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Rett-Syndrom

Verfasst von: Heike Kaltofen, Uta Emmig, Dierk A. Vagts und Peter Biro
Rett-Syndrom.
Synonyme
RTS; RTT
Oberbegriffe
Neurologische Entwicklungsstörung, Enzephalopathie, neuropsychologische Erkrankung.
Organe/Organsysteme
ZNS, Stoffwechsel, Reizleitungsystem (Herz).
Inzidenz
Prävalenz 1:30.000 (Gynäkotropie). Neben dem Down-Syndrom wahrscheinlich die häufigste, genetisch bedingte, mentale Retardierung bei Mädchen. Sehr früh letale Einzelfälle des Rett-Syndroms bei männlichen Neugeborenen mit Symptomen einer schweren Enzephalopathie und ausgeprägten Atemstörung sind dokumentiert. Neben dem klassischen Rett-Syndrom werden atypische Varianten mit unterschiedlicher Ausprägung des Krankheitsbilds beschrieben.
Ätiologie
X-chromosomal-dominanter Erbgang oder Neumutation an einem x-chromosomalen Gen (MECP2). Reifungsstörung des zentralen Nervensystems. Diffuse Hirnatrophie, veränderter Gehalt an Neurotransmittern und Rezeptoren (präsynaptisches Defizit nigrostriataler Aktivität). Die Pathogenese ist noch unklar.
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Autismus und Angelmann-Sy, Fölling-Sy, Citrullinämie-Sy, Hartnup-Sy, Histidinämie-Sy, Argininbernsteinsäure-Sy, Heller-Sy, Kramer-Pollnow-Sy. In der Regel können Speicherkrankheiten bei Fehlen einer Organmanifestation ausgeschlossen werden.

Symptome

Normale Entwicklung bis zum 6.–18. Lebensmonat. Darauf folgend progressive Verzögerung von Sprache und Motorik. Entwicklung von Bewegungsstereotypien (handwaschartige Bewegungen, Choreoathetose, Kneten, rhythmisches Klopfen, Schlagen), epileptische Krampfanfälle. Verlust der bereits entwickelten Kommunikationsfähigkeit, Autismus, Oligophrenie. Verlust der Gehfähigkeit bei Hyperreflexie, Spastik, Mikrozephalie, Haltungsanomalien und neuromuskuläre Skoliose nach einigen Jahren, Schlafstörung. Etwa ab dem 4. Lebensjahr verlangsamt sich der Krankheitsverlauf. Das mittlere Erwachsenenalter kann erreicht werden.
Labor
Evtl. Hyperchlorämie, Hyperammonämie, Laktatazidose.
Vergesellschaftet mit
Störung der Atemsteuerung, typischerweise im Wachzustand unregelmäßige Atemmuster mit Hyperventilations- und Apnoephasen. Gestörte Koordination des Schluckaktes, Hypersalivation, Obstipation. Verändertes Schmerzempfinden. Gestörte Temperaturregulation. Erhöhtes Arrhythmierisiko bei Verlängerung des QT-Intervalls mit erhöhter Inzidenz eines plötzlichen Herztods, kardiovaskuläre autonome Dysfunktion.
Therapie
Eine gezielte Therapie ist bisher noch nicht möglich. Tierexperimentelle Versuche einer Gentherapie sind vielversprechend. Ergotherapie, Therapieversuche mit serotoninergen Agonisten zur Behandlung von Atemstörungen oder Melatonin bei Schlafstörungen sind beschrieben.

