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Orthopädie und Unfallchirurgie
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Publiziert am: 04.12.2021

Orthopädie und Unfallchirurgie: Begutachtung in der gesetzlichen Unfallversicherung

Verfasst von: Elmar Ludolph
Die Aufgaben der Gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) werden wahrgenommen durch derzeit 9 gewerbliche Berufsgenossenschaften, 24 Unfallkassen, die Unfallversicherer der öffentlichen Hand, und durch die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau. Sie sind organisiert als Körperschaften des öffentlichen Rechts. Die Gesetzliche Unfallversicherung ist eine der 5 Säulen der Sozialversicherung. Den Trägern der Gesetzlichen Unfallversicherung sind 4 Aufgabengebiete zugewiesen: Verhütung von Unfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Erkrankungen, Heilbehandlung nach einem Arbeits-/Wegeunfall oder einer Berufskrankheit, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie am Leben in der Gemeinschaft nach einem Arbeits-/Wegeunfall oder einer Berufskrankheit und Entschädigung nach einem Arbeits-/Wegeunfall oder einer Berufskrankheit durch Geldleistungen.

Geschichte

Am 17.11.1881 verlas der Reichskanzler Fürst Otto von Bismarck die „Kaiserliche Botschaft“, die die deutsche Sozialgesetzgebung einleitete. Vorausgegangen waren soziale Unruhen, die ihre Ursache hatten in der zunehmenden Industrialisierung des bis dahin landwirtschaftlich geprägten Landes mit der Folge der Abwanderung der Menschen in die Städte, schlechter Wohn- und Arbeitsverhältnisse, geringer Löhne, des Verlusts sozialer Bindungen und der fehlenden Vorsorge gegenüber Unglücksfällen, Krankheit und Alter. Nach dem Versuch, diese Unruhen zunächst durch Erlass des Sozialistengesetzes am 21.10.1878 zu unterdrücken, was jedoch letztlich fehlschlug, wurde, um dem zunehmenden Einfluss der Sozialdemokratie zu begegnen, in Ausführung der „Kaiserlichen Botschaft“ u. a. am 01.10.1885 das Unfallversicherungsgesetz in Kraft gesetzt – Ausgangspunkt der Gesetzlichen Unfallversicherung (GUV). Ab 1914 wurde das Unfallversicherungsgesetz, wie die Mehrzahl der Sozialgesetze, in die Reichsversicherungsordnung übernommen, bis dann zum 01.01.1997 das Sozialgesetzbuch (SGB) VII in Kraft trat.
Auf dem langen Weg ab 1885 sind als wichtige Schritte der GUV zu nennen: 1925 Versicherungsschutz bei Wegeunfällen und Berufskrankheiten, deren Liste ständig fortgeschrieben wurde und wird (entsprechend dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn), 1942 Ausdehnung auf ausnahmslos alle Arbeitnehmer und 1971 Einbeziehung von Kindern, Schülern und Studenten. Im Verlauf wurden zudem zunehmend altruistisch Tätige, u. a. Ersthelfer (Nothelfer), Blut-, Organ- und Gewebespender, pflegende Angehörige, im Freiwilligendienst Tätige, unter den Schutz der GUV gestellt, wobei sich der versicherte Personenkreis im Einzelnen aus § 2 SGB VII ergibt.
Die GUV löst jegliche Haftpflichtansprüche der Versicherten gegen die Arbeitgeber/die öffentliche Hand ab, auch Ansprüche auf Schmerzensgeld, das vom Leistungsspektrum der GUV nicht erfasst wird, es sei denn, es handelt sich um Vorsatz. Anders ist dies jedoch beim Wegeunfall, wobei sich die Ansprüche dann nicht gegen den Arbeitgeber richten, sondern gegen den Unfallverursacher.

Organisation (§ 114 SGB VII)

Übersicht

Die Aufgaben der GUV werden wahrgenommen durch derzeit 9 gewerbliche Berufsgenossenschaften, 24 Unfallkassen, die Unfallversicherer der öffentlichen Hand, und durch die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau. Sie sind organisiert als Körperschaften des öffentlichen Rechts. Sie haben das Recht zur Selbstverwaltung.
Die Berufsgenossenschaften wurden bis 1951 allein durch die Arbeitgeber geführt. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde die paritätische Leitung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer beschlossen. Jedes Unternehmen ist kraft Gesetzes Mitglied einer Berufsgenossenschaft. Es handelt sich insoweit um eine Zwangsversicherung. Finanziert werden die Berufsgenossenschaften durch die Beiträge der Unternehmen. Deren Höhe richtet sich nach dem Arbeitsentgelt, das an die Versicherten gezahlt wird, und der jeweiligen Unfallgefahr.
Die Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand werden finanziert aus Steuermitteln.
Die Gesetzliche Unfallversicherung ist eine der 5 Säulen der Sozialversicherung:
Die 5 Säulen der Sozialversicherung
  • Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII)
  • Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V)
  • Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI)
  • Arbeitslosenversicherung (SGB III)
  • Soziale Pflegeversicherung (SGB XI)

Aufgaben der GUV

Die Aufgaben der GUV sind in § 1 SGB VII definiert:
§ 1 Prävention, Rehabilitation, Entschädigung
Aufgabe der Unfallversicherung ist es, nach Maßgabe der Vorschriften dieses Buches
1. mit allen geeigneten Mitteln Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten sowie arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu verhüten,
2. nach Eintritt von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten die Gesundheit und die Leistungsfähigkeit der Versicherten mit allen geeigneten Mitteln wiederherzustellen und sie oder ihre Hinterbliebenen durch Geldleistungen zu entschädigen.
Den Trägern der Gesetzlichen Unfallversicherung sind also vier Aufgabengebiete zugewiesen:
  • Verhütung von Unfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Erkrankungen
  • Heilbehandlung nach einem Arbeits-/Wegeunfall oder einer Berufskrankheit
  • Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie am Leben in der Gemeinschaft nach einem Arbeits-/Wegeunfall oder einer Berufskrankheit
  • Entschädigung nach einem Arbeits-/Wegeunfall oder einer Berufskrankheit durch Geldleistungen
Mit der Prävention auch vor arbeitsbedingten Erkrankungen (§ 1 Ziff. 1 SGB VII), nicht nur vor Arbeits-/Wegeunfällen und Berufskrankheiten, erstreckt sich insoweit die Zuständigkeit der GUV auf die Gefahren des gesamten Arbeitslebens.
Die Sicherung von Folgen von Arbeits-/Wegeunfällen oder Berufskrankheiten als Grundlage für die Einschätzung/Feststellung der MdE (Minderung der Erwerbfähigkeit), die Entschädigung „durch Geldleistungen“ (§ 1 Ziff. 2 SGB VII), ist das wesentliche Tätigkeitsfeld des ärztlichen Gutachters.

Versicherte in der GUV

Die GUV ist im Kern eine Pflichtversicherung. Zu erfüllen hat sie ihre Aufgaben gegenüber den versicherten Personen. Diese ergeben sich im Wesentlichen aus § 2 Abs. 1 bis Abs. 4 SGB VII:
§ 2 Versicherung kraft Gesetzes
(1) Kraft Gesetzes sind versichert
1. Beschäftigte, …
Kennzeichnend für die nach § 2 Abs. 1 SGB VII versicherten Personen ist die Abhängigkeit vom Arbeitgeber. Pflichtversichert sind aber auch Personen, die der Gesetzgeber für besonders schutzwürdig hält, wie z. B. Kinder, Schüler und Studenten (§ 2 Abs. 1 Nr. 8 SGB VII), ehrenamtlich Tätige (§ 2 Abs. 1 Nr. 10 SGB VII), Ersthelfer, Organspender (§ 2 Abs. 1 Nr. 13 SGB VII) oder Pflegepersonen (§ 2 Abs. 1 Nr. 17 SGB VII), um einige Gruppen von Versicherten zu benennen. Für die gesetzlich unfallversicherten Personen gibt es weder eine Befreiung wegen eines besonders hohen Verdienstes noch wegen Geringfügigkeit der Beschäftigung. Der möglichst umfassende Versicherungsschutz wird gewährleistet durch die Pflichtversicherung auch von „Wie-Beschäftigten“.
§ 2 Abs. 2 SGB VII
(2) Ferner sind Personen versichert, die wie nach Abs. 1 Nr. 1 Versicherte tätig werden.
Das sind z. B. Personen, die im Interesse eines anderen Unternehmens tätig sind, wobei der Begriff „Unternehmen“ sehr weit gefasst ist.
Der Kläger erlitt einen Unfall als er versuchte, den liegen gebliebenen Pkw eines Arbeitskollegen anzuschieben, damit der Motor ansprang.
„Der Kläger ist dadurch, dass er den Pkw des C angeschoben hat, wie ein nach § 2 Abs. 2 SGB VII (entsprechend der aktuellen gesetzlichen Regelung) Versicherter – nämlich wie ein in der privaten Kraftfahrzeughaltung des C. aufgrund eines Arbeitsverhältnis Beschäftigter – tätig geworden.“ Der Kläger war also zum Zeitpunkt der Hilfeleistung gesetzlich unfallversichert als eine Art Arbeitnehmer des C (BSG, Urteil vom 25.01.1973 – 2 RU 55/71).
Anders ist dies jedoch, wenn die Hilfeleistung aus familiären Gründen erfolgt.
Die Ehefrau des Versicherten, reinigte jahrelang die durch seine versicherte Tätigkeit asbeststaubverschmutzte Kleidung. Sie erkrankte an einem Pleura-Mesotheliom (bösartiger Rippfelltumor).
„Bei der schädigenden Reinigung der asbeststaubverschmutzten Arbeitskleidung ihres Ehemannes stand die Ehefrau nicht unter dem Schutz der Unfallversicherung. Diese Tätigkeit war der Handlungstendenz nach wesentlich allein auf eigenwirtschaftliche, nämlich auf die Interessen des eigenen Haushalts der Eheleute gerichtet“ (BSG, Urteil vom 13.10.1993 – 2 RU 53/92).
Möglich sind aber auch eine freiwillige Versicherung (§ 6 SGB VII) und eine Versicherung kraft Satzung (§ 3 SGB VII).
Versicherungsfrei (§ 4 Abs. 1 SGB VII), ohne Möglichkeit unter den Schutz der GUV zu kommen, sind vor allem Staatsbedienstete, die über öffentlich rechtliche Vorschriften versichert sind (z. B. Beamtenversorgungsgesetz), Mitglieder geistlicher Genossenschaften, die über diese abgesichert sind, sowie Personen, die konkret benannte Tätigkeiten nur hobbymäßig ausüben.
Versicherungsfrei (§ 4 Abs. 3 SGB VII), jedoch mit dem Recht, sich unter den Schutz der GUV zu stellen (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII), sind Ärzte, Apotheker und Heilpraktiker.

Versicherungsfall – Arbeitsunfall

§ 8 SGB VII Arbeitsunfall
(1) Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen.
(2) Versicherte Tätigkeiten sind auch
1. das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit.
Während bis etwa 1995 Gerichtsentscheidungen zum Unfallbegriff in der GUV Kasuistik waren – entschieden wurde über den konkreten Sachverhalt, ohne dass die Entscheidungen in der Regel ausdrücklich eingebettet wurden in vertiefende rechtstheoretische Überlegungen zum Unfallbegriff –, bemüht sich das BSG ab diesem Zeitpunkt, den Unfallbegriff zu strukturieren und rechtstheoretisch einzubetten. Immer konkreter werdend definiert das BSG den Arbeitsunfall jetzt wie folgt:
„Ein Arbeitsunfall eines Versicherten setzt voraus, dass seine Verrichtung zur Zeit des Unfalls einen gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt (sog. innerer oder sachlicher Zusammenhang), die zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Unfallereignis – geführt (Unfallkausalität) und das Unfallereignis einen Gesundheitsschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von länger andauernden unmittelbaren oder mittelbaren Unfallfolgen aufgrund des Gesundheitserstschadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist keine Tatbestandsvoraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalles“ (BSG, Urteil vom 29.11.2011 – B 2 U 10/11 R).
Das Bundessozialgericht gibt also folgende Schritte zur Prüfung eines Arbeitsunfalls vor (Tab. 1)
Tab. 1
Systematik des Arbeitsunfalls (In Anlehnung an Becker 2011)
Versicherte/Versicherter
 
Innerer/sachlicher Zusammenhang zwischen versicherter Tätigkeit und konkreter Verrichtung
Verrichtung zurzeit des (äußeren) (Unfall-)Ereignisses
 
Unfallkausalität (Ereigniskausalität) zwischen Verrichtung und (äußerem) (Unfall-)Ereignis
(Äußeres) (Unfall-)Ereignis
 
Haftungsbegründende Kausalität zwischen (Unfall-)Ereignis und Gesundheits(erst)schaden
Gesundheits(erst)schaden
 
Haftungsausfüllende Kausalität zwischen (Unfall-)Ereignis und Gesundheits(folge)schaden
Gesundheits(folge)schaden
 
Erforderlich sind also:
1.
Der innere Zusammenhang zwischen Verrichtung zurzeit des äußeren Ereignisses und versicherter Tätigkeit (versicherte Tätigkeit zum Zeitpunkt des äußeren Ereignisses)
 
2.
Der Ursachenzusammenhang zwischen versicherter Tätigkeit und äußerem Ereignis (Ereigniskausalität), wobei üblich, jedoch nicht richtig, weil nach der gesetzlichen Definition in § 8 Abs. 1 SGB VII zum Unfall der Gesundheitsschaden gehört, der jedoch bei diesem Prüfungsschritt noch offen ist, ist die Bezeichnung Unfallkausalität
 
3.
Der Ursachenzusammenhang zwischen äußerem Ereignis und Gesundheits(erst)schaden (haftungsbegründende Kausalität)
 
4.
Der Ursachenzusammenhang zwischen Gesundheits(erst)schaden und Folgeschaden (haftungsausfüllende Kausalität), wobei dieser nicht erforderlich ist, um den Unfallbegriff zu erfüllen (§ 8 SGB VII)
 
