begleitet.
-
Die Lehrenden an den unterschiedlichen Lernorten sind bislang nicht verbindlich und umfassend auf die Integration des Lehrgegenstandes [Pflege]ethik vorbereitet. Dies betrifft insbesondere Fragen der curricularen Einbindung, die Auswahl und zeitliche Phasierung exemplarischer Lerninhalte in gestuften, lernortübergreifenden Curricula, die Auswahl ethikkompetenzförderlicher lernortspezifischer Methoden, die Gestaltung und Evaluation von lernortübergreifenden Lehr-Lern-Arrangements zur Unterstützung der Ethikkompetenzentwicklung sowie die Realisierung und Evaluation von ethikkompetenzbezogenen Performanzprüfungen.
-
Zudem sind organisationsethische Entwicklungsprozesse wie z. B. die Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses einer professionellen Ethik in der Pflege und der Pflegeausbildung, oder Strukturen der Ethikberatung, welche die Ausprägung einer professionellen Ethik im Rahmen von Ausbildungsprozessen grundlegend ermöglichen, unterstützen und rahmen, sowohl in den jeweiligen Ausbildungsorganisationen als auch in den ausbildungsbezogenen Kooperationsverbünden noch weitgehend zu vollziehen.
Übergreifend ist somit zu attestieren, dass die aktuellen Veränderungsprozesse in der Pflegeausbildung in Deutschland eine noch nie dagewesene Chance der strukturellen Verankerung der Ethikbildung und der Ethiklehre in der Ausbildung offerieren, die damit verbundenen Anforderungen für die beteiligten (Lehr‑/Leitungs‑)Personen, Organisationen und Kooperationsverbünde jedoch beachtlich sind (Lehmeyer und Riedel
2022). Daran anknüpfend konkretisiert der Beitrag nachfolgend zentrale Besonderheiten der jeweiligen Lernorte mit ihren immanenten spezifischen Praxen und greift exemplarisch eine lernortspezifisch wie lernortübergreifend beachtliche Methode der Ethikbildung auf.
Anforderungen und Effekte lernortübergreifender Ethikbildung
Ethikbildung in der Pflegeausbildung ist, wie deutlich wurde, an unterschiedliche Lernorte gebunden, welche sich jeweils durch spezifische Praxen und Rahmungen konfigurieren und die potenzielle Verletzbarkeit seitens der Lernenden tangieren können. Alle Lernorte nehmen eine je individuelle Funktion hinsichtlich der lernortbezogenen Chancen und Herausforderungen für die Entwicklung der Ethikkompetenz und eines pflegeberuflichen Ethos ein (Riedel und Giese
2018). Die Qualität der Abstimmung und des Zusammenspiels der einzelnen involvierten Lernorte, ihrer konzeptionellen curricularen Grundlagen, ihrer methodischen Abstimmung und ihrer jeweils organisationsimmanenten Strukturen, Prozesse und Programme – auch im Sinne eines lernortübergreifenden (Aus‑)Bildungsverbundes – sind darüber hinaus maßgeblich dafür entscheidend, wie der Transfer zwischen den jeweiligen Praxen und Schwerpunkten der (ethischen) Wissensvermittlung und [Ethik]kompetenzentwicklung gelingt, ohne dass die immanenten Spannungen als solche aufzulösen sind. Antinomien zwischen Theorie und Praxis sind dem professionellen Handeln auch in Bezug auf ethische Fragestellungen immanent, der produktive und verantwortungsvolle Umgang mit ihnen ist als Teil professioneller Kompetenz auch im Handlungsfeld Pflege anzusehen und als solcher zum Gegenstand des Bildungs- und Persönlichkeitsentwicklungsprozesses zu machen (Helsper
2021). Im Kontext der Ethikbildung ist eine Schnittstellenoptimierung und die Bearbeitung bestehender Dysfunktionalitäten im Zusammenspiel der unterschiedlichen Lernorte, ihrer immanenten Praxen und des jeweiligen Bildungspersonals anzustreben, so dass ethische Fragen von Pflege und Ausbildung professionell, in einem auf Verständigung ausgerichteten, ethisch reflektierten und vertrauensvollen Kooperationsklima thematisiert und bearbeitet werden können (Andersson et al.
2022; Poikkeus et al.
2020; Twenhöfel et al.
2020; Numminen et al.