Anästhesierelevanz

Eine anästhesiologische Betreuung der Patienten ist häufig erforderlich für Dentalsanierungen, Operationen zur Skoliosekorrektur, Platzierung von Ernährungssonden oder Gastrostomien. Die Patienten sind in der Regel wenig kooperativ, so dass regionalanästhesiologische Verfahren am wachen Patienten schwer durchführbar sind. Darüber hinaus ist eine Veränderung der Blutgerinnung durch Antikonvulsiva möglich. Intraoperativ besteht ein erhöhtes Risiko für Lagerungsschäden. Erhöhtes Risiko für Herzrhythmusstörungen mit der Gefahr des plötzlichen Herztods, sowie für multifaktorielle respiratorische Komplikationen (mechanische Behinderung der Atemarbeit durch Thoraxdeformitäten, gestörtes Atemmuster auch im Wachzustand, zentrale Atemdepression durch Opioide und Benzodiazepine, unzureichende neuromuskuläre Erholung).
Die Gestaltung der postoperativen Schmerztherapie ist schwierig, da in der Regel keine Kontaktmöglichkeit mit den Patientinnen besteht.
Spezielle präoperative Abklärung
Serumelektrolyte (Chlorid, Natrium), Harnstoff, Kreatinin. Thoraxröntgen, Lungenfunktionsprüfung wenn möglich, EKG. Bei antiepileptischer Therapie mit Valproinsäure Durchführung einer erweiterten Gerinnungsdiagnostik (Blutungszeit, Thrombelastogramm), evtl. Umstellung der antiepileptischen Medikation. Detaillierte neurologische Untersuchung mit Dokumentation.
Wichtiges Monitoring
Kontinuierliche Temperaturkontrolle, Pulsoxymetrie, Kapnographie, ggf. Blutgasanalyse zur Kontrolle der Normoventilation, Relaxometrie. Diurese, Elektrolyt- und Säure-Basen-Status.
Vorgehen
Eine sedierende Prämedikation (z. B. mit Benzodiazepinen oral, nasal oder rektal) kann insbesondere den Umgang mit jüngeren Kindern erleichtern, muss aber kontinuierlich bis zum Beginn der Anästhesie überwacht werden wegen erhöhter Empfindlichkeit und des hohen Risikos einer Atemdepression. Ältere Patientinnen benötigen in der Regel keine sedierende Prämedikation, da in höherem Alter meist eine autistische Reaktionslosigkeit vorherrscht.
Eine Anästhesieeinleitung mit Ketamin intranasal ist ebenso möglich wie eine Einleitung per inhalationem, jedoch ist die häufig erhöhte Aspirationsgefahr zu beachten und eine angepasste Ileuseinleitung meist vorzuziehen. Bei eingeschränkter Mundöffnung und Reklinationsfähigkeit der Halswirbelsäule sowie Mikrognathie ist mit einer erschwerten Atemwegssicherung zu rechnen. Um eine Hyperkaliämie bei bestehender spastischer Parese zu vermeiden, sollte auf Succinylcholin verzichtet werden.
Auf den Einsatz QT-Zeit-verlängernder Medikamente, wie z. B. Antipsychotika, Antiarrhythmika und Antidepressiva, sollte möglichst verzichtet werden.
Intraoperativ ist die Beatmung an das Atemmuster des wachen Patienten anzupassen. Bei den meisten Patienten besteht eine Erhöhung der Atemfrequenz um bis zu 20 %.
Die Überwachung der neuromuskulären Erholung mittels Relaxometrie ist obligat. Durch die Korrektur eines präoperativen Flüssigkeitsdefizits und anschließende differenzierte Infusionstherapie können Kreislaufinstabilitäten als Ausdruck der vegetativen Störung vermindert werden. Die Aufwachphase kann auch beim Einsatz kurzwirksamer Substanzen erheblich verlängert sein. Daher sollte die erforderliche intensivere Überwachung frühzeitig organisiert werden.
Regelmäßige, zurückhaltend dosierte Gaben von Analgetika bewirken eine suffiziente Analgesie bei den Patienten, die in der Regel keine Schmerzäußerungen zeigen. Wenn immer möglich, sollten Allgemeinanästhesien mit Regionalverfahren kombiniert werden. Bei Wiederaufrichtungsoperationen der Wirbelsäule kann ein intraoperativ eingelegter Periduralkatheter zu einem guten Patientenkomfort beitragen.
Cave
Succinylcholin, Atemdepression, Auskühlung, Lagerungsschäden, Elektrolyt- und pH-Entgleisungen, autonome Dysregulation.
Weiterführende Literatur
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