Zu 1. Versicherte Tätigkeit
Zwar nicht ausdrücklich vorgegeben, aber dem Begriff Arbeitsunfall immanent ist, dass der Unfall nicht nur „infolge“ versicherter Tätigkeit abläuft, sondern auch während versicherter Tätigkeit, wobei die letzte Voraussetzung auch bei gemischten Tätigkeiten gegeben ist – z. B. berufliches Telefonat, wenn während der Rufbereitschaft der Hund ausgeführt wird. Es muss ein zeitlicher Zusammenhang gegeben sein.
Entgegen dem Unfallbegriff in der Privaten Unfallversicherung (PUV), mit dem im Übrigen große Ähnlichkeit besteht, mutiert „plötzlich“ (Ziff. 1.3 AUB 2014) in der GUV zu „während einer Arbeitsschicht“. Das „zeitlich begrenzte“ Ereignis ist also auch dann gegeben, wenn es sich über eine Arbeitsschicht erstreckt, wenn also z. B. infolge einer undichten Gasleitung über viele Stunden Gas eingeatmet wird und der Versicherte dadurch erkrankt oder wenn ursächlich für seinen Tod stundenlange anstrengende Arbeit in der Sommerhitze ist.
Ein Versicherter arbeitete zunächst 8 Stunden bei Sommerwärme von 25–29 °C in einem engen Steinbruch (Arbeitsschicht). Kurze Zeit später verstarb er an einem Herzinfarkt. Dieser Sachverhalt wird unter den Unfallbegriff der GUV gefasst:
„Sofern nur die schädigenden Tätigkeiten einen zeitlich begrenzten Vorgang bilden, der den Begriff des Unfallereignisses nicht sprengt, d. h. sich in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum, längstens in einer Arbeitsschicht, abspielt“ (BSG, Urteil vom 28.01.1966 – 2 RU 151/63).
Versichert ist eine Tätigkeit zudem nur, wenn ein innerer Zusammenhang mit dieser besteht. Der innere Zusammenhang ist nicht identisch mit dem Kausalzusammenhang. Es kommt also nicht darauf an, ob die versicherte Tätigkeit wesentliche Bedingung für das äußere Ereignis ist. Vielmehr handelt es sich um eine Wertentscheidung, die vom Schutzzweck der Gesetzlichen Unfallversicherung bestimmt ist. Der sachliche, innere Zusammenhang ist gegeben, wenn die unfallbringende Tätigkeit bei wertender Betrachtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der GUV reicht.
Eine Mitarbeiterin verletzte sich beim Abholen privat eingekaufter Waren während der Arbeitszeit. Ihr Interesse ist eigenwirtschaftlich. Klemmt sie sich dabei die Finger ein, ist sie nicht versichert (BSG, Urteil vom 19.01.1995 – 2 RU 3/94).
Ein Arbeitnehmer steckt aus Verärgerung über seinen Chef einen Teil des Firmengebäudes in Brand, der sowieso abgerissen werden soll, was er aber nicht weiß. Er steht nicht unter Versicherungsschutz, weil er dem Unternehmen nicht dienen will, wenn er es auch objektiv tut.
Die Anwesenheit im Betrieb oder eine Tätigkeit während vereinbarter Arbeitszeit reichen nicht aus, um die Zuständigkeit der GUV zu begründen – mit Ausnahme zwar von § 10 SGB VII, der für See- und Binnenschiffer eine Art Betriebsbann begründet. Erforderlich ist vielmehr, um den Schutzbereich der GUV zu begründen, dass es die Handlungstendenz des Versicherten ist, dem Unternehmen zu dienen, belegt durch objektive Umstände. Problematisch wird es, wenn gleichzeitig mit versicherter Tätigkeit auch dem privaten Bereich zuzurechnende Tätigkeiten ausgeführt werden.
Der Versicherte war mit dem Reinigen einer Fassade von Farbflecken beauftragt. Verwandt wurde dazu eine leicht entzündliche Flüssigkeit. Während seiner Arbeit auf dem Hubwagen zündete er sich eine Zigarette an. Dadurch entzündete sich der Reinigungslappen, den er in der Hand hielt. Er ließ diesen fallen, wodurch es zu einer Verpuffung von Lösungsdämpfen kam, die sich auf dem Boden des Hubwagens angesammelt hatten. Der Versicherte erlitt so schwere Verbrennungen, dass er an deren Folgen verstarb.
Streitig war die Frage, ob das Anzünden der Zigarette den Zusammenhang mit versicherter Tätigkeit löste.
Das BSG verneinte dies mit der Begründung, es handele sich zwar um eine Tätigkeit, die nicht dazu bestimmt sei, dem Unternehmen zu dienen. Diese sei aber so eng mit der versicherten Tätigkeit verbunden, was sich aus der Anwesenheit auf dem Hubwagen und dem Reinigungslappen in der Hand ergebe, dass eine Trennung zwischen versicherter und eigenwirtschaftlicher Tätigkeit nicht möglich sei. Das Anzünden der Zigarette erfolgte sozusagen, während die Arbeit fortgesetzt wurde (BSG, Urteil vom 12.04.2005 – B 2 U 11/04 R).
Besondere Probleme macht die Tätigkeit im Homeoffice. Bei dieser sind privater und beruflich genutzter Bereich nur sehr bedingt getrennt. Es liegt weitgehend in der Hand des Versicherten, wie vor allem das Umfeld seines Arbeitsplatzes gestaltet und gesichert ist. Der Unternehmer hat das nur sehr begrenzt in der Hand. Deshalb ist eine Abgrenzung von versicherter und privater Tätigkeit in diesem Bereich besonders wichtig und schwierig. Es stellt sich insbesondere die Frage, welche Wege als Betriebswege, also Wege im Betrieb, versichert sind.
Die Versicherte, die ihr Büro im Dachgeschoss hatte, verließ dieses, um sich eine Flasche Wasser zu holen. Sie verletzte sich auf der Treppe. „Es kommt objektiv auf die Eingliederung des Handelns der Verletzten in das Unternehmen eines anderen und subjektiv auf die zumindest auch darauf gerichtete Willensausrichtung an, dass die eigene Tätigkeit unmittelbare Vorteile für das Unternehmen des anderen bringen soll.“ Entscheidend ist also die subjektive Handlungstendenz, manifestiert durch objektive Umstände. Die Klage wurde abgewiesen, weil die Willensrichtung der Klägerin auf ihr privates Wohlbefinden gerichtet war (BSG, Urteil vom 05.07.2016 – B 2 U 5/15 R).
Eine anderslautende Entscheidung erging zu folgendem Sachverhalt:
Die Klägerin erwartete ein Telefongespräch ihres Chefs. Sie wollte sich deshalb in ihr Büro begeben, verletzte sich aber auf der Treppe. Abgestellt wurde auf die „durch die objektiven Umstände des Einzelfalls bestätigte Handlungstendenz der Klägerin, eine dem Unternehmen dienende Tätigkeit ausüben zu wollen“. Der Sturz war versichert (BSG, Urteil vom 29.11.2018 – B 2 U 28/17 R).
Die Handlungstendenz, bestätigt durch die objektiven Umstände, ist der maßgebliche Gesichtspunkt, um versicherte von privater Tätigkeit zu trennen.
Die Beweisnachteile, wenn nicht geklärt werden kann, ob die einen Schaden verursachende Tätigkeit dem versicherten oder privaten Bereich zuzuordnen ist, trägt der Versicherte, weil dieser Ansprüche daraus ableitet. Sind keine Hinweise auf eine nicht versicherte Tätigkeit erkennbar, wird der Zusammenhang mit versicherter Tätigkeit unterstellt.
Eine sehr diskutierte Entscheidung betrifft die Frage, ob die Erfüllung eines gesetzlich zwingend vorgegebenen Verhaltens den Zusammenhang mit versicherter Tätigkeit löst.
Der Versicherte streifte auf dem Heimweg mit seinem Pkw einen entgegenkommenden Pkw mit dem Außenspiegel. Er fuhr zunächst weiter, kehrte aber dann (nach 10 Minuten) an die Unfallstelle zurück. Er wurde durch die Unaufmerksamkeit eines dritten Pkw-Fahrers schwer verletzt (BSG, Urteil vom 17.02.2009 – B 2 U 26/07 R).
Jeder Verkehrsteilnehmer ist grundsätzlich unter Strafandrohung verpflichtet, nach einem Verkehrsunfall, an dem er beteiligt ist, die Feststellung seiner Person, des von ihm gefahrenen Fahrzeugs und seines Ursachenbeitrags für diesen Unfall zu ermöglichen (§ 142 StGB). Fahrerflucht ist strafbar. Das BSG ordnete diese strafbewehrte Pflicht dem privaten Bereich zu. Es wies die Klage auf Leistungen der Gesetzlichen Unfallversicherung ab. Der Versicherte habe den versicherten Weg im eigenen Interesse verlassen. Das Gebot, an der Unfallstelle zu warten, diene nicht dem Interesse des Unternehmens. Dies trifft zwar zu, dennoch fragt man sich, ob es einem Versicherten nicht möglich sein muss, sich rechtskonform zu verhalten, ohne den Versicherungsschutz zu verlieren.
Zu 2. Unfallkausalität (Ereigniskausalität)
Die versicherte Tätigkeit muss zu einem äußeren Ereignis geführt haben (Ereignis- bzw. Unfallkausalität). Dieser Prüfungsschritt wird allgemein als Unfallkausalität bezeichnet. Dieser Begriff ist jedoch nicht glücklich. Denn ein „Unfall“ setzt ein äußeres Ereignis und einen Gesundheitsschaden voraus, wie der Definition in § 8 Abs. 1 SGB VII entnommen werden kann. Der Gesundheitsschaden ist aber bei diesem Prüfungsschritt (zu 2.) noch offen. Es wird also etwas unterstellt, was erst im folgenden Schritt zu prüfen ist. Besser ist es, von Ereigniskausalität zu sprechen, ebenso wie eine Berufskrankheit – korrekt – die Einwirkungskausalität und nicht die Krankheitskausalität verlangt. Während die Einwirkungskausalität im Berufskrankheitenrecht geläufig ist, ist dies jedoch zum Arbeitsunfall – unsauber – die Unfallkausalität.
Es muss ein „Ereignis“, keine Einwirkung sein, um die weiteren Prüfungsschritte folgen zu lassen. Das Ereignis kann zwar die Folge einer Einwirkung sein. Beide Begriffe sind aber nicht deckungsgleich – auch wenn Einwirkung und Ereignis immer wieder als gleichbedeutend benutzt werden.
Die Einwirkung kann sich über eine Arbeitsschicht erstrecken, z. B. Sonneneinstrahlung. Kommt es dadurch zum Sonnenbrand, so wird die Einwirkung in der GUV versicherungsrechtlich - durch die Ausdehnung des äußeren Ereignisses auf eine Arbeitsschicht - zu einem Ereignis.
Wie eine Verwechslung beider Begriffe in die Irre führen kann, dazu darf auf das sog. Steinmetzurteil verwiesen werden.
Der Versicherte, 54 Jahre alt, Steinmetz von Beruf, wollte einen ca. 70 kg schweren Grabstein anheben. Dieser war jedoch, ohne dass der Steinmetz dies wusste und damit rechnete, festgefroren, sodass er unerwartet an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit ging. Er verspürte während des – vergeblichen – Versuchs, den Stein anzuheben, einen stechenden Kopfschmerz. Er wurde sofort in ein Krankenhaus eingeliefert. Gesichert wurde eine Subarachnoidalblutung. Diese und ihre Folgen wurden als arbeitsunfallbedingte Gesundheitsschäden anerkannt (BSG, Urteil vom 12.04.2005 – B 2 U 27/04 R).
Das BSG argumentierte, „die äußere Einwirkung liegt im vorliegenden Fall in der (unsichtbaren) Kraft, die der schwere und festgefrorene Stein dem Versicherten entgegengesetzt hat“. Lässt man das „Festgefrorene“ zunächst einmal außer Betracht, so ist es allein die Schwerkraft des Steins, die zu überwinden war. Der Stein wurde von der Schwerkraft am Boden gehalten. Diese „setzte“ der Stein dem Versicherten aber nicht „entgegen“. Der Stein wurde nicht aktiv. Der Stein entwickelte keine „Kraft“. Der Stein setzte also nicht zur Gegenwehr an, auch nicht der „festgefrorene“. Die Schwerkraft musste überwunden werden. Die Schwerkraft selbst war/ist aber kein äußeres Ereignis. Sie ist, wie Licht und Luftdruck, eine Einwirkung, wie das BSG richtig sagt, dann aber als Ereignis interpretiert. Das Argument des BSG, die Schwerkraft wirke der Eigenbewegung entgegen und stelle das äußere Ereignis dar, verkennt den Charakter der Schwerkraft. Die Schwerkraft wirkt auf der Erde überall und jederzeit und kann kein Argument für den Unfallbegriff sein. Der Mensch lebt mit und in der Schwerkraft und hat sich dieser angepasst. Wenn er durch die Schwerkraft zu Schaden kommt, ist ursächlich für das Schadensbild eine innere Ursache. Die Leistungsfähigkeit des Menschen ist erschöpft. Er kann das, was ihm als in der Schwerkraft lebendem Wesen abverlangt wird, nicht mehr erbringen. Er „funktioniert“ nicht mehr. Ein Zusammenhang mit versicherter Tätigkeit ist nicht zu erkennen. Dieser Teil der Urteilsbegründung des Steinmetzurteils müsste nachgebessert werden.
