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Erschienen in: Die Onkologie 1/2024

Open Access 18.10.2023 | Nebenwirkungen der Krebstherapie | Psychoonkologie

Ethische Aspekte fertilitätserhaltender Maßnahmen bei jungen krebskranken Personen

verfasst von: Ines Pietschmann, Claudia Wiesemann

Erschienen in: Die Onkologie | Ausgabe 1/2024

Zusammenfassung

Eigene Kinder zu bekommen und eine Familie zu gründen ist für viele Menschen ein wichtiger Aspekt eines guten Lebens. Die Einschränkung der Fertilität durch Krebstherapien kann für Patient*innen eine lebensgeschichtlich bedeutsame Belastung darstellen. Deshalb muss über die Möglichkeiten von fertilitätserhaltenden Maßnahmen (FEM) aufgeklärt werden. Die Entscheidung, ob diese durchgeführt werden sollen, findet in einer ohnehin belastenden Situation statt. Die Entscheidung über FEM wirft eine Reihe ethischer Fragen auf, derer sich Ärzt*innen bei der Aufklärung und Beratung bewusst sein müssen. In der Aufklärungs- und Entscheidungssituation werden Themen der Patient*innenautonomie, des Nicht-Schadens und der Gerechtigkeit verhandelt. Auch können Einstellungen zu Partnerschaft, Fragen des Kindeswohls und Alternativen zu FEM für die Entscheidung von Betroffenen wichtig sein. Der Artikel gibt einen Überblick über relevante ethische Fragen rund um fertilitätserhaltende Maßnahmen und wie damit umgegangen werden sollte.
Hinweise
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Krebstherapien können die Fertilität junger Patient*innen beeinträchtigen. Fertilitätserhaltende Maßnahmen können dabei helfen, einen späteren Kinderwunsch zu verwirklichen. Begleitet werden diese Maßnahmen jedoch von einer Reihe ethischer Aspekte. Um Patient*innen bestmöglich zu begleiten, müssen Ärzt*innen diese bei der Aufklärung und Beratung berücksichtigen.

Einleitung

Eine Krebserkrankung ist ein einschneidendes Ereignis für Betroffene jeden Alters. Wichtige Entscheidungen müssen getroffen werden, vor allem ob und wie der Krebs behandelt werden soll. Für junge Menschen im reproduktiven Alter stellen sich aber zusätzlich zu den allgemeinen Behandlungsfragen auch Fragen zu ihrer Fertilität. Im Jahr 2019 erkrankten in der Altersgruppe von 20 bis 39 Jahren 15.908 Menschen in Deutschland an Krebs [1]. Für junge Menschen zwischen 15 und 44 Jahren sind die Überlebenschancen dank der modernen Medizin sehr groß und liegen für Frauen bei 87 % und Männern 84 % (5-Jahres-Überlebensrate) [1]. Dank der guten Behandlungsmöglichkeiten stellt sich für diese Patient*innen nicht nur die Frage, ob sie überleben, sondern auch wie ein gutes Leben nach der Krebsbehandlung für sie aussehen kann und soll. Dazu gehört auch die Überlegung, ob sie (weitere) Kinder haben wollen.
Ethische Aspekte sind bei fertilitätserhaltenden Maßnahmen zu beachten
Chemo- und Strahlentherapie kann die Fertilität von Menschen im reproduktiven Alter schädigen. Die Medizin, in diesem Fall die Reproduktionsmedizin, bietet mittlerweile auch dafür Hilfen an. Es gibt verschiedene Methoden, die Fertilität von Krebspatient*innen zu erhalten. So können Ei- bzw. Samenzellen oder auch Keimzellgewebe kryokonserviert werden. Diese fertilitätserhaltenden Maßnahmen (FEM) müssen aber noch vor Beginn der potenziell fertilitätsschädigenden Krebsbehandlung durchgeführt werden.
Diese Aufklärung und die sich daran anschließende Entscheidung für oder gegen FEM finden zwangsläufig in einer bereits sehr belastenden Situation statt. Hinzu kommt, dass die Entscheidung für oder gegen FEM weitreichende Konsequenzen für die Lebensplanung der betroffenen Person mit sich bringt. Dabei spielen ethische Aspekte eine bedeutsame Rolle. Es ist wichtig, sich die Auswirkungen auf die individuelle Selbstbestimmung, die Partnerschaft, das zukünftige Kind und ganz allgemein die Vorstellungen der Patient*innen von und Erwartungen an ein gutes Leben zu vergegenwärtigen, um diese bestmöglich beraten zu können, damit sie die für sie persönlich richtige und angemessene Entscheidung treffen können. Im Folgenden soll dazu ein Überblick über die aktuelle ethische Debatte von FEM gegeben werden, und es sollen Empfehlungen zum Umgang mit FEM abgeleitet werden.

