Bei der Strahlenmyelopathie
handelt es sich um eine iatrogene Schädigung des Rückenmarks durch Bestrahlung von Wirbelsäulen- oder Rückenmarktumoren oder von extraspinalen Tumoren der Körpermittellinie. Die klinische Symptomatologie eines
Brown-Séquard-Syndroms, eines Transversalsyndroms oder einer Vorderhornläsion manifestiert sich mit einer Latenzzeit von durchschnittlich 14 Monaten nach Beginn der
Strahlentherapie. Die Dauer der Latenzzeit und das Ausmaß der neurologischen Symptome hängen von der applizierten Strahlendosis ab. Meist führt das Krankheitsbild zu einer hochgradigen Behinderung des Patienten.
Klinisch werden von der Strahlenmyelopathie drei klassische Rückenmarksyndrome imitiert:
Die klinische Symptomatologie zeigt sich subakut. Innerhalb weniger Tage treten zunächst segmentale Reizerscheinungen in Höhe der Läsion in Form von brennenden Schmerzen oder Kribbelparästhesien auf; nachfolgend manifestieren sich innerhalb weniger Tage rasch zunehmende spastische Paresen und initial oft dissoziierte Sensibilitätsstörungen. Im Verlauf von wenigen Wochen entwickelt sich dann häufig stotternd (schubförmig) aus einer halbseitigen Schädigung des Rückenmarks in Form des
Brown-Séquard-Syndroms ein Spinalis-anterior- bzw. ein komplettes Transversalsyndrom. Dabei kann die zervikale und thorakale Strahlenmyelopathie in jedem Stadium zum Stillstand kommen – es ist im Einzelfall nicht vorherzusagen, ob es zu einem kompletten Querschnittsbild mit Blasen- und Mastdarmlähmung kommt oder nicht.
Wesentlich protrahierter ist der Verlauf bei den strahlenbedingten Motoneuronsyndrome
n. Sowohl bei dem klinischen Bild der Bulbärparalyse mit multiplen Hirnnervenkernausfällen (Shapiro et al.
1996) als auch bei der lumbalen Vorderhornschädigung mit progredienten schlaffen atrophischen Paresen der unteren Extremitäten (Berlit
1989) entwickelt sich die klinische Symptomatik schleichend über Wochen und Monate. Initial zeigt sich oft eine monomelische Atrophie und Parese mit Fortschreiten über Wochen und Monate, bis ein weitgehend symmetrisches Läsionsbild resultiert, das im Bereich der unteren Extremitäten schwerpunktmäßig die Myotome L4, L5 und S1 betrifft und im Bulbärbereich die kaudalen motorischen Hirnnerven (Nn. accessorius und hypoglossus). In Einzelfällen kann es zur Progredienz der strahlenbedingten Amyotrophie über mehr als 10 Jahre kommen.
Während die Klinik der strahlenbedingten Rückenmarkschädigung wesentlich von der Höhenlokalisation der Läsion bestimmt wird, lassen sich zerebral die raumfordernde umschriebene Strahlennekrose der weißen Substanz und die diffuse Strahlen-Leukenzephalopathie differenzieren. Die zerebrale Strahlennekrose tritt nach durchschnittlich 14 Monaten auf und zeigt sich unter dem klinischen Bild der zerebralen Raumforderung mit fokalneurologischen Defiziten,
epileptischen Anfällen und Hirndruckzeichen. Die diffuse Leukenzephalopathie
hingegen führt zu langsam fortschreitender Wesensänderung und kognitiven Einschränkungen bis hin zum klinischen Bild der
Demenz. Leichtere neuropsychologische Auffälligkeiten lassen sich bei entsprechender Diagnostik auch nach scheinbar folgenlos vertragener zerebraler Bestrahlung nachweisen.
Fallbeispiel
Bei einer Hausfrau erfolgt im Alter von 47 Jahren die Ablatio mammae rechts mit Ausräumung der axillären Lymphknoten wegen eines Adenokarzinoms. Es wird eine regionale Nachbestrahlung mit einer Herddosis von 60 Gy angeschlossen.