Ein besonderes Problem sind Eigenbewegungen. Diese unterscheiden sich nicht dadurch von einem äußeren Ereignis, dass dieses etwas Besonderes oder Hervorstechendes sein müsse. Ein Ereignis „von außen“ kann – bezogen auf das Fachgebiet Unfallchirurgie – z. B. ein Stolpern, ein Umknicken oder das Verpassen einer Treppenstufe sein oder eine Kraftanstrengung, die durch ein plötzlich auftretendes Hindernis, auf das sich z. B. der Steinmetz nicht eingestellt hatte – der Grabstein war festgefroren – über das geplante Maß hinausgeht und die Muskeln, Sehnen, Gefäße etc. überfordert. Wenn die Unfallkausalität (Ereigniskausalität) erfüllt sein soll, muss es sich aber um ein „von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis“ handeln.
Eine Versicherte, Pharmareferentin, knickte „bei einfacher Fortbewegung“ auf ebenem Boden um. Das linke Sprunggelenk schwoll an. Das Umknicken „bei einfacher Fortbewegung“ ist grundsätzlich versichert. Die Unfall-/Ereigniskausalität ist also grundsätzlich gegeben, es sei denn, es ist – wie im vorliegenden Fall – eine konkurrierende Ursache, eine signifikante Instabilität des Kapsel-Band-Apparates vorbestehend, die das Umknicken ohne Einwirkung von außen erklärt. Das Sprunggelenk hatte keinen Halt mehr, sodass die Versicherte allein aus innerer Ursache umknickte. Die Versicherte hat durch eine Eigenbewegung einen Reizzustand im Bereich des linken Sprunggelenks verursacht. Dann ist der Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem äußeren Ereignis, die Unfall-/Ereigniskausalität also, zu verneinen (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.04.2010 – L 8 U 5043/09).
Der Definitionsteil, dass das Ereignis von außen kommen muss, dient der Abgrenzung gegenüber einer Eigenbewegung, wie sie im Beispielsfall zum Schaden führte. Schadensursächliche Eigenbewegungen sind häufig. Sie setzen Schadensanlagen voraus, die sich jederzeit manifestieren können, auch während versicherter Tätigkeit. Auf unfallchirurgisch-orthopädischem Fachgebiet handelt es sich in der Regel um vorzeitige Veränderungen oder Fehlbildungen. Nachfolgend der Fall, in dem ein psychisches Schadensbild als Folge einer Eigenbewegung zur Diskussion steht.
Ein S-Bahn-Zugführer, ohne dass festgestellt werden konnte, dass er wegen eines den Bahnkörper passierenden Fußgängers dazu gezwungen war, was er jedoch behauptete, unternahm eine Vollbremsung der mit noch geringer Geschwindigkeit fahrenden S-Bahn unmittelbar vor Einfahrt in den S-Bahnhof. Es ging um die Frage, ob er infolge dieser Vollbremsung einen Arbeitsunfall erlitten hat. Geltend gemacht wurden psychische Folgen dieses Vorgangs (BSG, Urteil vom 29.11.2011 – B 2U 10/11 R).
Das BSG verneinte einen Arbeitsunfall bereits an der Tatbestandsvoraussetzung „Unfallereignis“ bzw. „Unfallkausalität“ und brauchte somit nicht mehr die haftungsbegründende Kausalität prüfen.
Der Bremsvorgang allein stelle kein Ereignis von außen dar (RdNr. 15). Das Erfordernis des Ereignisses von außen sei nämlich nicht gegeben bei Unfällen, die auf aus dem Menschen selbst kommenden Ereignissen beruhen (RdNr. 16 mit weiteren Hinweisen). Es darf zitiert werden: „Solange der Versicherte – wie hier – in seiner von ihm gewollt herbeigeführten Einwirkung und damit in seiner Eigenbewegung nicht beeinträchtigt ist, wirkt kein äußeres Ereignis auf seinen Körper.“ Nicht die Außenwelt habe auf den Versicherten eingewirkt. Dieser habe vielmehr seinerseits auf die S-Bahn eingewirkt.
Bezug genommen wird vom BSG dabei ausdrücklich auf ein Urteil des BGH (Bundesgerichtshof), das zur Privaten Unfallversicherung ergangen ist. In diesem Urteil ging es um einen Bandscheibenvorfall nach Anheben einer schweren Mörtelwanne. Der Unfallzusammenhang wurde verneint mit folgender Begründung:
„Die Kraftanstrengung, die der Kläger bei dem Anheben der Mörtelwanne unternommen hat, war in ihrem ganzen Verlauf eine willensgesteuerte Eigenbewegung“. „Solange der Einwirkungsgegenstand nicht in unerwartete Bewegung gerät und solange der Einwirkende nicht in seiner gewollten Einwirkung und damit in seiner Eigenbewegung – etwa durch Straucheln oder Ausgleiten – beeinträchtigt ist, wirkt kein äußeres Ereignis auf seinen Körper ein“ (BGH, Urteil vom 23.11.1988 – IVa ZR 38/88, RdNr. 8).
Am gleichen Tag bekräftigte das BSG zu einem anderen Sachverhalt diese Rechtsansicht.
Das BSG hatte aufgrund der Feststellung der Tatsacheninstanz (Landessozialgericht – LSG) davon auszugehen, dass die Vollbremsung des Klägers durch einen unmittelbar vor dem Zug die Gleise überquerenden Pkw veranlasst worden war. Dies war ein äußeres Ereignis. Motiv für die Vollbremsung war nicht die „Überängstlichkeit“ des Klägers, sondern die plötzliche Gefahrensituation. Die Klage wurde an das LSG zurückverwiesen zur Prüfung, ob das äußere Ereignis einen Gesundheitsschaden verursacht hat (BSG, Urteil vom 29.11.2011 – B 2 U 23/10 R).
Grundlegend neu ist die vorgenannte Prüfung nicht, jedoch ermöglicht sie gerade zum Unfallbegriff und zur haftungsbegründenden Kausalität nachvollziehbarere Ergebnisse.
Dies darf an einem einfachen Beispiel dargestellt werden:
Der Versicherte befand sich aufgrund seines schlechten Allgemeinzustands in stationärer Behandlung. Er stürzte ohne äußere Einwirkung, bedingt durch seinen schlechten Allgemeinzustand, auf dem Weg zur Toilette. Gesichert wurde ein sturzbedingter Nasenbeinbruch. Nachfolgend entwickelte sich bei vorbestehendem engen Wirbelkanal eine „inkomplette Tetraplegie sub C4“, also eine inkomplette Querschnittlähmung ab dem 4. Halswirbelsegment (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12.08.2010 – L 3 U 135/10 BER).
Während des stationären Aufenthalts stand der Versicherte unter Versicherungsschutz (§ 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII). Die erste Voraussetzung ist also erfüllt. Erfüllt ist auch die zweite Voraussetzung, denn die Verrichtung zur Zeit des äußeren Ereignisses (Fortbewegung) geschah im Rahmen der stationären Behandlung. Weitere Voraussetzung ist aber die Unfall-/Ereigniskausalität. Das Ereignis muss „infolge“ der besonderen Bedingungen der stationären Behandlung eingetreten sein. Als konkurrierende Ursache – neben dem zurückzulegenden Weg innerhalb der stationären Einrichtung – kam der schlechte Allgemeinzustand des Versicherten in Betracht. Die Unfall-/Ereigniskausalität wurde verneint, da für einen Ursachenbeitrag des Weges für den Sturz jegliche Anhaltspunkte fehlten. Der Versicherte war aus innerer Ursache, infolge eines Schwächeanfalls, gestürzt.
Eine andere Frage war der Kausalzusammenhang zwischen Sturz des Versicherten und der inkompletten Querschnittlähmung. Auch dieser Kausalzusammenhang war naheliegend nicht gegeben.
Nachfolgend ein Fall, in dem die Unfall-/Ereigniskausalität gegeben ist, obwohl der Versicherte aus innerer Ursache stürzt.
Ein Versicherter stürzt infolge eines Kreislaufkollapses von einem 5 m hohen Gerüst auf Betonboden. Er erleidet, obwohl er einen Helm trägt, schwerste Kopfverletzungen.
Die versicherte Tätigkeit, Arbeit in der Höhe, ist neben dem Kreislaufkollaps wesentlich ursächlich für den Sturz des Versicherten. Die Unfall-/Ereigniskausalität ist also gegeben. Die gewöhnliche Härte des Straßenpflasters oder des Fußbodens auf der Betriebsstätte reichen nach der Rechtsprechung für sich allein nicht als eine Beschaffenheit des Wegs oder der Betriebsstätte aus, die den Sturz des Versicherten wesentlich prägen. Anders ist dies jedoch, wenn besondere Umstände hinzutreten (Einzwängen in einen engen Raum, Begehen einer Treppe in einer Menschenmenge, Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr).
Die Unfall-/Ereigniskausalität ist eine Frage, die die Verwaltung bzw. das Gericht in einer Vielzahl der Fälle allein beantworten kann. Die haftungsbegründende Kausalität, der nächste Prüfungsschritt, bedarf dagegen in aller Regel eines ärztlichen Gutachtens, dessen Ergebnis häufig umstritten ist und das zudem vermeidbare Kosten verursacht (Kainz 2012). Dennoch lässt die juristische Praxis Entscheidungen zur Unfall-/Ereigniskausalität häufig vermissen. „Der Jurist pflegt in solchen Fällen möglichst offen zu lassen, ob eine Einwirkung von außen auf den Körper des Versicherten gegeben ist, und verneint das Vorliegen eines Unfalls [besser: Arbeitsunfalls] jedenfalls wegen des fehlenden Ursachenzusammenhangs zwischen dem äußeren Vorgang und dem Gesundheitsschaden“ (Keller 2013). Der „Jurist“ tut – abgesehen von vermeidbaren Kosten und gutachtlichem Streit – dem Versicherten damit keinen Dienst. Er weckt Hoffnungen, die sich in den Fällen, in denen die Unfall-/Ereigniskausalität nicht gegeben ist, nicht verwirklichen, weil sich dann in aller Regel die haftungsbegründende Kausalität ebenfalls nicht begründen lässt.
Erheblich wird der Prüfungsschritt Unfall-/Ereigniskausalität nur, wenn konkurrierende Ursachen für das Unfallereignis zu sichern sind, wobei alle Fakten im Vollbeweis zu sichern sind. Dann folgt die Wertung nach den Grundsätzen der Theorie der wesentlichen Bedingung. Ansonsten wird die Unfall-/Ereigniskausalität, also der Ursachenzusammenhang zwischen versicherter Tätigkeit und dem äußeren Ereignis vermutet. Stehen im Vollbeweis gesicherte, konkurrierende Ursachen zur Diskussion, treffen die Beweisnachteile den Versicherten, wenn sich ein Ursachenzusammenhang der versicherten Tätigkeit für das „Ereignis von außen“ nicht begründen lässt. Denn er leitet Ansprüche aus diesem Prüfungsschritt ab.
Zu 3. Haftungsbegründende Kausalität
Die haftungsbegründende Kausalität ist der Prüfungsschritt, zu dem ärztlicher Sachverstand gefragt ist. Zu prüfen ist der Zusammenhang zwischen dem äußeren Ereignis und einem Gesundheitsschaden. Der Gesundheitsschaden ist eine Tatsache, die im Vollbeweis gesichert sein muss. In der GUV ist es jede körperliche und/oder psychische Beeinträchtigung, die unmittelbar auf ein äußeres Ereignis zurückzuführen ist und ggf. zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) führt, also zu verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens.
Für das gesamte Sozialrecht, so auch für die Gesetzliche Unfallversicherung, gilt die Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung. Die Prüfung der Wesentlichkeit erfolgt in 2 Schritten:
a.
Der erste Schritt ist ein rein medizinischer. Zu beantworten ist die Frage nach der conditio sine qua non, der nicht hinweg zu denkenden Bedingung, der Ursachenzusammenhang also im medizinisch-naturwissenschaftlichen Sinn.
 