Patientenautonomie

Das Patientenrechtegesetz sichert das Recht von Patient*innen auf Information und Aufklärung sowie Selbstbestimmung [2]. Dies betrifft nicht nur Fragen des Überlebens, sondern auch der Lebensqualität während und nach der Krebsbehandlung. Die Möglichkeit zur Gründung einer Familie gehört ganz wesentlich zu den Aspekten eines guten Lebens. Der Fertilitätserhalt nach Krebsbehandlung zählt damit zu Recht zu den Maßnahmen, über die nicht nur aufgeklärt werden muss, sondern die auch in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen wurden. Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) übernimmt seit 2021 die Kosten der FEM (bzw. seit 2023 die der Kryokonservierung von Keimzellgewebe) in Gänze. Dies umfasst die Entnahme, Aufbereitung, Lagerung und das spätere Auftauen der Zellen [3]. Patient*innen haben insofern nicht nur ein Recht zu erfahren, dass die Krebsbehandlung ihre Fertilität beeinträchtigen kann, sondern auch, dass es Möglichkeiten gibt, diese zu schützen. Daraus folgt auch das Recht auf eine freie Entscheidung, ob und welche FEM in Anspruch genommen werden.
Patient*innen haben ein Recht, über Fertilitätserhalt zu entscheiden
Diese Entscheidung sollte nicht nur informiert, sondern auch frei von Zwang erfolgen können [4]. Der starke Zeitdruck, der durch den oft notwendigen zügigen Beginn der Krebsbehandlung entsteht, sowie die häufig starke psychische Belastung, die allein durch die Krebsdiagnose ausgelöst wird und sich mit der Bedrohung der Fertilität noch zunehmen kann, versetzt die entscheidende Person in eine Ausnahmesituation. Oft ist eine gründliche Reflexion der Entscheidung nur eingeschränkt möglich [5]. Um dennoch eine informierte Entscheidung zu gewährleisten, sollte ein ausreichender Freiraum für die Abwägung des Für und Wider von FEM geschaffen und emotionale Unterstützung angeboten werden. Ohnehin darf nicht übersehen werden, dass die Möglichkeit zur Entscheidung über FEM Patient*innen ein in dieser Situation wichtiges Gefühl von Empowerment verschaffen kann. FEM ermöglicht es ihnen, das Leben nach dem Krebs ins Auge zu fassen und selbst etwas für ihr (gutes) Leben nach der Krebsbehandlung zu tun. Das wiederum erzeugt einen eigenen therapeutischen Mehrwert [6].
Gelegentlich werden auch die Grenzen der reproduktiven Selbstbestimmung bei Krebspatient*innen diskutiert. Kritisch gefragt wird, ob auch Patient*innen mit einer schlechten Überlebensprognose einen Anspruch auf FEM haben sollten, da es aus Gerechtigkeitsgründen besser sei, die prinzipiell beschränkten Ressourcen des Gesundheitswesens an anderer Stelle einzusetzen. Da es jedoch im Bereich der Krebsbehandlung kaum möglich sein wird, den Ausgang der Behandlung zuverlässig zu prognostizieren, und die reproduktive Selbstbestimmung zu den menschlichen Grundrechten zählt, ist eine solche Einschränkung der Autonomie in aller Regel nicht zu rechtfertigen [6, 7].
Wegen der großen Bedeutung der Selbstbestimmung im Kontext von FEM sollten lokale Standards entwickelt werden, wann, wie und durch wen Patient*innen informiert und aufgeklärt werden. Dies ist vor allem in klinischen Settings entscheidend, in denen die Behandlung der Patient*innen in Zusammenarbeit von verschiedenen Behandelnden und Einrichtungen erfolgt und das Thema Fertilitätserhalt im Gewirr der Zuständigkeiten leicht unterzugehen droht. Immerhin geht es bei der Familiengründung um eine wesentliche Bedingung guten Lebens. Der Verlust der Fertilität kann zudem zu signifikanten Problemen des Selbstwerts und der Geschlechtsidentität sowie bei der Aufrechterhaltung von intimen Beziehungen führen [5]. Ein unerfüllter Kinderwunsch kann starke psychische Belastungen bis hin zu Depressionen auslösen [8]. Eine Aufklärung über FEM zu versäumen muss insofern mittlerweile als Behandlungsfehler gewertet werden.

