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Malignes neuroleptisches Syndrom (MNS)

Verfasst von: Heike Kaltofen, Dierk A. Vagts, Uta Emmig und Peter Biro
Synonyme
Engl. „neuroleptic malignant syndrome“
Oberbegriffe
Myopathie, pharmakogenetische Erkrankung, psychopharmakainduzierte Idiosynkrasie.
Organe/Organsysteme
Muskulatur, ZNS, Stoffwechsel.
Inzidenz
Bei ca. 0,07–2,2 % der chronischen neuroleptischen Medikationen. Es wird eine gewisse Häufung bei jungen Männern postuliert.
Ätiologie
Unklar. Es wird eine zentrale dopaminhemmende Wirkung der Triggersubstanzen im Bereich der Basalganglien und des Hypothalamus sowie peripher eine Hemmung der Kalziumaufnahme in das sarkoplasmatische Retikulum der quer gestreiften Muskelzellen (analog zum Pathomechanismus der malignen Hyperthermie) vermutet. Auch eine verminderte Verfügbarkeit von Dopamin könnte eine Rolle spielen. Der Pathomechanismus beruht auf einer Steigerung der aeroben und anaeroben Stoffwechselprozesse mit nachfolgender Rhabdomyolyse. Die Mortalität liegt zwischen 5 und 22 %.
Pharmaka, die mit der Auslösung einer MNS in Zusammenhang gebracht wurden:
  • Phenothiazine,
  • Thioxanthine,
  • Fluphenazin,
  • Droperidol,
  • Metoclopramid,
  • Trabenazin,
  • Loxapin,
  • Ecstacy,
  • Risperdon,
  • Citalopram,
  • Zuclopenthixol,
  • Ziprasidon,
  • (Entzug von) Levodopa.
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Maligne Hyperthermie, akute febrile (letale) Katatonie, King-Sy, zentral-anticholinerges Sy, Hyperthyreose, Tetanie, Enzephalopathien, Broadbent-Sy, Ombredanne-Sy, Irritations-Sy des Mesodienzephalon, malignes Dopa-Entzugs-Sy (bei abruptem Absetzen der medikamentösen Parkinson-Therapie), subdurale Kontrastmittelinjektion (iatrogen), Sepsis, pharmakainduziertes Fieber (z. B. nach MAO-Hemmern, trizyklischen Antidepressiva), Serotonin-Sy, sog. „Hitzschlag“.
Beachte
Im Unterschied zur MH erfolgt die Triggerung durch Neuroleptika, wobei die Entwicklung der Erkrankung vergleichsweise langsam (über Stunden, Tage oder Wochen) verläuft.

Symptome

Hyperthermie (Hyperpyrexie) bis ca. 41 °C, Hypermetabolismus, Muskelrigidität (Rigor), Trismus, Masseterspasmus, vegetative Dysfunktion, Blutdruckschwankungen, Tachypnoe, Tachykardie, extrapyramidale Störungen, Opisthotonus, wechselnde Bewusstseinsstörungen (fluktuierendes Koma), Agitation, Diaphorese. Die Symptomatik setzt Tage oder Wochen nach Ansetzen der neuroleptischen Medikation ein und entwickelt sich bis zum Vollbild innerhalb 24–72 h. Die längste berichtete Latenzzeit liegt bei 30 Jahren (!) bei einem Patienten, der chronisch mit Clozapin behandelt wurde und nach 3 Jahrzehnten daraufhin ein MNS entwickelte.
Prädisponierende Faktoren sind erhöhte Umgebungstemperatur, Dehydratation, Alkoholismus, Infektionen und Lithiumkomedikation.
Labor
CK-(CPK-) Erhöhung, Kaliumanstieg, Leukozytose, Leberenzyme, Myoglobin im Serum und Urin, Eisenmangel.
Vergesellschaftet mit
Über einen Zusammenhang mit dem Hallervorden-Spatz-Sy ist berichtet worden.
Therapie
Dantrolen, Bromocriptin, Amantadin, Diazepam, Lorazepam, elektrokonvulsive Therapie (Elektroschocks), Thromboseprophylaxe, Wiederaufnahme einer (unterbrochenen) Anti-Parkinson-Medikation. Solange die Diagnose nicht gesichert ist, sollte eine empirische antibiotische Therapie begonnen und ggf. nach mikrobiologischer Ausschlussdiagnose wieder abgesetzt werden.

Anästhesierelevanz

Im Gegensatz zur MH tritt das MNS nicht primär im Zusammenhang mit Anästhesien, sondern im Rahmen von psychopharmakologischen Therapien auf. Aufgrund des langsameren Verlaufs wird der Anästhesist in der Regel nicht unerwartet mit dem Problem des MNS konfrontiert. Die Diagnose sollte präoperativ bekannt sein. Außer der Unterlassung einer neuroleptischen Medikation ist die Vorgehensweise die gleiche wie bei bekannter maligner Hyperthermie. Wichtig ist die Aufrechterhaltung der kompromittierten Vitalfunktionen, nämlich Kreislauf-, Volumen- und Hydratationsstatus, sowie die Atmung.
Spezielle präoperative Abklärung
Umfassende Untersuchung der vitalen Organfunktionen und der Homöostase (Wasser-Elektrolyt- und Säure-Basen-Status) bzw. „großes Routinelabor“; Blutbild inklusive Thrombozyten, CK (CPK), AST, ALT, LDH, Gerinnungs-, Leber- und Nierenfunktionsparameter.
Wichtiges Monitoring
Invasive Blutdruckmessung, zentraler Venendruck, perioperativ kontinuierliche Temperaturkontrolle, Kapnographie, Pulsoxymetrie, Atemfrequenzmessung und Volumetrie bei Spontanatmung.
Vorgehen
Am wichtigsten ist das Weglassen von MNS-auslösenden Substanzen und Faktoren. Es sollten die gleichen anästhesiologischen Indikationen und Kontraindikationen gestellt werden wie bei der MH (s. Kap. „Maligne Hyperthermie, MH“). In einem Fallbericht wird die erfolgreiche Verwendung von Rocuronium mit anschließender Antagonisierung durch Sugammadex als Substitut für Succinylcholin bei der Durchführung einer Elektrokrampftherapie eines MNS-Patienten beschrieben.
Neben der Vermeidung auslösender Faktoren und der hoch dosierten Dantrolentherapie über mehrere Tage (s. Kap. „Maligne Hyperthermie, MH“) ist die unspezifische Intensivbehandlung der aktuellen Symptomatik – insbesondere die frühzeitige Wiederherstellung der Homöostase und der normalen Organfunktionen – von wesentlicher Bedeutung: Rehydrierung, Temperaturkontrolle, Behandlung von Elektrolytstörungen.
Cave
Neuroleptika und die bekannten MH-Triggersubstanzen (Succinylcholin, volatile Anästhetika).
Weiterführende Literatur
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