b.
Der zweite Schritt beinhaltet eine Wertung. Zu beantworten ist die Frage, ob die Ursache aus dem versicherten Bereich wesentlich für den Gesundheitsschaden ist. Der zweite Schritt fällt nicht mehr in die Zuständigkeit des ärztlichen Gutachters. Verwaltung und Gericht werten. Sie sind der Kapitän. Der ärztliche Gutachter als Lotse hat jedoch in der großen Zahl der Fälle auch zur Wesentlichkeit einer Ursache für einen Gesundheitsschaden Hilfestellung zu leisten. Er hat die Grundlagen für die Wertung vorzugeben, die dann jedoch juristisch getroffen wird.
 
a. Conditio sine qua non
Der Versicherte stürzt „infolge“ versicherter Tätigkeit auf die rechte Hand und erleidet einen Speichenbruch rechts.
Der Sturz war die conditio sine qua non für die erlittene Verletzung. Er war die alleinige Bedingung für den Gesundheitsschaden.
Der Versicherte stürzt „infolge“ versicherter Tätigkeit auf die rechte Hand und erleidet eine Schulterverrenkung rechts. Vorbestehend waren beim Versicherten klinisch stumme vorzeitige Texturstörungen (Defekte/Kontinuitätsunterbrechungen) der Rotatorenmanschette und der langen Bizepssehne (Schadensanlagen).
Ursächlich für den Gesundheitsschaden, die Schulterverrenkung, waren sowohl eine Ursache aus dem versicherten Bereich – Sturz auf die Hand – als auch eine Ursache aus dem nicht versicherten Bereich – Defekte im Bereich der Rotatorenmanschette und der langen Bizepssehne. Der Sturz war also eine der Ursachen für die Schulterverrenkung rechts.
Der ärztliche Gutachter hat sowohl die unfallbedingten als auch die unfallunabhängigen Ursachen zu ermitteln und zu benennen. Die Prüfung der medizinisch-naturwissenschaftlichen Kausalität ist damit abgeschlossen.
Das BSG hat die conditio sine qua non, also die nicht hinweg zu denkenden Bedingungen, vermeintlich eingeschränkt. Nicht jede Ursache sei in die Prüfung miteinzubeziehen, entscheidend sei die Wirkursache.
Der Versicherte fuhr während einer Testfahrt einen Pkw mit einer Geschwindigkeit von 295 km/h. Es platzte ein Reifen. Der Pkw kam von der Fahrbahn ab und prallte gegen einen Baum. Zur Diskussion stand die Frage, ob der Versicherte unfallbedingt einen Bandscheibenschaden im Segment C6/C7 erlitten hat (BSG, Urteil vom 24.07.2012 – B 2 U 9/11 R).
Die Testfahrt, der geplatzte Reifen und das Abkommen von der Fahrbahn sind „Wirkursachen“ für das äußere Ereignis. Für den Gesundheitsschaden sind sie „Randbedingungen“, Bedingungen im Sinne der conditio sine qua non, aber keine „Wirkursachen“. „Wirkursache“ ist nur die Ursache, die für den Gesundheitsschaden zwingend ist. Das ist der Aufprall auf den Baum und die dadurch bedingte äußere Krafteinwirkung auf die Halswirbelsäule.
Ein echter Fortschritt ist jedoch mit dem Begriff „Wirkursache“ nicht verbunden. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass vom Schadenseintritt entfernt liegende Ursachen zwar auch ursächlich im Sinne der conditio sine qua non sein können, jedoch in die Prüfung des Ursachenzusammenhangs nicht einbezogen werden.
Problematisch ist die conditio sine qua non immer dann, wenn anlagebedingte Veränderungen ebenfalls als Schadensursache in Betracht kommen.
Die Versicherte steht vom Bürostuhl auf. Sie verspürt einen stechenden Schmerz im Bereich des rechten Kniegelenks, das nachfolgend anschwillt. Es verbleiben ein dumpfer Schmerz und eine Bewegungseinschränkung. Kernspintomografisch gesichert wird ein in den Gelenkspalt verlagerter, abgetrennter Teil des Innenmeniskus. Weder lassen sich Verletzungszeichen im Bereich des Kapsel-Band-Apparats sichern noch irgendwelche Zeichen einer stattgehabten äußeren Krafteinwirkung, eines äußeren Ereignisses (Weichteil- und/oder knöcherne Ödeme).
Abzugrenzen ist die vor der versicherten Tätigkeit bereits vorhandene Schadensanlage von dem durch die versicherte Tätigkeit verursachten Schaden. Ohne jegliche Verletzungszeichen im Bereich des das Kniegelenk stabilisierenden Kapsel-Band-Apparats erreicht „ein von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis“ (§ 8 Abs. 1, Satz 2), also eine äußere Krafteinwirkung, die Menisken, die eine durch den Kapsel-Band-Apparat geschützte Struktur sind, nicht. Die Zusammenhangstrennung im Bereich des Innenmeniskus, Folge von vorzeitigen Texturstörungen, ist also nicht Folge der versicherten Tätigkeit. Durch den plötzlich einsetzenden Schmerz gesichert, ist Folge der versicherten Tätigkeit – Aufstehen vom Bürostuhl – jedoch die Verlagerung des losgelösten Meniskusanteils zwischen die Gelenkkörper. Dieser zur Manifestation (Handgreifbarmachung) des Schadensbildes führende Anteil der Schadensverursachung ist der versicherten Tätigkeit zuzurechnen. Für die Verlagerung des losgelösten Innenmeniskusanteils ist sie conditio sine qua non.
Unfallunabhängig liegt beim Versicherten eine Versteifung der Wirbelkörper L3 bis S1 (Vorschaden) vor. Durch die Minderbeweglichkeit der Lendenwirbelsäule mitbedingt kommt es während versicherter Tätigkeit zu einem Bruch des ersten Lendenwirbelkörpers.
Entscheidend ist, ob trotz des Vorschadens (Versteifung von L3 bis S1) die versicherte Tätigkeit eine Ursache – neben einer weiteren Ursache, dem Vorschaden – für den Bruch des ersten Lendenwirbelkörpers war. Wird diese Frage bejaht, ist die conditio sine qua non der versicherten Tätigkeit zu bejahen.
Anders ist dies bei einem Nachschaden.
Infolge versicherter Tätigkeit ist es zu einer Versteifung des rechten Handgelenks gekommen. Ein halbes Jahr später kommt es durch einen nicht versicherten Unfall zu einem Verlust des rechten Arms im mittleren Drittel des Unterarms.
Der Verlust im mittleren Drittel des Unterarms ist nicht ursächlich auf die versicherte Tätigkeit zurückzuführen.
Der erste Schritt, die Prüfung der conditio sine qua non, indiziert bereits, dass nicht entscheidend ist, ob eine Ursache generell geeignet ist, den Gesundheitsschaden zu verursachen. Es kommt vielmehr auf die konkrete Verursachung, den konkreten Unfallzusammenhang oder Berufskrankheitenzusammenhang in jedem Einzelfall an. Grundlage der Beurteilung ist also nicht die Adäquanztheorie, Grundlage ist vielmehr die Äquivalenztheorie, also die Theorie von der Gleichheit aller Bedingungen, die jedoch eingeschränkt wird durch die Relevanztheorie, durch die Wesentlichkeit der Bedingung, die den Kausalzusammenhang bestimmt.
b. Wesentliche Bedingung
Die Wesentlichkeit einer Bedingung für den Gesundheitsschaden ist eine Wertung, die nicht dem ärztlichen Sachverständigen obliegt. Seine Aufgabe ist dennoch nicht zu Ende. Er hat dem Auftraggeber zu vermitteln, in welchem Verhältnis die verschiedensten Ursachen zum Erfolg stehen. Die letzte Wertung obliegt jedoch dem Auftraggeber, dem Juristen/Verwaltungsfachmann. Ist der Ursachenbeitrag aus dem versicherten Bereich die alleinige Ursache, ist dessen Wesentlichkeit unproblematisch. Schwierigkeiten entstehen jedoch, wenn mehrere Ursachen – auch Ursachen aus dem nicht versicherten Bereich – im Sinne der conditio sine qua non gesichert sind.
Der Meniskusschaden, der sich beim Aufstehen aus dem Bürostuhl manifestiert, weil sich ein losgelöster Teil des Innenmeniskus zwischen die Gelenkkörper verlagert, wird zwar durch versicherte Tätigkeit klinisch manifest (handgreifbar) – conditio sine qua non. Wesentlich für diesen sind jedoch bei Fehlen jeglicher Verletzungszeichen im Bereich des Kapsel-Band-Apparats und Fehlen jeglicher Ödeme (kernspintomografisch gesichert) klinisch stumme Texturstörungen (Schadensanlagen), die während versicherter Tätigkeit zum Gesundheitsschaden führen. Dieser wurde also während versicherter Tätigkeit offenkundig. Die konkreten Funktionseinbußen beruhen also im Sinne der conditio sine qua non sowohl auf dem Aufstehen aus dem Bürostuhl als auch auf den Schadensanlagen. Wesentlich ursächlich sind aber nur die Schadensanlagen.
Eine Gefahr aus dem versicherten Bereich ist nur rechtserheblich, wenn sie wesentlich mitgewirkt hat. Diejenigen Bedingungen sind rechtlich wesentlich, die unter Abwägen ihres verschiedenen Werts zu dem Schaden in eine besonders enge Beziehung treten und so zu seinem Entstehen wesentlich beigetragen haben. Nicht wesentliche Bedingungen werden umgangssprachlich als Gelegenheitsursachen bezeichnet.
Kriterien zur Bestimmung der Wesentlichkeit einer Ursache sind neben dem Schutzzweck der Gesetzlichen Unfallversicherung die Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs (Gesundheitsschadens) sowie besondere Umstände des Einzelfalls, wie versicherte Ursache hinsichtlich Art und Stärke, einschließlich des zeitlichen Ablaufs, konkurrierende Ursache(n) bezüglich Art und Stärke, Verlauf der weiteren Krankheitsgeschichte und die Vorgeschichte, wobei alle Fakten, die in die Kausalitätsüberlegungen einbezogen werden, im Vollbeweis gesichert sein müssen.
Schutzzweck
Der Schutzzweck der Gesetzlichen Unfallversicherung als Maßstab für die Wesentlichkeit einer Bedingung fand erst 2012 Eingang in die Prüfungskriterien. Er wurde übernommen aus dem Straf- und Zivilrecht. Der Begriff bezeichnet eine Haftungsbegrenzung im Rahmen der Äquivalenz- (Strafrecht) bzw. der Adäquanztheorie (Zivilrecht).
Ein Autofahrer überfährt eine auf rot stehende Lichtzeichenanlage, die den Straßenverkehr in einem Kreuzungsbereich regelt. Zwei Straßen weiter überfährt er, für ihn unvermeidbar und ohne jedes Verschulden, ein Kind, das die Straße überquert. Hätte er die Grünphase abgewartet, wäre das Kind längst auf der gegenüberliegenden Straßenseite gewesen. Der Autofahrer ist dennoch für den Tod des Kindes nicht verantwortlich, weil der Schutzzweck dieser Ampel darauf beschränkt ist, den Verkehr im Kreuzungsbereich zu regulieren.
Es handelt sich um die Frage, ob das Ergebnis einer Handlung der handelnden Person zugerechnet werden kann. Das BSG prüft mit Urteil vom 13.11.2012 (B 2 U 19/11 R) erstmals den „Schutzzweck“-Zusammenhang auch für das Sozialrecht, wobei das Ergebnis für den betroffenen Versicherten konträr zu dem zuvor aufgezeigten ist. Während es im Straf- und Zivilrecht darum geht, die Haftung des Betroffenen einzugrenzen, wird im Sozialrecht die Einstandspflicht der Versicherungsträger (Berufsgenossenschaften und Unfallkassen) begrenzt. Es entspreche nicht dem Schutzzweck der Gesetzlichen Unfallversicherung, einen Autofahrer unter deren Schutz zu stellen, wenn dieser mit einem Blutalkoholwert von 2,2 ‰ (infolge Alkoholgenuss) verunglücke. Es geht also nicht um die Frage, ob eine Rechtsgutverletzung einer bestimmten Person zugerechnet werden kann. Vielmehr ist zu beurteilen, ob eine Institution (Unfallversicherungsträger) für eine Rechtsgutverletzung einzustehen hat, ob diese also in persönlicher und sachlicher Hinsicht in den jeweiligen Schutzbereich des Unfallversicherungsträgers fällt.
Es fragt sich, ob diese Haftungsbegrenzung, die im Rahmen der Äquivalenz- und Adäquanztheorie zwingend ist, im Rahmen der Theorie der wesentlichen Bedingung, der Kausalitätstheorie des Sozialrechts, erforderlich ist. Im Beispiel standen der Alkoholspiegel und die Wegegefahr als konkurrierende Ursachen nebeneinander. Die allein wesentliche Ursache war der Alkoholspiegel des Autofahrers. Der Schutzzweck grenzt also im Sozialrecht die Kausalität ein, wobei das gleiche Ergebnis nach den bisher vorliegenden Entscheidungen auch über die Wesentlichkeit der zur Diskussion stehenden Bedingung erreicht werden kann. Der Schutzzweck ist Teil der vom Juristen zu beantwortenden Frage nach der Wesentlichkeit einer Bedingung.
Vorschaden und Schadensanlage
Die GUV schützt den Versicherten in dem Gesundheitszustand, in dem er sich bei Aufnahme seiner Tätigkeit befindet, also mit Schadensanlagen und Vorschäden, wobei dies nicht bedeutet, dass Vorschäden und Schadensanlagen mit entschädigt werden. Praktische Auswirkungen hat dieser Satz bei der Einschätzung der MdE. Im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität geht es zunächst nur um die Wesentlichkeit der Ursachen aus dem versicherten Bereich. Ist die wesentliche Ursache aus dem versicherten Bereich für den Gesundheitsschaden gegeben, kommt es nicht darauf an, ob auch andere Ursachen wesentlich sind. Es wird alles (unfallbedingt) entschädigt, ansonsten nichts. Die Kausalität in der Gesetzlichen Unfallversicherung ist – im Gegensatz zur Privaten Unfallversicherung – also nicht teilbar.
Ein 62-jähriger Versicherter, dessen linkes Bein infolge einer durchgemachten Kinderlähmung verkürzt und minderbelastbar war (Abb. 1) und dessen linker Oberschenkel aufgrund eines Bruchs 1,5 Jahre vor der versicherten Tätigkeit mittels Platte stabilisiert wurde (Vorschaden), erleidet während versicherter Tätigkeit – er prallt mit einem Kollegen zusammen – einen kniegelenksnahen Oberschenkelbruch links (Abb. 2). Betroffen ist die Stelle, an der die noch liegende Platte endet. Äußere Verletzungszeichen finden sich nicht.
Ursachen für den Knochenbruch waren einerseits der Vorschaden – Gangunsicherheit infolge der Beinverkürzung, Minderbelastbarkeit aufgrund der Muskelverschmächtigung, die noch liegende Platte als Hypomochlion (Stemmpunkt), die auch als Schadensanlage wirkte, und andererseits die versicherte Tätigkeit, der Anprall mit dem Kollegen, zu dem Einzelheiten nicht zu sichern waren. Es fragt sich, ob dieser Anprall – neben dem Vorschaden und der Schadensanlage – eine ebenfalls wesentliche Ursache für den Knochenbruch ist. Unter Berücksichtigung der gesicherten Tatsache, dass der Versicherte das linke Bein 1,5 Jahre im Rahmen seiner anlagebedingten Minderbelastbarkeit hatte belasten können, ist die Wesentlichkeit des Anpralls – neben dem Vorschaden und der Schadensanlage, die ebenfalls wesentliche Ursachen sind, die aber im Rahmen der Kausalitätsprüfung unerheblich sind, wenn eine Ursache aus dem versicherten Bereich ebenfalls wesentlich ist – zu bejahen. Der Knochenbruch ist also der versicherte Gesundheitsschaden. Die haftungsbegründende Kausalität ist erfüllt.
Ein 12-jähriges Mädchen wird von einem Mitschüler im Bereich des linken Oberarms gerempelt. Sie erleidet einen Oberarmbruch links. Äußere Verletzungszeichen finden sich nicht. Der Bruch liegt im Bereich einer bis dahin klinisch stummen juvenilen Knochenzyste, die bereits die Knochenrinde mit einbezogen hat (Schadensanlage, Abb. 3).
Allein wesentlich für den Gesundheitsschaden ist die Minderbelastbarkeit des Oberarmknochens infolge der Schadensanlage. Die Gesetzliche Unfallversicherung ist nicht zuständig.
Eine Schadensanlage schließt den Ursachenzusammenhang eines Gesundheitsschadens mit versicherter Tätigkeit nicht aus. Entscheidend ist, ob sich eine wesentliche Ursache aus dem versicherten Bereich begründen lässt. Das hängt ab von der Ausprägung der Schadensanlage einerseits und der Art der Einwirkung aus dem versicherten Bereich andererseits. Wäre im vorstehenden Beispielsfall die Knochenrinde noch intakt gewesen und hätte sich eine Prellmarke sichern lassen, so käme der versicherten Tätigkeit, dem Rempeln durch den Mitschüler, ein wesentlicher Ursachenbeitrag für den Knochenbruch zu.
Folgende Hilfsüberlegungen haben sich ausgebildet, um den Ursachenbeitrag der versicherten Tätigkeit bei Vorliegen einer Schadensanlage zu gewichten. Wesentlich ist die versicherte Tätigkeit, wenn diese
  • entweder zur Entstehung krankhafter Veränderungen einer besonderen, in ihrer Art unersetzlichen äußeren Einwirkung bedurfte und diese in der versicherten Tätigkeit enthalten ist oder
  • der Gesundheitsschaden ohne die versicherte Tätigkeit zu einem nicht unwesentlich späteren Zeitpunkt aufgetreten wäre, dieser aber durch die schädigende Einwirkung erheblich vorverlegt wurde.
In Anlehnung an die Rechtsprechung zum unfallbedingt früheren Eintritt des Todes durch versicherte Tätigkeit wird eine wesentliche Bedingung angenommen werden, wenn durch die versicherte Tätigkeit der Gesundheitsschaden wenigstens ein Jahr früher eingetreten ist. Diese Rechtsprechung geht zurück auf das BSG (Urteil vom 24.01.1979 – 9/10 RV 33/77). Zur Diskussion stand der Ursachenbeitrag einer als Schädigungsfolge anerkannten Bechterew-Erkrankung für einen schädigungsunabhängigen Herzinfarkt, an dem der Geschädigte gestorben ist. Argumentiert wurde, die Bechterew-Erkrankung habe zu einer Minderdurchblutung des Herzens geführt und dadurch den Tod um mindestens ein Jahr vorverlegt. Damit sei der Tod Schädigungsfolge.
Als Beurteilungsgrundlage sinnvoller sind jedoch strukturbezogene Überlegungen.
Einem 14-jährigen Versicherten, der an einer Blutgerinnungsstörung (Gerinnungsfaktor VIII) litt, die bis dato nicht behandlungspflichtig war, wurde beim Schulsport gegen den rechten Oberschenkel getreten. Äußere Verletzungszeichen fanden sich nicht. Bei zunächst völliger Beschwerdefreiheit hatte sich 6 Tage später im Bereich des Oberschenkels und des Kniegelenks ein massiver Bluterguss ausgebildet. Zur Diskussion standen der Ursachenbeitrag des Tritts gegen den Oberschenkel für den Bluterguss und die jetzt notwendige medikamentöse Dauerbehandlung der Blutgerinnungsstörung.
Beim Zwillingsbruder des Versicherten, der an der gleichen Blutgerinnungsstörung litt, musste diese ohne jegliche äußere Einwirkung zum annähernd gleichen Zeitraum auf Dauer medikamentös behandelt werden. Dies als Indiz für die Schwere der Blutgerinnungsstörung, das Fehlen jeglicher Verletzungszeichen beim Versicherten und der atypische zeitliche Verlauf waren die entscheidenden Argumente, um einen Ursachenbeitrag des Tritts als nicht gesichert zu beurteilen, wobei – im Hinblick auf den Verlauf beim Zwillingsbruder – auch argumentiert werden könnte, es könne nicht gesichert werden, dass die Oberschenkelprellung den Verlauf um mindestens ein Jahr beschleunigt habe.
Vom ärztlichen Gutachter werden als Hilfestellung zur Beantwortung der Frage nach der wesentlichen Teilursache einer äußeren Krafteinwirkung medizinisch-naturwissenschaftliche Argumente erwartet, vom Juristen deren wertende Umsetzung in eine Entscheidung.
Zu 4. Haftungsausfüllender Zusammenhang
Liegt ein Gesundheitsschaden und damit ein Arbeitsunfall vor, betrifft der haftungsausfüllende Zusammenhang die Folgen des Arbeitsunfalls, die nach Abschluss des Heilverfahrens verbleiben. Auch für diesen Zusammenhang gilt die Lehre von der wesentlichen Bedingung.
Ein Tiefbauarbeiter verliert unfallbedingt das rechte Bein in Unterschenkelmitte. Mitbedingt durch die verständliche Verstimmung ihres Mannes infolge der Unfallfolgen verlässt ihn seine Ehefrau. Der Tiefbauarbeiter erkrankt in der Folge an einer schweren Depression.
Es fragt sich, ob der Beinverlust im Bereich des rechten Unterschenkels dafür die wesentliche Ursache ist oder ob dies vielmehr die in der GUV nicht versicherte konkurrierende Ursache, das Verlassen durch die Ehefrau ist. Die erste Alternative, wesentliche Ursache der Beinverlust, ordnet die Depression dem versicherten Gesundheitsschaden zu, die zweite Alternative, Verlassen durch die Ehefrau, dem privaten nicht über die GUV versicherten Bereich.