2015; Kappauf und Kolleck
2018). Gleiches ist angezeigt, um die beschriebenen ausbildungsbezogenen sowie lernortspezifischen Vulnerabilitätspotentiale seitens der Lernenden bestmöglich zu verhüten bzw. zu reduzieren. Hierzu rücken organisationsethische Entwicklungsprozesse in den Fokus der Betrachtung. Es gilt, organisationsspezifisch wie organisationsübergreifend, aufeinander bezogene und ethisch abgestimmte Ausbildungsstrukturen sowie Ethikstrukturen zu verankern. Dies betrifft exemplarisch Leitbilder, welche das gemeinsame Pflege- und [Aus]bildungsverständnis der kooperierenden Organisationen an den jeweiligen Lernorten thematisieren sowie organisationsübergreifende Abstimmungen hinsichtlich ethischer wie berufspädagogischer Prämissen und Leitlinien, die in dilemmatischen Pflege- und Ausbildungssituationen von den involvierten und tangierten Personen(-gruppen) getragen und realisiert werden können (Riedel und Lehmeyer
2021b; Lehmeyer und Riedel
2019,
2022).
Der grundsätzliche Effekt einer umfassenden, lernortübergreifenden Ethikbildung kann letztlich in der Professionalisierung der Pflegefachpersonen im Sinne einer „individuellen Professionalisierung“ (Helsper
2021, S. 57) im Kontext individueller Bildungswege gesehen werden, welche maßgeblich dazu beiträgt, pflegespezifische Wissensbestände, Orientierungen, Motivationen und Praxen (berufs-)biographisch herauszubilden. Derartige Bildungswege sind somit als „individuelle Voraussetzungen für die Ermöglichung von Professionalität“ (Helsper
2021, S. 57) anzusehen und nehmen übergeordnet Einfluss auf die pflegefachliche, ethisch reflektierte und menschenrechtssensible Versorgung der Bevölkerung sowie auf den je individuellen Menschen mit Pflegebedarf und seine An- und Zugehörigen (ICN
2021).
Die Entwicklung ethischer Kompetenzen im Rahmen von pflegeberuflichen Bildungsprozessen an den drei Lernorten Theorie, Praxis und betrieblicher Berufsbildung/bzw. Skillslab setzt die Exposition, Reflexion, Einordnung und normative Beurteilung unterschiedlicher Belastungssituationen voraus. Wie wirksam solche Prozesse ablaufen können, ist entscheidend von der Reflexionsfähigkeit der Lernenden, aber auch vom Lernklima an den drei Lernorten abhängig. Von größter Wichtigkeit ist der Umstand, dass das Empfinden ethischer Belastungen, resp. die Fähigkeit, diese normativ einordnen zu können, immer auch entwicklungs-, wissens- und erfahrungsbezogen ist. Belastungssituationen können sowohl die Gestalt ethischer Dilemmas, ethischer Ungewissheit oder aber die klare Verletzung ethischer Standards annehmen, in deren Folge moralischer Stress erfahren wird (Monteverde
2019). Obwohl diesen Erfahrungen ethische Unerwünschtheit gemeinsam ist, gelingt ihre normative Einordnung nicht immer, insbesondere dann, wenn der klinische Wissensstand, Erfahrung (z. B. mit Ambivalenz von Patient*innen oder Unsicherheit von Angehörigen) oder unvorhergesehene Ereignisse (z. B. fehlende Informationsübergabe bei Schichtwechsel) die Situation prägen (Monteverde
2020). Hier wird gerade von Lehrpersonen, Praxisausbildern und Bildungsverantwortlichen an den jeweiligen Lernorten nebst der Festigung ethischen Wissens, das curricular vermittelt wird, eine hohe Sensibilität verlangt, die Vulnerabilität der Lernenden zu erkennen und in Interaktionen mit diesen diejenigen schützenden Räume herzustellen, in denen ethisches Lernen möglich wird.
Um Ethikbildung zu realisieren und Professionalität anzubahnen, ist in den konzeptionellen Ausbildungsrahmungen in der Pflege die Frage zu beantworten, welche Methoden im Sinne eines an den pädagogisch-didaktischen Grundsätzen, den pädagogischen Wertmaßstäben und hinsichtlich des Gegenstands und der Zielintention des Ethikkompetenzerwerbs auszuwählen sind. Gleiches gilt bezüglich der jeweils adressat*innen-, gegenstands-, lernort- wie lernstandangemessenen pädagogisch-didaktischen Methoden. Hier sind insbesondere Formate bedeutsam, welche (Lehmeyer und Riedel
2021; Riedel et al.