Nicht-Schaden

In Fällen, in denen die Krebsbehandlung aufgrund der Dringlichkeit so bald wie möglich begonnen werden muss, muss eine Schadensabwägung erfolgen. Je nach notwendiger Methode kann die Bedenkzeit der Patient*innen, aber auch die Zeit bis zur Durchführung der FEM zu einer nicht unerheblichen Therapieverzögerung führen. Auch die FEM selbst können Risiken für die Grunderkrankung mit sich bringen. So kann die für die Eizellgewinnung notwendige hormonelle Stimulation den unter Umständen bereits geschwächten Körper der Patient*in weiter belasten. Diskutiert wird vereinzelt, ob Patient*innen deshalb ggf. ein Anspruch auf FEM verwehrt werden darf, damit die Folgen eines Therapieaufschubs verhindert und ein Schaden von den Patient*innen abgewendet wird [6]. Bei einer solchen Abwägung bewerten die behandelnden Personen den Schaden durch den Therapieaufschub als gravierender als den Schaden des Verlusts der Fertilität. Die Gewichtung und Abwägung der unterschiedlichen Schadenspotenziale in ihrer jeweils subjektiven Bedeutung steht jedoch allein den betroffenen Patient*innen zu. Eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts aufgrund einer noch so gut gemeinten paternalistischen Entscheidung ist ethisch und rechtlich nicht zulässig. Gefordert ist vielmehr, mithilfe von gut organisierten Behandlungsprozessen einem für die betroffene Person schädlichen Zeitverzug möglichst entgegenzuwirken.

Partnerschaft

Geht es um Kinderwunschthemen, stellt sich in der Regel die Frage nach der Rolle der Partner*innen. Auch bei FEM ist zu klären, welche Rolle diese in der Entscheidungssituation spielen und spielen sollen. Zu fragen ist, ob und wie sie zusätzlich zur/m betroffenen Patient*in über FEM aufgeklärt werden sollen [9]. In der Regel wird die Entscheidung darüber den Krebspatient*innen überlassen werden müssen. Partner*innen können eine wichtige unterstützende Rolle im Entscheidungsprozess einnehmen. Beachtet werden muss, dass mit der Entscheidung über eine Kryokonservierung nur von Eizellen oder alternativ von schon mit dem Partner*samen befruchteten Eizellen komplexe psychosoziale, die Beziehung betreffende Fragen verbunden sind. Eine Einbeziehung von Partner*innen ist spätestens dann notwendig, wenn sie direkt in den Prozess der FEM involviert sind, wenn also befruchtete Eizellen eingefroren werden sollen. In diesem Fall sollte überdies nicht versäumt werden, Überlegungen darüber anzustellen, was mit den Keimzellen nach einer Trennung oder dem in dieser spezifischen Situation auch nicht ganz unwahrscheinlichen Versterben eines Partners geschehen soll [6].
Kinderwunsch und FEM sind ein Partnerschaftsthema
Partnerschaft ist insofern ein bedeutsames Thema in der konkreten Entscheidungssituation. Dies wird in der Praxis bisher noch unzureichend reflektiert. Beratung hinsichtlich der psychologisch komplexen und schwierigen Aspekte von zukünftiger Elternschaft, aber auch hinsichtlich Trennung und Tod sollte angeboten werden. Informationsmaterialien sollten immer auch auf Partnerschaftsfragen eingehen und über die verschiedenen Alternativen mit Blick auf die damit verbundenen Vorentscheidungen zu zukünftiger Elternschaft aufklären.