Versicherungsfall – Berufskrankheit (BK)

§ 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII
Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheit bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden.
Berufskrankheiten sind Listenerkrankungen, also in die Berufskrankheitenliste von der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrats aufgenommene Krankheiten (zurzeit 82 Listenerkrankungen).
Die Aufnahme in die Liste ist kein Willkürakt. Die Bundesregierung wird dabei beraten durch den Ärztlichen Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten (ÄSVB). Dieser gleicht den fehlenden Sachverstand des Verordnungsgebers aus und stellt über die zu jeder Berufskrankheit erforderliche „Wissenschaftliche Begründung“ faktisch den Stand der herrschenden Meinung fest. Nur für vom Verordnungsgeber in die Berufskrankheitenliste aufgenommene Erkrankungen und für anerkannte „Wie“-Berufskrankheiten sind die Träger der Gesetzlichen Unfallversicherung zuständig.
Ebenso wie der Arbeitsunfall muss die Berufskrankheit in jedem Einzelfall ursächlich – wesentlich teilursächlich (Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung) – auf der versicherten Tätigkeit beruhen. Nur dann rechtfertigt sich die Haftung des Arbeitgebers, von dessen Risikobereich die Erkrankung ausgehen muss. Ebenso wie zum Arbeitsunfall gilt auch hier das „Alles oder Nichts“-Prinzip. Die Erkrankung muss also wesentlich auf einer berufsbedingten Einwirkung beruhen. Dann ist sie anzuerkennen, auch wenn andere Ursachen mitursächlich waren.
Der Lastenträger, bei dem die beruflichen (arbeitstechnischen) und medizinischen Voraussetzungen der Berufskrankheit Nr. 2108 vorliegen, ist gleichzeitig seit 30 Jahren starker Raucher. Der Nikotinabusus ist eine Einwirkung, die auch als Ursache von Bandscheibenveränderungen diskutiert wird. Die berufsbedingte Einwirkung ist dennoch eine wesentliche Ursache. Die Berufskrankheit Nr. 2108 ist anzuerkennen.
§ 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII
Die Bundesregierung wird ermächtigt, in die Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind.
Die „besondere Einwirkung“ muss quantitativ und qualitativ über das Normale hinausgehen. Sie muss zudem von außen kommen. Es darf sich nicht um ubiquitäre Einwirkungen handeln. In der Regel wird eine Risikoverdopplung als Voraussetzung für eine Berufskrankheit gefordert.
Die „Wie“-Berufskrankheiten sind keine Ausnahme vom Listenprinzip. Rechnung getragen wird lediglich der Tatsache, dass es meist Jahre dauert, bis eine Erkrankung vom Verordnungsgeber in die Berufskrankheitenliste aufgenommen wird. Die Anerkennung als „Wie“-BK muss dann erfolgen, wenn die Wissenschaftliche Begründung für die neue Berufskrankheit vorliegt und vom BMAS (Bundesministerium für Arbeit und Soziales) veröffentlicht ist.
Das Prüfungsschema entspricht demjenigen zum Arbeitsunfall, nur dass anstelle der Unfall-/Ereigniskausalität die Einwirkungskausalität tritt.
Bei Berufskrankheiten gelten besondere Verfahrensvorschriften. Für jeden Arzt oder Zahnarzt besteht die gesetzliche und erzwingbare – der Anzeige etwa nach dem Bundesseuchengesetz rechtlich vergleichbare – Pflicht, eine Anzeige zu erstatten, falls er den begründeten Verdacht hat, dass bei einem Versicherten eine Berufskrankheit besteht (§ 202 SGB VII). Die Anzeige ist unverzüglich dem zuständigen Unfallversicherungsträger oder der für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stelle – dem Staatlichen Gewerbearzt – zu erstatten (§ 7 Berufskrankheiten-Verordnung, BKV).

Mittelbare Unfallfolge

Es geht um die Frage, ob ein zweiter Unfall Folge des ersten Unfalls ist.
Ein 9-jähriger Junge erleidet infolge eines Wegeunfalls einen Speichenbruch rechts, der konservativ mittels Gipsverband behandelt wird. Der Versicherte – animiert durch seiner Freunde – schwingt sich aufs Rad, stürzt infolge der Behinderung durch den Gipsverband und zieht sich einen Jochbeinbruch rechts zu. Zur Diskussion steht die Frage, wer die Behandlungskosten für den Jochbeinbruch trägt.
Der Jochbeinbruch rechts ist mittelbare Folge des Wegeunfalls. Die dem 9-Jährigen zu unterstellende einfache Fahrlässigkeit hindert den Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit, dem Wegeunfall, nicht (§ 7 Abs. 2 SGB VII und § 101 SGB VII).
Liegt ein Arbeits-/Wegeunfall oder eine Berufskrankheit vor, so sind nicht nur die unmittelbar durch den Unfall verursachten, sondern auch die erst später hinzutretenden Folgen zu entschädigen. Die Prüfung erstreckt sich darauf, ob ein selbstständiges Ereignis die vorliegenden Unfallfolgen verursacht hat oder ob der vorherige Arbeitsunfall in rechtlich wesentlicher Weise bei dem zweiten Unfall mitursächlich war.
Ausdrücklich geregelt sind „Mittelbare Folgen eines Versicherungsfalls“ in § 11 SGB VII:
§ 11 SGB VII Mittelbare Folgen eines Versicherungsfalls
(1) Folgen eines Versicherungsfalls sind auch Gesundheitsschäden oder der Tod von Versicherten infolge
1.
der Durchführung einer Heilbehandlung, von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder einer Maßnahme nach § 3 der Berufskrankheiten-Verordnung,
 
2.
der Wiederherstellung oder Erneuerung eines Hilfsmittels,
 
3.
der zur Aufklärung des Sachverhalts eines Versicherungsfalls angeordneten Untersuchung.
 
In der Diskussion stehen insbesondere 1. und 3. dieser Vorschrift. Teilweise wird die Abgrenzung, ob eine versicherte Heilbehandlung vorliegt, nach objektiven Umständen getroffen, ob also ex post die Heilbehandlung einem versicherten Unfall zuzurechnen ist. Das BSG stellt jedoch darauf ab, was dem Versicherten vom Träger der Unfallversicherung bzw. den in seinem Auftrag Tätigen vermittelt wurde:
„Die Durchführung einer Heilbehandlung iS des § 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII liegt vor, wenn der Unfallversicherungsträger dem Versicherten einen Anspruch auf eine bestimmte Heilbehandlungsmaßnahme nach den §§ 26 ff SGB VII – nicht notwendig durch Verwaltungsakt in Schriftform – bewilligt oder ihn durch seine Organe oder Leistungserbringer zur Teilnahme an einer solchen diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme aufgefordert hat und der Versicherte an der Maßnahme des Trägers den Anordnungen der Ärzte folgend teilnimmt.“ „Es kommt rechtlich nicht darauf an, ob die Heilbehandlungsmaßnahme durch den Träger objektiv rechtmäßig war oder ob objektiv ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung (§ 26 Abs. 5 S 1 SGB VII) über die Bewilligung eines Anspruchs auf diese Heilbehandlung bestand. Nicht notwendig ist deshalb, dass objektiv, dh aus der nachträglichen Sicht eines fachkundigen Beobachters, die Voraussetzungen eines Versicherungsfalls oder einer Unfallfolge im engeren Sinne wirklich vorlagen. Auch objektiv nicht durch den Arbeitsunfall bedingte Heilbehandlungen können die Tatbestände des § 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII oder ggf. § 11 Abs. 1 Nr. 3 SGB VII auslösen“ (BSG, Urteil vom 06.09.2018 – B 2 U 16/17 R).

Beweismaß

In der GUV sind alle Tatsachen/Fakten im Vollbeweis (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) zu sichern. Dies bedeutet keine unumstößliche Gewissheit. Ausreichend ist ein für das praktische Leben brauchbarer Grad an Gewissheit, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (BGH, Urteil vom 17.02.1970 – III ZR 139/67). Dieses Beweismaß gilt für die versicherte Tätigkeit, die zum Unfall führende Verrichtung, das äußere Ereignis, den Gesundheitsschaden, konkurrierende Ursachen, Schadensanlagen und Vorschäden.
Mit hinreichender Wahrscheinlichkeit sind demgegenüber die verbindenden Zusammenhänge, die Kausalität, zu sichern. Hinreichende Wahrscheinlichkeit ist dann gegeben, wenn Belege/Nachweise deutlich überwiegen, sodass bei vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Argumenten ein deutliches Übergewicht zukommt und ernsthafte Zweifel an einer anderen Verursachung ausscheiden. Das Beweismaß der Wahrscheinlichkeit geht auf das 1950 in Kraft getretene Bundesversorgungsgesetz (BVG) zurück (§ 1 Abs. 3). Auch in dem zum 01.01.2024 (vollständig) in Kraft tretenden SGB XIV, durch das das BVG aufgehoben wird, wird in § 4 Abs. 4 nur die „Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs“ verlangt. Dieser ist aber identisch mit der „hinreichenden Wahrscheinlichkeit“, den das BSG dem Kausalzusammenhang zugrunde legt. Eine Steigerung wahrscheinlich/hinreichend wahrscheinlich gibt es nicht. Der Zusatz „hinreichend“ ist zur Gewohnheit geworden, ohne dass sich die Bedeutung des Wortes „Wahrscheinlichkeit“ geändert hätte. Die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs im Sozialrecht, speziell in der Gesetzlichen Unfallversicherung, ist deshalb ausreichend, weil es der Lebenserfahrung entspricht, dass ursächliche Zusammenhänge nicht mit der gleichen Sicherheit bewiesen werden können wie Tatsachen.
Ein Kind, dessen Mutter, durch versicherte Tätigkeit bedingt, an Hepatitis B erkrankt war (BK Nr. 3101), litt ebenfalls an dieser Krankheit. Zwischen den Parteien war streitig, ob es als „Leibesfrucht“ infiziert worden war (§ 12 SGB VII). Das LSG hatte für den Zeitpunkt der Infektion, für eine Tatsache, die hinreichende Wahrscheinlichkeit ausreichen lassen. Dazu das BSG: „Demgegenüber muss der Zeitpunkt der Infektion nach Auffassung des Senats feststehen. Zwar trifft es zu, dass nach ständiger Rechtsprechung zur Bejahung des ursächlichen Zusammenhangs eine hinreichende Wahrscheinlichkeit ausreicht. Diese gegenüber den an den erforderlichen Beweis zu stellenden geringeren Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung genügen allerdings nur bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs. Dies hat seinen Grund darin, dass der Kausalzusammenhang zu denjenigen Tatsachen gehört, für deren Vorliegen ein strenger Beweis kaum zu führen ist“ (BSG, Urteil vom 30.04.1985 – 3 RU 43/84).
Nicht ausreichend ist die bloße Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs.
Wertende Entscheidungen, z. B. ob eine konkrete Tätigkeit zur versicherten Tätigkeit gehört, ob sie also dem Unternehmen diente, sind nicht zu beweisen. Sie sind wertend zu beurteilen.

Wer trägt die Beweisnachteile?

Derjenige, der Ansprüche aus einem bestimmten Sachverhalt ableitet, trägt die Beweisnachteile, wenn dieser Sachverhalt nicht bewiesen werden kann. Das ist in der Regel der Versicherte, wobei zu konkurrierenden Ursachen (Ursachen aus dem nicht versicherten Bereich), wenn dadurch dem Anspruch des Versicherten entgegengetreten werden soll, die Beweisnachteile zu Lasten des Trägers der GUV gehen.
Zur Diskussion steht eine Kapsel-Band-Verletzung im Bereich des rechten Kniegelenks. Der Versicherte trägt die Beweisnachteile, wenn die Kapsel-Band-Verletzung nicht bewiesen werden kann. Es handelt sich um eine Tatsache, für die der Vollbeweis erforderlich ist.
Es geht weiter um die Frage, ob der Versicherte zum Zeitpunkt der zur Diskussion stehenden Verletzung eine versicherte Tätigkeit ausgeführt hat. Der Versicherte, im Homeoffice tätig, ist auf der Treppe zu seinem Büro gestürzt, weil in seinem Büro das Telefon klingelte. Diese Entscheidung ist wertend zu treffen. Sie ist keinem Beweis zugänglich. Handelte es sich um ein mit dem Chef vereinbartes Telefongespräch, ist naheliegend ein Zusammenhang mit versicherter Tätigkeit gegeben. Hat dagegen zufällig die Freundin angerufen, dann bedarf der Zusammenhang mit versicherter Tätigkeit einer weiteren Begründung.
Ist diese Hürde genommen, stellt sich die Frage, ob die Kapsel-Band-Verletzung auf dem Weg zum Telefon entstanden ist. Daran bestehen insofern Zweifel, als der Versicherte erst 6 Tage später den Arzt aufgesucht hat und diesem keine Angaben über einen „Unfall“ durch versicherte Tätigkeit gemacht hat. Der Zusammenhang zwischen im Vollbeweis gesichertem Gesundheitsschaden und der im Vollbeweis gesicherten versicherten Tätigkeit ist mit Wahrscheinlichkeit zu sichern. Gelingt dies nicht, trägt der Versicherte die Beweisnachteile.
Der Träger der GUV wendet ein, die durch den Gesundheitsschaden vermeintlich verursachten Funktionseinbußen seien Folge eines in der Vergangenheit abgelaufenen nicht versicherten Schienbeinkopfbruches, der operativ behandelt wurde. Zu diesem Zusammenhang zwischen gesicherten Funktionseinbußen und einem Vorschaden hat der Träger der GUV die Beweisnachteile zu tragen, wenn sich dieser Einwand nicht beweisen lässt.