Neun Monate später muss wegen eines Tumorrezidivs auch auf der linken Seite die Ablatio mammae erfolgen. Röntgenuntersuchungen und Knochenszintigrafie, die postoperativ durchgeführt werden, ergeben den Verdacht auf eine multiple Metastasierung in die Brust- und Lendenwirbelsäule.
Es erfolgt eine Strahlenbehandlung über ein dorsales Feld sowie zwei schräge dorsale Felder im Winkel von 45°, wobei eine Gesamtdosis von 60,75 Gy (20 Fraktionen in 34 Tagen) eingestrahlt wird. Es ergibt sich eine Rückenmarkstrahlenbelastung von 51,6 Gy. Die nominale Standarddosis (NSD) beträgt 1710 ret. Die Radiation wird von der Patientin gut vertragen.
Drei Monate nach Abschluss der Strahlenbehandlung tritt ein Zoster segmentalis Th6 rechts auf, der unter dermatologischer Therapie abheilt.
Fünf Monate später kommt es bei der Patientin zu brennenden Schmerzen im linken Bein, sie stellt fest, dass sie mit dem linken Fuß warm und kalt nicht mehr unterscheiden kann. Sieben Monate darauf bemerkt sie eine Schwäche des rechten Beins beim Treppensteigen, weitere 4 Wochen später tritt eine Miktionsstörung auf, die zur stationären Aufnahme führt.
Bei der neurologischen Untersuchung 17 Monate nach Abschluss der Strahlenbehandlung findet sich eine spastische Parese des rechten Beins mit unerschöpflichen Patellar- und Fußkloni und positivem Babinski-Zeichen. Die Beineigenreflexe sind beidseits sehr lebhaft, rechts lebhafter als links auslösbar. Die Bauchhautreflexe fehlen rechtsseitig, sind links vorhanden. Es bestehen Narben nach Zoster segmentalis im Segment Th6 rechts. In den Segmenten Th6–Th8 beidseits werden brennende Schmerzen mit einer Hyperalgesie angegeben, darunter besteht linksseitig eine dissoziierte Sensibilitätsstörung. Der Restharn beträgt 450 ml, es besteht eine
Obstipation.
Der lumbal entnommene Liquor enthält 1/3 Zellen bei einem Gesamteiweiß von 36 mg% (
Albumine 24 mg%,
Globuline 12 mg%). Die
Myelografie ergibt keine Hinweise auf das Vorliegen einer spinalen Raumforderung.
Die Blasenstörung wird symptomatisch behandelt, und die Patientin wird gehfähig an zwei Stöcken entlassen. Bereits 4 Wochen später muss sie wegen deutlicher Zunahme der Paresen erneut stationär aufgenommen werden. Es besteht jetzt eine spastische Paraparalyse der Beine mit unerschöpflichen Kloni und beidseits positivem Babinski-Zeichen. Die Bauchhautreflexe fehlen, es besteht eine Harninkontinenz. Jetzt beidseitige dissoziierte Sensibilitätsstörung ab Th8, darüber findet sich eine hyperpathische Zone von Th6 bis Th8 rechtsbetont.
Unter einer Kortikoidstoßbehandlung kommt es zu einer zögernden Besserung der brennenden Schmerzen und der Hyperalgesie, es entwickelt sich aber eine zunehmende Hypästhesie im Bereich des rechten Oberschenkels. Die Patientin erhält einen Rollstuhl und wird zur Weiterbehandlung in eine Rehabilitationsklinik verlegt. Dort entsteht innerhalb von 4 Wochen ein Sensibilitätsausfall für alle Qualitäten unterhalb D6. Die Patientin verstirbt 16 Monate nach Beginn der Strahlenmyelopathie (4 Monate nach der Verlegung) an einem interkurrenten Infekt. Eine Sektion erfolgt nicht.
Facharztfragen
1.
Nach welchen Latenzzeiten treten Strahlenfolgen am Nervensystem auf?
2.
Nennen Sie die typischen klinischen Manifestationen der Strahlenmyelopathie.
3.
Ab welcher Strahlendosis ist eine Schädigung des Nervensystems möglich?
4.
Welche Behandlungsmaßnahme kommt am ehesten in Frage?