2017; SAMW
2019)
-
ethische Wissensbestände thematisieren und in die Handlungspraxis der Pflege überführen,
-
den gezielten Perspektivenwechsel, empathische Annäherungsprozesse und die Situationsdeutungskompetenz unterstützen,
-
die moralische Sensibilität und professionelle Offenheit für das situative Befinden und die Vulnerabilität von Menschen mit Pflegebedarf herausbilden und kanalisieren,
-
dazu beitragen, ethische Konfliktsituationen sowie ethisch reflexionsbedürftige moralische Fragen institutioneller wie gesellschaftlicher Entwicklungen im Kontext professioneller Pflege zu identifizieren und in Dialog- und Diskussionsprozesse einzubinden,
-
die Diskurs- und Konsensfähigkeit adressieren und dabei die Ambiguitätstoleranz erhöhen,
-
die Kompetenz zur [Selbst]reflexion unterstützen und die Explikation des professionellen moralischen Standpunktes erlauben,
-
die professionelle Bezugnahme und Einordnung moralisch herausfordernder und als belastend erlebter Situationen im Kontext eines professionellen Selbstverständnisses ermöglichen.
Zur Anbahnung und Vertiefung der Ethikteilkompetenzen werden in der Ethikbildung unterschiedliche Methoden eingesetzt. Beispiele hierfür stellen das Ethik-Café, Ethik-Visiten, das Mitwirken an der Entwicklung von Ethikleitlinien, die ethisch reflektierte Fallarbeit unterschiedlichster Verankerung (erfahrungsbezogen, bild-, film-, textvermittelt usw.), das sokratische Praxisgespräch, das szenische Lernen, reflektierende, narrative Schreib- und Selbsterkundungsarbeit (etwa im Rahmen der Portfolioarbeit), Methoden des ästhetischen Lernens und Formate der ethischen Fallanalyse wie etwa eine didaktisch begleitete und eingeordnete ethische Fallbesprechung dar (Lehmeyer und Riedel
2021; Riedel und Lehmeyer
2021b,
2022; Riedel
2019; Heffels
2019; Heffels und Storms
2021; Brandt und Popejoy
2020; Marenco
2018; Carter et al.
2020). Nicht alle Methoden dienen in gleicher Weise der umfassenden Ethikkompetenzentwicklung, gleichsam sind nicht alle Teilkompetenzen der professionellen Ethikkompetenz mit einer Methode zu vermitteln. Indes besteht Einigkeit darüber, dass Ethikbildung methodisch begleitet und pädagogisch-didaktisch geplant erfolgen muss (Lehmeyer und Riedel
2021,
2022; Riedel und Lehmeyer
2022; Rabe
2020,
2017; SAMW
2019; Henke
2017; Key und Monteverde
2020; Nichols
2019; Chinn und Kramer
2018; Rohbeck
2016; Gallagher
2006). Bedeutsam sind hierbei die Methoden, die Themen aus allen und an allen drei Lernorten aufgreifen können, die lernortübergreifende Ethikbildung wie auch den lernortübergreifenden Perspektivenwechsel der Lernenden und der Lehrenden fördern und spezifische Ethikkompetenzen im Bildungsverlauf entwickeln und verdichten. Hierfür eignen sich sowohl Formate der ethischen Fallanalyse – wie etwa eine didaktisch begleitete und eingeordnete ethische Fallbesprechung – aber auch die Durchführung eines Ethik-Cafés erscheint uns in Bezug auf die lernortübergreifenden Bildungsprozesse als besonders geeignet (Riedel und Lehmeyer
2022; vgl. Manninen et al.
2020).
Ergänzend und komplettierend ist darauf hinzuweisen, dass die curriculare Verortung, die dezidierte Planung des eigentlichen Lehr-Lern-Arrangements – ausgerichtet auf die jeweiligen Lernorte, den jeweiligen Ausbildungsstand und auf die jeweilige Zielgruppe – sowie der jeweils intendierte exemplarische Situationsbezug durch die Lehrenden zu konzeptualisieren sind. Hierbei wird deutlich: Bei allen curricularen Entwicklungsprozessen gilt es aus der Perspektive der Ethikkompetenzentwicklung eine zentrale Leitdirektive explizit zu berücksichtigen und zu realisieren: „Die praktische und theoretische Wissensvermittlung [und Kompetenzentwicklung] muss auf der Grundlage einer professionellen Ethik als Querschnittsthema erarbeitet und von ihr durchdrungen werden. Ethik als Bezugswissenschaft ist Grundlage aller pflegewissenschaftlichen und praxisbezogenen Fächer/Module und konsequent zu verfolgender Gegenstand [der Lehre], der Praxisbegleitung und -anleitung“ (Riedel et al.
2017, S. 162). Die seitens der Lehrenden erforderlichen Ethikkompetenzen aus dem Bereich der Pflegeethik wie dem Bereich der pädagogischen Ethik – einschließlich der damit verbundenen ethisch fokussierten Methodenkompetenz – sind folglich als erheblich einzuschätzen.
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