Amtsermittlungsprinzip

Eng mit der Verteilung der Beweisnachteile verbunden ist das Amtsermittlungsprinzip, das für alle Tatsachengerichte und für alle Verwaltungen gilt.
§ 103 SGG (Sozialgerichtsgesetz)
Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.
Dies gilt jedoch nur für die Tatsacheninstanzen, also für die Sozialgerichte und die Landessozialgerichte. Das Bundessozialgericht ist demgegenüber grundsätzlich an die tatsächlichen Feststellungen der Instanzgerichte gebunden. Seine Zuständigkeit ist die Überprüfung von Rechtsfragen (§ 163 SGG).
§ 163 SGG
Das Bundessozialgericht ist an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, außer wenn in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind.
Für die Ermittlung des Sachverhalts verweist § 118 SGG auf die ZPO (Zivilprozessordnung), sodass im Sozialrecht nahezu alle Ermittlungsmöglichkeiten der ZPO zur Verfügung stehen und zwar von Amts wegen.
BSG Urteil vom 25.06.2002 – B 11 AL 3/02 R: „Nach § 103 SGG hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Diese Pflicht besteht, soweit Sachverhalt und Beteiligtenvortrag dies nahe legen. Die amtliche Sachaufklärungspflicht erstreckt sich zwar nicht auf Tatsachen, für deren Bestehen die Umstände des Einzelfalles keine Anhaltspunkte bieten.“
Die Unabhängigkeit von den Beweisanträgen der Parteien (§ 103 SGG) kennt eine wichtige Ausnahme:
§ 109 SGG
(1) Auf Antrag des Versicherten, des behinderten Menschen, des Versorgungsberechtigten oder Hinterbliebenen muß ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Die Anhörung kann davon abhängig gemacht werden, daß der Antragsteller die Kosten vorschießt und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts endgültig trägt.
Das Recht auf ein Gutachten eines vom Versicherten bestimmten Arztes besteht jedoch – in der Regel – nur einmal in jedem Rechtsstreit (BSG, Urteil vom 26.01.1970 – 7/2 RU 64/69). Ein Recht, solange Gutachter zu benennen, bis diese eine dem Versicherten genehme Meinung vertreten, besteht nicht.
Für den ärztlichen Gutachter ist in diesem Zusammenhang wichtig: Der nach § 109 SGG benannte Gutachter wird auf Vorschlag des Versicherten (Klägers) im Auftrag durch das Gericht tätig. Der Gutachter unterliegt also allen von der ZPO ihm auferlegten Pflichten. Der § 109 SGB soll zwar im Sinne des Versicherten (Klägers) dafür Sorge tragen, dass möglichst umfassend der Sachverhalt überprüft und Kausalitätsüberlegungen überdacht werden. Er hat aber nicht zum Ziel, ein Parteigutachten in den Rechtsstreit einzuführen.
Die für das Gerichtsverfahren aufgestellten Regeln gelten grundsätzlich auch für das Verwaltungsverfahren.
§ 20 SGB X (gleichlautend mit § 24 Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVfG) Untersuchungsgrundsatz
(1) Die Behörde ermittelt den Sachverhalt von Amts wegen. Sie bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen; an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten ist sie nicht gebunden.
Eine Ausnahme vom Amtsermittlungsgrundsatz ist § 200 Abs. 2, Satz 1 SGB VII:
(2) Vor Erteilung eines Gutachtenauftrages soll der Unfallversicherungsträger dem Versicherten mehrere Gutachter zur Auswahl benennen.
In der Regel werden vom zuständigen Versicherungsträger (Berufsgenossenschaft/Unfallkasse) 3 Gutachter benannt, aus denen einer vom Versicherten ausgewählt werden kann. Dieser Paragraf wurde im Rahmen des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes (UVEG) vom 7. August 1996 geschaffen und trat zum 1. Januar 1997 in Kraft. Gestärkt wird durch diese Vorschrift die Position des Versicherten, wobei dieser zwar keinen Anspruch darauf hat, dass auch von ihm selbst benannte Gutachter beauftragt werden. Dieser Paragraf ist die Reaktion darauf, dass von den Trägern der Gesetzlichen Unfallversicherung in der Regel externe Gutachter zur Klärung medizinischer Sachverhalte herangezogen werden, an deren Benennung der Versicherte im Verwaltungsverfahren ein Mitspracherecht haben soll. Der Verstoß gegen § 200 Abs. 2 SGB VII führt zu einem Verwertungsverbot des Gutachtens. Ausgenommen sind zwar die Stellungnahmen von Beratungsärzten, die in die Organisation der Träger der Gesetzlichen Unfallversicherung eingegliedert sind.

Einschätzung der MdE

Die MdE ist der Prozentsatz, der für die Höhe der Rentenleistung der GUV maßgeblich ist. Bis zum 01.01.2009 wurde der Begriff MdE auch im Sozialen Entschädigungsrecht benutzt. Seit Inkrafttreten der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) am 01.01.2009 gilt im Sozialen Entschädigungsrecht der GdS (Grad der Schädigungsfolgen).
Nach § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII richtet sich die MdE
„nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens.“
Die MdE drückt in Prozentsätzen die abstrakte Minderung der Erwerbsfähigkeit auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt durch einen konkreten unfallbedingten oder berufskrankheitsbedingten Gesundheitsschaden aus.
Durch den Verweis auf die „Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens“ ist klargestellt, dass bei Einschätzung/Bemessung der MdE nicht Bezug genommen wird auf den konkreten Einkommensverlust, sondern auf die verbliebenen Möglichkeiten schlechthin, sich einen Erwerb zu verschaffen. Diese abstrakte Schadensbemessung lässt grundsätzlich den Ausbildungsstand, das Alter, die konjunkturelle Lage, die konkreten Chancen, eine neue Stelle zu erhalten, oder den Verbleib in der alten Stelle völlig außer Betracht. Auch die tatsächlichen oder hypothetischen Fortkommenseinschränkungen sind ebenso unerheblich wie evtl. aus der nachfolgenden beruflichen Neuorientierung resultierende wirtschaftliche Vorteile.
Bei Kindern und jugendlichen Versicherten wird die MdE nach den Auswirkungen bemessen, die sich bei Erwachsenen mit gleichem Gesundheitsschaden ergeben würden (§ 56 Abs. 2 Satz 2 SGB VII), also nicht nach z. B. der Minderung der Spielfähigkeit oder der Schulfähigkeit.
Ein 3-jähriges Kind hat unfallbedingt die Milz verloren. Verblieben ist eine Immunschwäche. Diesem Kind sind, wäre es ein Erwachsener mit der Immunschwäche des Kindes, alle Arbeitsmöglichkeiten verschlossen, die mit dem Risiko verbunden sind, sich zu infizieren. Diese Minderung der Arbeitsmöglichkeiten auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt sind der Einschätzung der MdE bei dem 3-jährigen Kind zugrunde zu legen.
Der gutachtliche Vorschlag zur Höhe der MdE ist eine Wertung in Form einer Schätzung. Die tatsächliche Feststellung obliegt dem Versicherungsträger bzw. den Sozialgerichten. Die MdE-Höhe orientiert sich in der GUV an den MdE-Erfahrungswerten.
Die MdE-Erfahrungswerte sind – bis auf kleine Abweichungen – seit Anfang des 20. Jahrhunderts unverändert. Sie beruhen auf dem Gedanken der Gleichbehandlung aller Versicherten und haben sich im Laufe von über 100 Jahren praktisch nicht geändert, obwohl sich die Arbeitswelt, der medizinische Fortschritt und die Hilfsmittel, vornehmlich die prothetische Versorgung von Unfallopfern, deutlich verändert haben. Die MdE-Erfahrungswerte sind abstrakte verbindliche Vorgaben für die Einschätzung der konkreten individuellen Funktionseinbußen.
„Die sog. MdE-Tabellen bezeichnen typisierend das Ausmaß der durch eine körperliche und/oder geistige Funktionsbeeinträchtigung hervorgerufenen Leistungseinschränkungen in Bezug auf das gesamte Erwerbsleben und ordnen körperliche oder geistige Funktionseinschränkungen einem Tabellenwert zu. Die in den Tabellen und Empfehlungen enthaltenen Richtwerte geben damit auch allgemeine Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher Beeinträchtigungen auf die Erwerbsfähigkeit aufgrund des Umfangs der den Verletzten versperrten Arbeitsmöglichkeiten wieder und gewährleisten, dass die Verletzten bei der medizinischen Begutachtung nach einheitlichen Kriterien beurteilt werden“ (BSG, Urteil vom 20.12.2016 – B 2 U 11/15 R).
Eine Rechtsgrundlage (Gesetz/Verordnung) für diese Tabellen fehlt – anders als beim GdB und GdS. Dies wird von der Rechtsprechung wie folgt beanstandet:
„Kritisch anzumerken bleibt, dass aufgrund der Regelungsstruktur des § 56 Abs. 2 SGB VII prinzipiell unklar bleibt, welche medizinischen Referenzgrößen und welche arbeitsmarktpolitischen bzw. soziologischen Erkenntnisse die Verfasser der MdE-Tabellen in ihre Überlegungen grundsätzlich einzustellen haben. Es würde einen Gewinn an Rechtssicherheit und -klarheit darstellen, wenn der Gesetzgeber selbst in § 56 Abs. 2 SGB VII eine Delegation zum Erlass von MdE-Tabellen aussprechen würde, die den Kriterien des Art 80 Abs. 1 S 2 GG genügen würde. Dabei wäre der Gesetz- bzw. Verordnungsgeber auch berufen, die allgemeinen Maßstäbe und das Verfahren der Erstellung der MdE-Tabellen – wie es etwa durch die Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 (BGBl I 2412) für die Bestimmung des Grades der Behinderung iS von § 69 Abs. 1 S 5 SGB IX und im sozialen Entschädigungsrecht für den Grad der Schädigungsfolgen nach § 30 Abs. 1 BVG geschehen ist – zu normieren“ (BSG, Urteil vom 20.12.2016 – B 2 U 11/15).
Nur klar umschriebene MdE-Tabellenwerte sind sinnvolle „Eck“daten. Nicht tabellarisch erfasste oder erfassbare Funktionseinbußen sind im Wege der Interpolation von MdE-Tabellenwerten zu ermitteln.
Die MdE ist in 5er-Schritten einzuschätzen. Die früher üblichen Werte von 33 1/3 und 66 2/3 werden nicht mehr praktiziert.
Die Höhe der MdE sagt nichts über die Erwerbsfähigkeit in der Gesetzlichen Rentenversicherung (volle/teilweise Erwerbsminderung) aus. Die MdE-Erfahrungswerte sind auch mit den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen nicht austauschbar. Sie sagen nichts über die Höhe von GdB (Grad der Behinderung) und GdS (Grad der Schädigungsfolgen) aus.
Maßgeblich für die MdE sind Funktionseinbußen, also keine Gradzahlen. Entscheidend für die MdE ist also nicht, bis zu welchem Grad der Arm im Schultergelenk angehoben werden kann. Entscheidend ist, welche Funktionen, die auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt abverlangt werden, dem Versicherten verschlossen sind.
Ein in Rechtwinkelstellung fest versteiftes Ellenbogengelenk (Beugung/Streckung 0/90/90°) ist mit einer MdE von 30 % einzuschätzen. Beträgt die Bewegungseinschränkung demgegenüber nur die Hälfte (0/35/115°), so ist die MdE nicht etwa mit 15 % einzuschätzen. Den dadurch bedingten Funktionseinbußen entspricht vielmehr eine MdE von 10 %.
Verschlossen sind Funktionen, die
  • der Versicherte nicht mehr ausüben kann (Beinverlust im Unterschenkelbereich),
  • der Versicherte beschwerdebedingt nicht mehr ausübt (Arthrose),
  • dem Versicherten aus präventiven Gründen gegenwärtig verschlossen sind (künstlicher Gelenkersatz).
Einzuschätzen sind die Funktionseinbußen für Vergangenheit und Gegenwart. Die zukünftige Entwicklung wird, wenn sich die Unfallfolgen/Folgen der Berufskrankheit wesentlich (über 5 %, § 73 Abs. 3 SGB VII) geändert haben, neu eingeschätzt. Anders als in der PUV bedarf es also keiner Prognose.
Sind Unfallfolgen auf einem Fachgebiet einzuschätzen, ist eine MdE zu bilden.
Unfallbedingt sind verblieben nach eine Funktionseinbuße im Bereich der rechten Hand (MdE 10 %) und eine Funktionseinbuße im Bereich des linken Schultergelenks (MdE 20 %). Beide Werte sind nicht zu addieren. Zu beurteilen ist vielmehr, in welchem Ausmaß – ausgehend von der gravierenden Unfallfolge im Bereich der linken Schulter – dadurch bedingte Funktionseinbußen durch Unfallfolgen im Bereich der rechten Hand „verschlimmert“ werden in Bezug auf den Allgemeinen Arbeitsmarkt.
Sind Unfallfolgen auf verschiedenen Fachgebieten einzuschätzen, ist eine „Gesamt“-MdE zu bilden. Dies ist kein Rechtsbegriff. Dieser Hilfsbegriff ist jedoch sinnvoll, wenn Unfallfolgen auf unterschiedlichen Fachgebieten zu einer MdE zusammenzufassen sind.
Unfallbedingt sind verblieben nach einem Sprunggelenksverrenkungsbruch eine Bewegungseinschränkung im oberen und unteren Sprunggelenk und ein Ausfall des Wadenbeinnervs (Peronäusschaden). Die Bewegungseinschränkung ist auf unfallchirurgischem Fachgebiet einzuschätzen, der Nervenschaden auf nervenärztlichem Fachgebiet. Beide Einschätzungen sind vom Unfallchirurgen zusammenzufassen zu einer „Gesamt“-MdE.
Folgende Grundsätze sind bei der Bildung einer „Gesamt“-MdE zu beachten:
  • Funktionseinbußen, die sich überlagern, sind nur einmal zu werten
  • Wirtschaftlich nicht messbare Funktionseinbußen können in ihrer Gesamtheit MdE-relevant werden
  • Völlig getrennte Funktionseinbußen sind nicht zwangsläufig zu addieren
  • Verschlimmerungen und Besserungen der Einzel-MdE-Sätze ändern nicht zwangsläufig die „Gesamt“-MdE

Einschätzung der MdE bei Vorschaden

Zu unterscheiden ist zwischen der Verschlimmerung eines versicherten Schadens und einem Vorschaden.
Ein Versicherter hat durch versicherte Tätigkeit eine Sprunggelenksverletzung links erlitten. Durch Bescheid wird die MdE auf 20 % festgesetzt. Die dadurch bedingten Funktionseinbußen verschlimmern sich. Die MdE ist, wenn sie sich „wesentlich“, also um mehr als 5 % ändert, neu festzusetzen (§ 73 Abs. 3 SGB VII).
Anders ist dies jedoch bei einem Vorschaden.
Der Versicherte hat durch versicherte Tätigkeit unfallbedingt einen stabilen Stauchungsbruch des ersten Lendenwirbelkörpers erlitten. Vorbestehend aufgrund einer bandscheibenbedingten Erkrankung war eine Versteifung der Segmente L3 bis S1 (Abb. 4). Zur Diskussion steht die Einschätzung der unfallbedingten MdE nach Bruch des ersten Lendenwirbelkörpers.
Der Versicherte ist so versichert, wie er zur Arbeit antritt. Dieser „Ohrwurm“ der GUV hat hier seinen Platz. Er besagt, dass die Erwerbsfähigkeit des Versicherten bei Arbeitsantritt mit 100 % einzuschätzen ist, unabhängig davon, ob ihm eine Hand, ein Bein oder ein Auge fehlt. Das heißt aber nicht, dass der nicht versicherte Vorschaden mit entschädigt wird. Die 100 % beziehen sich auf die Restarbeitsfähigkeit des Versicherten (Verletzten) unter Berücksichtigung des Vorschadens. Folgende Fragen sind also zu stellen:
1.
Welche Arbeitsplätze standen dem Versicherten zum Zeitpunkt des Bruchs des ersten Lendenwirbelkörpers noch zur Verfügung? Dies sind alle Arbeitsplätze, die der Versicherte unter Berücksichtigung der versteiften Segmente L3 bis S1 noch ausfüllen kann. Diese Restarbeitsfähigkeit ist individuell mit 100 % anzusetzen.
 