Kindeswohl

Auch das Kindeswohl wird bei der Entscheidung über die Inanspruchnahme von FEM mitverhandelt, wobei im Kontext der Fortpflanzungsmedizin zumeist nicht deutlich gemacht wird, wie dieser vergleichsweise unpräzise Begriff zu verstehen ist [10]. Ein staatliches Eingreifen zugunsten des Kindes ist erst bei Kindeswohlgefährdung erforderlich; eine solche Gefahr setzt allerdings die Existenz eines Kindes voraus und ist nicht schon bei der Planung einer möglichen zukünftigen Fortpflanzung zu vermuten. Zwar muss in Betracht gezogen werden, dass der krebskranke Elternteil verstirbt, noch bevor das Kind das Erwachsenalter erreicht, doch kann dies nicht grundsätzlich gegen FEM als prinzipiell lediglich Optionen offenhaltende Techniken sprechen. Denn ob die kryokonservierten Keimzellen tatsächlich für die Fortpflanzung genutzt werden, wird von vielen Faktoren abhängen, die sich erst im Anschluss an die Krebsbehandlung ergeben werden. Da allerdings auch hochaltrige Männer mit geringer Lebenserwartung noch Kinder zeugen (dürfen), lassen sich ohnehin aus Gründen der Gerechtigkeit kaum Einwände gegen die vorausschauende Familienplanung einer krebskranken Person vorbringen.
Verantwortliche Elternschaft schließt Überlegungen zum Kindeswohl ein
Themen wie verantwortliche Elternschaft werden dennoch in den Überlegungen der betroffenen Personen eine prominente Rolle spielen und können die Entscheidung für oder gegen FEM maßgeblich bestimmen. Patient*innen können sich die Frage stellen, ob sie ihren Kinderwunsch trotz ihrer Krebserkrankung rechtfertigen können. Sie werden sich fragen, ob sie lange genug leben werden, um diese Kinder aufwachsen zu sehen, oder ob sie gesund genug sein werden, ihrem Kind ein gutes Leben zu gewährleisten [11]. Auch die Sorge, dass Veranlagungen für Krebserkrankungen weitervererbt werden können, können Betroffene beschäftigen [11]. Solche Sorgen müssen im Aufklärungsgespräch angesprochen und – wenn möglich – ausgeräumt werden.

Gerechtigkeit

Die rechtliche Regelung in Deutschland von FEM und den sich ggf. anschließenden Fertilitätsbehandlungen erzeugt eine Reihe von Gerechtigkeitsproblemen, dessen sich die behandelnden Personen bewusst sein sollten. Die Kosten für die Kryokonservierung von Eizellen, Samenzellen oder befruchteten Keimzellen werden seit 2021 von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Das beinhaltet alle notwendigen Voruntersuchungen, Eingriffe und auch die Lagerung der Zellen. Seit 2023 muss die GKV auch die Kryokonservierung von Keimzellgewebe übernehmen [3]. Trotz dieser Regelungen berichten jedoch Betroffene von Problemen bei der Kostenübernahme. So kann es sich als Problem erweisen, dass die Krankenkassen nicht mit allen Kliniken direkt abrechnen können, weshalb Patient*innen in Vorleistung gehen müssen oder Kosten nicht erstattet bekommen [12]. Bei Kosten von mehreren tausend Euro ist dies nur für wohlhabendere Personen problemlos möglich. Ist das der ausschlaggebende Grund, FEM nicht in Anspruch zu nehmen, erzeugte dies ein eigenes Gerechtigkeitsproblem.
Finanzierungslücken und Altersgrenzen sind Gerechtigkeitsprobleme
Aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit lassen sich auch Regelungen kritisieren, die einen Anspruch auf Kostenübernahme sowohl für FEM als auch für die spätere Inanspruchnahme von Maßnahmen assistierter Reproduktion durch die GKV für Frauen nur bis zum 40. Lebensjahr, Männern jedoch bis zum 50. zusichern [3]. Hier ist zum einen zu berücksichtigen, dass die Schwangerschaftsrisiken älterer Frauen weniger dramatisch zunehmen als üblicherweise befürchtet und teils durch soziale Faktoren (Bildung, sozioökonomischer Status) kompensiert werden [13]. Zudem muss bedacht werden, dass der Aufschub der Schwangerschaft bei der Frau ins höhere Alter durch die Krebstherapie quasi erzwungen wird, sie also systematisch benachteiligt werden würde, wenn bei ihr die gleiche Altersgrenze gelten würde wie bei gesunden infertilen Frauen.
Bei jugendlichen krebskranken Patient*innen gilt die Einschränkung, dass die hormonelle Stimulationsbehandlung nur „unter Beachtung der Grenzen der arzneimittelrechtlichen Zulassung“ [3] durchgeführt werden darf. Allerding sind die entsprechenden Arzneimittel nicht für Kinder und Jugendliche zugelassen, weshalb Mädchen Eizellen nur kryokonservieren lassen können, wenn die Krankenkasse einen Antrag auf Off-Label-Use bewilligt. Die Erfolgsaussichten eines solchen Antrags lassen sich nicht gut abschätzen. Bedenkt man die Bedeutung der Fortpflanzung und Familiengründung für ein gutes Leben, besteht hier dringender Forschungs- und Regelungsbedarf. Die Durchführung von FEM vor der Pubertät ist bislang noch in der experimentellen Erprobung.
Das Verbot der Eizellspende im Embryonenschutzgesetz erzeugt ein weiteres Gerechtigkeitsproblem. Wenn Krebspatientinnen später noch Kinder haben wollen, haben sie keine andere Möglichkeit als FEM und anschließend eine IVF (In-vitro-Fertilisation) mit den eigenen Eizellen. Wie weiter unten noch eingehender erläutert wird, ist Adoption keine realistische Alternative. Männer könnten dagegen später auch auf Samenspende zurückgreifen. Frauen stehen damit weniger Optionen zur Verfügung als Männern, dies erhöht den Entscheidungsdruck in der Gegenwart; sie müssen im Zweifelsfall den Therapieaufschub in Kauf nehmen oder sich schon in jungen Jahren von ihrem Kinderwunsch verabschieden. Zwar wären Eizellspende und Leihmutterschaft in vielen Nachbarländern legal, sodass Patient*innen mit Kinderwunsch später zur Behandlung ins Ausland reisen könnten, jedoch dürfen dies behandelnden Ärzt*innen in der Entscheidungssituation über FEM nicht als Option aufzeigen, da auch die Beratung zu solchen Methoden als Mitwirkung an einer Straftat gewertet werden kann.