2.
Welche Arbeitsplätze sind von diesem Restarbeitsmarkt dem Versicherten durch den Stauchungsbruch des ersten Lendenwirbelkörpers verloren gegangen? Hat sich also die vorbestehende Funktionseinbuße durch den Stauchungsbruch des ersten Lendenwirbelkörpers messbar verschlimmert, sodass Arbeitsbereiche benannt werden können, die der Versicherte durch den Stauchungsbruch des ersten Lendenwirbelkörpers verloren hat, die ihm aber nach Versteifung der Segmente L3 bis S1 noch zur Verfügung standen?
 
3.
Welcher MdE entspricht der Verlust der Restarbeitsfähigkeit, bedingt durch den Bruch des ersten Lendenwirbelkörpers, bezogen auf 100 %?
 
Vorliegend wird die unfallbedingte MdE durch den Stauchungsbruch des ersten Lendenwirbelkörpers keine 20 % erreichen, sodass unter Berücksichtigung des Vorschadens keine rentenberechtigende MdE resultiert.
Die MdE-Erfahrungswerte sind bei Vorliegen eines Vorschadens keine Richtschnur mehr, allenfalls eine Hilfestellung, um zu interpolieren.
Als Vorschaden stehen zur Diskussion eine erblich bedingte atopische Diathese (erblich bedingte Neigung zu Überempfindlichkeitsreaktionen), eine Zuckerkrankheit mit Verlust der rechten Großzehe und eine Lungenfunktionsstörung. Als berufskrankheitsbedingt (BK-Nr. 5101) steht zur Diskussion ein „abgeheiltes kumulatives subtoxisches Exzem“ (Abnutzungsjuckflechte aufgrund Schadstoffeinwirkung) im Bereich der Hände. Zu prüfen ist, inwieweit sich der Vorschaden auf die berufskrankheitsbedingte MdE auswirkt.
„Bestanden bei dem Versicherten vor dem Versicherungsfall bereits gesundheitliche, auch altersbedingte Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit“, sind diese MdE-relevant (BSG, Urteil vom 05.09.2006 – B 2 U 25/05 R).
Grundsätzlich sind somit alle Vorschäden – nicht nur an der gleichen Funktionseinheit bzw. dem gleichen Organsystem – auf ihre MdE-Relevanz zu überprüfen, wobei allerdings „altersbedingte Beeinträchtigungen“ (siehe obiges BSG-Urteil) kein Vorschaden sind.
Erforderlich ist jedoch die funktionelle Überlagerung von Vorschaden und unfallbedingtem/berufskrankheitsbedingtem Gesundheitsschaden. Dies setzt jedoch nicht voraus, dass jeweils die gleiche Funktion betroffen ist.
Es besteht unfallbedingt eine schwere Funktionseinbuße im Bereich des rechten Sprunggelenks. Vorschaden ist eine schwerste krankheitsbedingte Funktionseinbuße der Lunge.
Lunge und Sprunggelenk haben unterschiedliche Funktionen: Sprunggelenk – Gehen und Stehen; Lunge – Atmung. Dennoch überlagern sich Vorschaden und unfallbedingter Gesundheitsschaden, weil durch die Funktionseinbußen infolge der Lungenerkrankung die Funktion des Sprunggelenks bereits vor dem Unfall nicht mehr vollständig abgerufen werden konnte.
Ausreichend ist, dass der Vorschaden die Erwerbsfähigkeit gemindert hat, sodass der unfallbedingte Gesundheitsschaden sich nicht mehr voll auswirken kann.

Schüler-Unfallversicherung – Einschätzung der MdE während der Heilungsphase

Die MdE-Tabellen beziehen sich ausnahmslos auf einen gewissen Endzustand (Rente auf unbestimmte Zeit). Tabellarisch aufgeführt sind z. B. der „Beinverlust im Hüftgelenk“, „im Bereich des Oberschenkels“, „im Bereich des Unterschenkels“.
Keine Vorgaben liegen jedoch für die Phase der akuten Heilbehandlung vor. Die Einschätzung der MdE ab dem Tag nach dem Unfall ist der Gesetzlichen Unfallversicherung grundsätzlich fremd.
Ausnahme ist die Schüler-Unfallversicherung (§ 72 Abs. 1 Ziffer 2 SGB VII in Verbindung mit § 45 SGB VII). Die im Rahmen eines Konsens entwickelte Tabelle enthält jedoch nur wenige Vorgaben (Tab. 2).
Tab. 2
MdE für Schüler (ab dem Tag nach dem Unfall)
Beschwerden/Schaden
MdE (%)
Stationäre Behandlung
100
Versorgung mit Liegegips
100
Versorgung mit Unterarm und Oberarmgips beidseits
100
Versorgung mit Oberschenkelgehgips
50
Versorgung mit Unterschenkelgehgips
40
Versorgung mit Oberarmgips
60
Versorgung mit Unterarmgips
30
Der Ansatz der MdE liegt bei dieser Tabelle an der Untergrenze der „Eckwerte“ aus den MdE-Tabellen. Das ist nicht korrekt, denn der Funktionsverlust bei einer Versorgung mit Unterschenkelgehgips z. B. liegt eher über dem Funktionsverlust bei Verlust des Beins im Unterschenkel bei genügender Funktionstüchtigkeit des Stumpfes und der verbliebenen Gelenke (MdE 40 %), zumal jegliche Gewöhnungssphase fehlt.
Mit Ausnahme der Besonderheit während der Heilungsphase, die sich daraus ergibt, dass die in der Schülerunfallversicherung Versicherten kein Verletztengeld erhalten, folgt die Schülerunfallversicherung ganz konsequent den oben aufgezeigten MdE-Einschätzungskriterien. Gerade die Identität der MdE-Einschätzung stellt den ärztlichen Gutachter vor Probleme.
Der konkrete Gesundheitsschaden, d. h. der unfallbedingte Funktionsverlust, umfasst die Funktionen, die
  • das versicherte Kind/der Schüler/der Student nicht mehr ausüben kann,
  • die ihm beschwerdebedingt nicht zur Verfügung stehen und
  • die ihm aus präventiven Gründen gegenwärtig verschlossen sind.
Bis zu diesem Punkt finden sich mit Ausnahme der kindspezifischen Besonderheiten keine grundsätzlichen Abweichungen zur Einschätzung der MdE beim Erwachsenen. Besonderheiten ergeben sich jedoch zum zweiten Schritt der Einschätzung der MdE, der abstrakten Einschätzung der individuellen Erwerbsminderung – bezogen auf den Allgemeinen Arbeitsmarkt (§ 56 Abs. 2 Satz 2 SGB VII). Die Besonderheit besteht darin, dass die verletzungsbedingte Funktionseinbuße des Kindes eingeschätzt wird in Bezug auf den Allgemeinen Arbeitsmarkt, der regelhaft nur dem Erwachsenen zur Verfügung steht. Das Kind wird zum Zweck der MdE-Einschätzung zum Arbeitnehmer mit den konkreten, dem Kind anhaftenden Behinderungen. Der Allgemeine Arbeitsmarkt als Bezugspunkt der Einschätzung anstelle kindgerechter Gesichtspunkte, der Entwicklungs-, Bildungs-, Schul- und Spielfähigkeit, ist das Ungewöhnliche bei der Begutachtung des kindlichen Unfalls in der Gesetzlichen Unfallversicherung.
Ein 3-jähriges Kind erleidet auf dem Weg zum Kindergarten einen unfallbedingten Milzverlust.
Kindspezifisch ist infolge des im Alter von 3 Jahren noch unvollkommenen Immunsystems nach Milzverlust ein ganz erhebliches Infektionsrisiko vorhanden. Dieses führt – bezogen auf den Allgemeinen Arbeitsmarkt – dazu, dass für das Kind eine MdE in rentenberechtigendem Ausmaß einzuschätzen ist, für den Erwachsenen bei gleichem Organverlust jedoch nicht. Verschlossen sind dem Kind alle Anteile des Allgemeinen Arbeitsmarkts, die mit dem Risiko einer Ansteckung durch Krankheitskeime verbunden sind.

Völlige Erwerbsunfähigkeit

Der Rechtsbegriff der Erwerbsunfähigkeit hat in der Gesetzlichen Unfallversicherung einen anderen Sachzusammenhang als in der Gesetzlichen Rentenversicherung (volle Erwerbsminderung). Die Gesetzliche Unfallversicherung spricht deshalb von der völligen Erwerbsunfähigkeit. War der Versicherte zum Zeitpunkt des versicherten Unfalls völlig erwerbsunfähig (Vorschaden), so kann eine Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht mehr eintreten (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Er kann also auch keine Unfallrente beziehen.
Ein eindeutiger Fall der völligen Erwerbsunfähigkeit ist ein Versicherter, der in einem Wachkoma liegt. Völlig erwerbsunfähig sind Menschen, die vollständig und dauernd von fremder menschlicher und technischer Hilfe abhängig sind, also z. B. Personen mit einem hohen Halsquerschnitt, die künstlich beatmet werden müssen, Personen nach vollständigem Verlust, Lähmung oder Gebrauchsunfähigkeit aller Gliedmaßen, aber auch Personen, denen die optische und taktile Kontrolle fehlt, ein Blinder nach nicht prothesenfähigem Verlust beider Hände oder Personen mit schweren Lungenfunktionsstörungen verbunden mit ständigen Erstickungsanfällen.

Rentenansprüche aus der GUV

Der Anspruch auf Rente setzt voraus, dass unfallbedingte Funktionseinbußen über die 26. Woche nach einem Unfall hinaus zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit führen und zwar „von dem Tag an“, „der auf den Tag folgt, an dem
1.
der Anspruch auf Verletztengeld endet oder
 
2.
der Versicherungsfall eingetreten ist, wenn kein Anspruch auf Verletztengeld entstanden ist“ (§ 72 Abs. 1 SGB VII).
 
Die zweite Alternative, also Rente ab dem Tag nach dem Unfall, betrifft vor allem „Kinder“, „Schüler“ und „Studierende“ (§ 2 Abs. 1 Nr. 8 SGB VII). Mangels eines Arbeitseinkommens erhalten diese kein Verletztengeld (§ 45 SGB VII).
Die Höhe der Rente richtet sich einmal nach den unfallbedingt verbliebenen Funktionseinbußen und zum anderen nach der Höhe des Jahresarbeitsverdienstes:
§ 56 Voraussetzungen und Höhe des Rentenanspruchs
„(1) Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vom Hundert gemindert ist, haben Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente. Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 vom Hundert mindern. Den Versicherungsfällen stehen gleich Unfälle oder Entschädigungsfälle nach den Beamtengesetzen, dem Bundesversorgungsgesetz, dem Soldatenversorgungsgesetz, dem Gesetz über den zivilen Ersatzdienst, dem Gesetz über die Abgeltung von Besatzungsschäden, dem Häftlingshilfegesetz und den entsprechenden Gesetzen, die Entschädigung für Unfälle oder Beschädigungen gewähren.“
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit muss wenigstens 20 % betragen, entweder durch die Folgen des Versicherungsfalls allein oder durch mehrere Versicherungsfälle oder Unfälle aus dem versicherten Bereich.
Durch versicherte Tätigkeit verbleibt ein versteiftes unteres Sprunggelenk links (MdE 10 %). Durch eine zweite versicherte Tätigkeit erleidet der Versicherte einen Speichenbruch links, der mit einer Bewegungseinschränkung im Handgelenk zur Ausheilung kommt (MdE 10 %). Obwohl aus den Folgen beider Unfälle keine MdE von 20 % resultiert, erhält der Versicherte zweimal eine Rente nach einer MdE von 10 %.
Jeder Unfall ist getrennt einzuschätzen. Anders als im Dienstunfallrecht, bei dem in aller Regel der Träger der öffentlichen Hand für alle Dienstunfälle zuständig ist und deshalb verschiedene Unfälle zu einem Unfallausgleich zusammengefasst werden (§ 34 Abs. 2, Satz 3 BeamtVG), ist dies in der GUV nicht der Fall.
Den Versicherungsfällen stehen dabei gleich Unfälle oder Entschädigungsfälle nach den Beamtengesetzen, dem Bundesversorgungsgesetz, dem Soldatenversorgungsgesetz, dem Gesetz über den zivilen Ersatzdienst, dem Gesetz über die Abgeltung von Besatzungsschäden und sonstigen Gesetzen des sozialen Entschädigungsrechts, das ab dem 01.01.2024 weitgehend durch das SGB XIV geregelt sein wird.
Die Höhe der Rente richtet sich nach dem Einkommen des Versicherten im Jahre vor dem Arbeitsunfall (sog. Jahresarbeitsverdienst). Sie entspricht, wenn der Versicherte seine Erwerbsfähigkeit durch den Arbeitsunfall vollständig verloren hat, 60 % des Jahresarbeitsverdienstes, ansonsten dem Teil der Vollrente, der dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit entspricht. Der Höchstbetrag des Jahresarbeitsverdienstes ist jedoch auf das zweifache der Bezugsgröße, die jährlich vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales bekannt gegeben wird, beschränkt. Diese Bezugsgröße ist auch maßgeblich für die Rente von unter 18-Jährigen (§ 86 SGB VII).