Alternativen zu FEM

Die Frage nach Alternativen zu FEM stellen sich viele Patient*innen, sei es aufgrund mangelnder medizinischer Möglichkeiten, rechtlicher Beschränkung oder religiöser bzw. kultureller Vorbehalte gegenüber der Fortpflanzungsmedizin. Oft sind allerdings die Kenntnisse über die Möglichkeiten der Fortpflanzungsmedizin falsch oder lückenhaft, etwa, was die Keimzellspende betrifft. In diesem Fall ist eine gute Aufklärung wichtig, damit das Selbstbestimmungsrecht effektiv wahrgenommen werden kann. Auf die Alternative der Adoption oder der Pflegeelternschaft sollten Patient*innen hingewiesen werden. Allerdings ist die Fremdkindadoption für Menschen mit einer Krebsvorgeschichte keine realistische Alternative, da in Deutschland nur sehr wenige Kinder zur Adoption freigegeben und sich ein Vielfaches mehr Menschen als Adoptiveltern bewerben. Auch die Auslandsadoption ist mit eigenen ethischen Problemen verbunden und sollte nicht als unproblematische Alternative in Betracht gezogen werden. Vielen Personen wird es zudem wichtig sein, mit dem zukünftigen Kind genetisch verbunden zu sein. Auch dieses Motiv lässt die Adoption vermutlich als weniger wünschenswert erscheinen.

Gutes Leben

Die Frage, ob Kinder zum eigenen guten Leben dazu gehören, stellen sich viele Menschen irgendwann in ihrem Leben. Für junge Krebspatient*innen dürfte sich diese Frage in der Regel überraschend und mit einer besonderen Dringlichkeit ergeben. Vorstellungen guten Lebens sind oft bei jungen Menschen noch sehr vage. Die Erkrankung nötigt sie in unvorhergesehener Weise zu einer Präzisierung und Konkretisierung dieser Vorstellungen. Dabei geht es um die biografische Langzeitperspektive, d. h. die Fähigkeit, sich selbst in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren zu imaginieren, diese Zukunft zu planen und dabei zukünftiges Bedauern über möglicherweise verpasste Chancen zu antizipieren. Die Krebserkrankung, die auf den ersten Blick Zukunftsoptionen zu verschließen scheint, kann sich so paradoxerweise horizonterweiternd auswirken. Diesen Effekt können die behandelnden Personen therapeutisch einsetzen. Über die Gründung einer Familie nach überstandener Krebsbehandlung noch vor Beginn der Behandlung nachzudenken, kann den betroffenen Personen seelische Kraft und Ausdauer für die beschwerliche Behandlungsphase verschaffen. Dabei sind Bilder eines „normalen“ Lebens nach der Erkrankung hilfreich [11]. Dieser positive Effekt einer Information und Aufklärung über FEM sollte nicht unbeachtet bleiben, weil er in der Lage ist, die negativen Auswirkungen durch Zeit- und Entscheidungsdruck abzumildern.
Vorstellungen eines guten Lebens spielen bei FEM eine maßgebende Rolle
Vorstellungen guten Lebens in der Zeit variieren abhängig von individueller Erfahrung, familiärer Geschichte und schicht- sowie kulturbezogenen gesellschaftlichen Prägungen. Einstellungen zu Elternschaft sind in beträchtlichem Ausmaß von gesellschaftlichen Normen und Werten geprägt. Betroffene Patient*innen bilden sich deshalb nicht nur aufgrund eigener Wünsche und Bedürfnisse eine Meinung zu FEM, sondern werden durch gesellschaftliche Erwartungen beeinflusst. Für die Entscheidung relevant sind also nicht nur die Haltung von Patient*innen und ihres Umfelds zur Reproduktionsmedizin, sondern auch der Stellenwert der Familie und die soziale Bedeutung von Infertilität [6, 14, 15]. Kulturelle Herkunft oder religiöse Einstellungen können nicht nur beeinflussen, wie Patient*innen zu FEM stehen, sondern auch, wie und mit wem sie überhaupt über Fortpflanzungsthemen sprechen wollen. Solche Fragen müssen kultursensibel thematisiert werden.

Fazit für die Praxis

Es zeigt sich, dass die Entscheidung über fertilitätserhaltende Maßnahmen (FEM) viele ethische Fragen aufwirft, die bei der Aufklärung und Beratung von Patient*innen und Partner*innen adressiert werden müssen. Nur so können sie darin unterstützt werden, eine für sie angemessene Entscheidung über FEM und ihr zukünftiges gutes Leben treffen zu können.
Folgende Aspekte sind zu berücksichtigen:
  • Fortpflanzung und Familie sind wesentliche Aspekte eines guten Lebens. Dies gilt auch für jüngere Menschen mit Krebserkrankungen.
  • Wegen der Bedeutung des Rechts auf Selbstbestimmung gerade in so höchstpersönlichen Angelegenheiten haben Krebspatient*innen einen Anspruch darauf, über FEM aufgeklärt zu werden und eine informierte Entscheidung zu treffen.
  • Behandelnde sollten einen gut organisierten Beratungs- und Behandlungsprozess sicherstellen, der auch die komplexen psychosozialen Fragen und das Thema Partnerschaft berücksichtigt
  • Während Fragen des Kindeswohls in rechtlicher Hinsicht keine Rolle bei der Bereitstellung von FEM spielen dürfen, können diese jedoch bei der Abwägung des Für und Wider für die Betroffenen von großer Bedeutung sein. Dies gilt es ernst zu nehmen und Ängste, wenn möglich, auszuräumen.
  • Komplizierte Abrechnungspraktiken, Altersgrenzen und die Einschränkungen des Zugangs zu Reproduktionstechniken wie der Eizellspende wirken sich nicht nur belastend für die Patient*innen aus, sondern erzeugen eigene Gerechtigkeitsprobleme.
  • Patient*innen müssen über Alternativen zu FEM und deren Grenzen informiert werden. Bei der Beratung sollte auf kulturspezifische Bedürfnisse sensibel eingegangen werden.
  • Die Möglichkeit, über die Bedingungen eines guten Lebens nach der Krebstherapie nachzudenken, kann Betroffenen Kraft und Ausdauer spenden und somit einen positiven Einfluss auf die Genesung haben.

Danksagung

Die Autorinnen danken Prof. Dr. Joachim Weis für die Hilfe beim Erstellen des Manuskripts.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

I. Pietschmann und C. Wiesemann geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Metadaten
Titel
Ethische Aspekte fertilitätserhaltender Maßnahmen bei jungen krebskranken Personen
verfasst von
Ines Pietschmann
Claudia Wiesemann
Publikationsdatum
18.10.2023
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Die Onkologie / Ausgabe 1/2024
Print ISSN: 2731-7226
Elektronische ISSN: 2731-7234
DOI
https://doi.org/10.1007/s00761-023-01421-x

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