Rente als vorläufige Entschädigung, Rente auf unbestimmte Zeit

§ 62 SGB VII Rente als vorläufige Entschädigung
(1) Während der ersten drei Jahre nach dem Versicherungsfall soll der Unfallversicherungsträger die Rente als vorläufige Entschädigung festsetzen, wenn der Umfang der Minderung der Erwerbsfähigkeit noch nicht abschließend festgestellt werden kann. Innerhalb dieses Zeitraums kann der Vomhundertsatz der Minderung der Erwerbsfähigkeit jederzeit ohne Rücksicht auf die Dauer der Veränderung neu festgestellt werden.
(2) Spätestens mit Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall wird die vorläufige Entschädigung als Rente auf unbestimmte Zeit geleistet. Bei der erstmaligen Feststellung der Rente nach der vorläufigen Entschädigung kann der Vomhundertsatz der Minderung der Erwerbsfähigkeit abweichend von der vorläufigen Entschädigung festgestellt werden, auch wenn sich die Verhältnisse nicht geändert haben.
Befinden sich Unfallfolgen – unfallnah – noch in einem Schwebezustand, erfolgt die Festsetzung der Rente als vorläufige Entschädigung. Diese kann jederzeit, also ohne jede zeitliche Sperre, geändert werden, wenn sich die unfallbedingten Funktionseinbußen wesentlich geändert haben, dies deshalb, weil z. B. im Rahmen des Heilungsprozesses oder sich ausbildender umformender Veränderungen unfallbedingte Funktionseinbußen während der ersten Zeit nach einem Unfall vermehrt sich ändern. Bedeutung hat die Festsetzung dieser Rente vor allem im Rahmen der Kausalität, der Zusammenhangsbeurteilung. Wird der Unfallzusammenhang einmal anerkannt, kann dieser den Versicherten begünstigende Verwaltungsakt nur noch im Rahmen des § 47 SGB X widerrufen werden. Er wird also in aller Regel Bestand haben. Da Unrecht nicht wachsen soll, kann dann jedoch die MdE sozusagen „eingefroren“ werden (§ 48 Abs. 3 SGB X).
Haben sich die unfallbedingten Funktionseinbußen stabilisiert, kann jederzeit – muss aber spätestens nach 3 Jahren – die Rente auf unbestimmte Zeit festgesetzt werden. Der Versicherungsträger ist dabei zwar an die Festsetzung dem Grunde nach, also zum Unfallzusammenhang und dem zur Berechnung der Rente heranzuziehenden Jahresarbeitsverdienst, nicht jedoch zur Höhe der MdE gebunden. Die Rente auf unbestimmte Zeit kann dann jedoch nur noch „in Abständen von mindestens einem Jahr“ geändert werden (§ 74 Abs. 1 SGB VII). Voraussetzung ist dann, dass eine wesentliche Änderung, also eine Änderung der MdE von mehr als 5 % – in der Regel also 10 % – vorliegt (§ 74 Abs. 3 SGB VII).
Die Funktionseinbuße durch eine unfallbedingte starke Einschränkung der Sehschärfe (Visus) rechts wurde 1996 – korrekt – durch Bescheid mit einer MdE von 20 % festgestellt. 1996 war bereits absehbar, dass es möglicherweise zu einer Erblindung des rechten Auges kommen werde. Da die MdE zukünftige Entwicklungen jedoch nicht erfasst – diese werden im Rahmen einer Neufeststellung überprüft –, wurde diese Möglichkeit nicht weiter diskutiert. 2002 erblindete der Versicherte auf dem rechten Auge. Die MdE beträgt (herrschende Meinung) für einen solchen Funktionsverlust 25 %. Dennoch wurde die Klage auf eine Änderung des Ursprungsbescheides abgewiesen, weil keine wesentliche Änderung (Änderung über 5 %, § 73 Abs. 3 SGB VII) vorliege. Begründet wird diese „Gerechtigkeitslücke“ damit, dass die „Einzelfallgerechtigkeit“ hinter den grundsätzlichen Überlegungen des Gesetzgebers zurückstehen müsse (BSG, Urteil vom 19.12.2013 – B 2 U 17/12 R).

Gesamtvergütung

§ 75 SGB VII Abfindung mit einer Gesamtvergütung
Ist nach allgemeinen Erfahrungen unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse des Einzelfalles zu erwarten, daß nur eine Rente in Form der vorläufigen Entschädigung zu zahlen ist, kann der Unfallversicherungsträger die Versicherten nach Abschluß der Heilbehandlung mit einer Gesamtvergütung in Höhe des voraussichtlichen Rentenaufwandes abfinden. Nach Ablauf des Zeitraumes, für den die Gesamtvergütung bestimmt war, wird auf Antrag Rente als vorläufige Entschädigung oder Rente auf unbestimmte Zeit gezahlt, wenn die Voraussetzungen hierfür vorliegen.
Diese Möglichkeit ist vom ärztlichen Gutachter den Verwaltungen immer dann vorzuschlagen, wenn voraussehbar ist, dass nach einem Zeitablauf bis zu 3 Jahren keine rentenberechtigende MdE (20 %) mehr vorliegen wird. Dies spart einmal Verwaltungsaufwand, wirkt aber vor allem dem Rentenwunsch des Versicherten entgegen. Ihm wird durch die Zahlung eines Geldbetrages vermittelt, dass seine Rentenansprüche damit abgefunden sind. Nachteile erwachsen ihm nicht, da nach Ablauf des Zeitraums, für den Gesamtvergütung gezahlt wurde, eine Aufnahme der Rentenzahlung möglich ist, wenn sich die Erwartungen nicht erfüllt haben.

Verhältnis des Unfallversicherungsträgers zu den Ärzten

§ 201 Erhebung, Speicherung und Übermittlung von Daten durch Ärzte und Psychotherapeuten
(1) Ärzte und Zahnärzte sowie Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, die nach einem Versicherungsfall an einer Heilbehandlung nach § 34 beteiligt sind, erheben, speichern und übermitteln an die Unfallversicherungsträger Daten über die Behandlung und den Zustand des Versicherten sowie andere personenbezogene Daten, soweit dies für Zwecke der Heilbehandlung und die Erbringung sonstiger Leistungen einschließlich Überprüfung der Leistungsvoraussetzungen und Abrechnung der Leistungen erforderlich ist.
Im Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger sind weitere gegenseitige vertragliche Verpflichtungen der Unfallversicherungsträger und der Ärzte festgelegt. Für die Begutachtung ist wesentlich, dass der Arzt, der die erste ärztliche Versorgung geleistet oder den Verletzten behandelt hat, dem Unfallversicherungsträger die Auskünfte, Berichte und Gutachten erstattet, die im Vollzug der gesetzlichen Aufgaben einzuholen sind. Der behandelnde Arzt ist nicht allein der Arzt, der den Verletzten wegen des Unfalls behandelt hat, sondern auch ein vom Verletzten wegen vermeintlicher Unfallfolgen zusätzlich in Anspruch genommener Arzt.
Die Auskunft nach dieser gesetzlichen Vorschrift ist eine befugte Auskunft. Der Arzt verstößt demnach mit einer solchen Auskunftserteilung nicht gegen die Verpflichtung, das Berufsgeheimnis zu wahren.
Wenn der behandelnde Arzt „vorsätzlich oder fahrlässig dem Unfallversicherungsträger die Auskunft über die Behandlung und den Zustand des Verletzten nicht, nicht rechtzeitig, nicht richtig oder nicht vollständig erteilt“, handelt er ordnungswidrig. Arbeitsüberlastung des Arztes ist kein Entschuldigungsgrund. Gegen ihn kann eine Geldbuße verhängt werden (§ 209 Abs. 1 Nr. 11 SGB VII).
Will der Unfallversicherungsträger einen Befundbericht oder eine Krankengeschichte beiziehen, die von Ärzten der Wahl des Versicherten früher angefertigt wurde (keine behandelnden Ärzte im Sinne des Gesetzes), muss der Unfallversicherungsträger den Versicherten auf das Verlangen rechtzeitig hinweisen (§ 203 Abs. 2 SGB VII).

MdE-Erfahrungswerte (GUV – § 56 Abs. 2 SGB VII)

Unfall-/BK-Folgen an den oberen Gliedmaßen

Vorbemerkungen:
  • Gebrauchsarm und Beiarm werden gleich bewertet
  • Bei Amputationen sind die üblichen Beschwerden/Schmerzen (Stumpfbeschwerden) eingeschlossen
  • Funktionsverbessernde Hilfsmittel sind berücksichtigt
Unfall-/BK-Folge(n)
MdE in %
Verlust beider Arme oder Hände
100
Verlust eines Arms im Schultergelenk (Exartikulation) oder im schultergelenknahen Oberarmdrittel
80
Verlust eines Arms im mittleren Oberarmdrittel
75
Verlust eines Arms im ellenbogengelenknahen Oberarmdrittel, im Ellenbogengelenk oder im ellenbogengelenknahen Unterarmdrittel
70
Verlust eines Arms im mittleren oder handgelenknahen Unterarmdrittel
65
Verlust einer Hand im Handgelenk
60
Verluste/Teilverluste im Bereich der Finger
s. Abb. 5
Schultergelenk
 
Versteifung eines Schultergelenks einschließlich des Schultergürtels in Funktionsstellung (30° Vorwärts- und Seitwärtshebung und 30° Innendrehung)
40
Versteifung eines Schultergelenks in Funktionsstellung
30
Konzentrische Bewegungseinschränkung in einem Schultergelenk um die Hälfte
25
Bewegungseinschränkung in einem Schultergelenk: Vorwärts-/Seitwärtshebung des Arms bis 90°, Rotation frei
20
Bewegungseinschränkung in einem Schultergelenk: Vorwärts-/Seitwärtshebung bis 120°, Rotation frei
10
Total- oder teilprothetischer Ersatz eines Schultergelenks mit freier Funktion
20
Total- oder teilprothetischer Ersatz beider Schultergelenke mit freier Funktion
20
Ellenbogengelenk
 
Versteifung eines Ellenbogengelenks in 30° Beugung (Streckung/Beugung: 0/30/30)
40
Versteifung eines Ellenbogengelenks (0/90/90) und Verlust der Unterarmdrehung in Neutral-0-Stellung
40
Versteifung eines Ellenbogengelenks in Rechtwinkelstellung (0/90/90) und Verlust der Unterarmdrehung in Einwärtsdrehung (einwärts/auswärts: 85/85/0)
35
Versteifung eines Ellenbogengelenks in Rechtwinkelstellung (0/90/90) bei freier Unterarmdrehung
30
Bewegungseinschränkung in einem Ellenbogengelenk (Streckung/Beugung: 0/30/90)
20
Bewegungseinschränkung in einem Ellenbogengelenk (Streckung/Beugung: 0/30/120)
10
Prothetischer Ersatz eines Ellenbogengelenks mit freier Funktion
20
Prothetischer Ersatz beider Ellenbogengelenke mit freier Funktion
20
Prothetischer Ersatz eines Speichenkopfs mit freier Funktion
10
Unterarmdrehung
 
Aufhebung der Unterarmdrehung in Neutral-0-Stellung (einwärts/auswärts: 0/0/0)
30
Aufhebung der Unterarmdrehung in Einwärtsdrehung ab 20°
25
Aufhebung der Unterarmdrehung in Auswärtsdrehung ab 40°
35
Handgelenk
 
Versteifung eines Handgelenks in Funktionsstellung (15–20° handrückenwärts, 15° ellenwärts)
25
Versteifung eines Handgelenks in Neutral-0-Stellung (0/0/0)
30
Konzentrische Bewegungseinschränkung in einem Handgelenk um die Hälfte
15
Prothetischer Ersatz eines Handgelenks mit freier Funktion
20
Prothetischer Ersatz beider Handgelenke mit freier Funktion
20
Nerven
 
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines Armnervengeflechts (Plexus brachialis)
80
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines unteren Armnervengeflechts (unterer Armplexus)
55
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines oberen Armnervengeflechts (oberer Armplexus)
45
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines N. accessorius (Beinerv, XI. Hirnnerv)
20
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines N. axillaris (Achselnerv)
30
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines N. thoracicus longus (langer Brustkorbnerv)
20
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines N. suprascapularis (Schulterblattnerv)
10
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines N. musculocutaneus (Muskel-Haut-Nerv)
25
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines N. radialis (Speichennerv)
 
• Oberer (proximaler) Anteil
30
• Mittlerer Anteil
25
• Unterer (distaler) Anteil
20
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines N. ulnaris (Ellennerv)
 
• Oberer (proximaler) Anteil
25
• Unterer (distaler) Anteil
20
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines N. medianus (Mittelnerv)
 
• Oberer (proximaler) Anteil
35
• Unterer (distaler) Anteil
25
• Rein sensibler Anteil
20
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines N. axillaris und N. radialis (gleiche Gliedmaße)
60
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines N. radialis und N. ulnaris (gleiche Gliedmaße)
55
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines N. radialis und N. medianus (gleiche Gliedmaße)
60
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines N. ulnaris und N. medianus (gleiche Gliedmaße)
60
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines N. radialis, N. ulnaris und N. medianus in Schulterhöhe (gleiche Gliedmaße)
75
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines N. radialis, N. ulnaris und N. medianus im Unterarmbereich (gleiche Gliedmaße)
60
Vollständiger Sensibilitätsverlust eines Daumens/eines Langfingers
10

Unfall-/BK-Folgen an den unteren Gliedmaßen

Vorbemerkungen:
  • Die Stumpfverhältnisse werden als reizlos und belastbar vorausgesetzt – ebenso funktionsverbessernde Hilfsmittel
  • Die Beweglichkeit in den verbliebenen Gelenken ist frei
Unfall-/BK-Folge(n)
MdE in %
Verlust beider Oberschenkel
100
Verlust eines Beins im Hüftgelenk (Exartikulation)
80
Verlust eines Beins bis zum kleinen Rollhügel (Oberschenkelkurzstumpf)
75
Verlust eines Beins im mittleren/kniegelenknahen Oberschenkeldrittel
60
Verlust eines Beins im Kniegelenk (Exartikulation)
50
Verlust beider Beine im mittleren/sprunggelenknahen Unterschenkeldrittel
80
Verlust eines Beins im kniegelenknahen Unterschenkelanteil (Unterschenkelkurzstumpf, <10 cm)
50
Verlust eines Beins im mittleren/sprunggelenknahen Unterschenkeldrittel
40
Verlust eines Beins im mittleren/sprunggelenknahen Unterschenkeldrittel und Versteifung des Kniegelenks in Funktionsstellung (10° Beugung)
50
Verlust eines Fußes im oberen Sprunggelenk
35
Verlust eines Fußes in Höhe der proximalen Fußwurzelreihe (Chopart)
30
Verlust eines Fußes in Höhe der Fußwurzel-Mittelfußgelenklinie (Lisfranc)
25
Verlust eines Fußes in Höhe der Mittelfußknochen
25
Verlust einer Großzehe
10
Verlust einer Großzehe und des 1. Mittelfußköpfchens
15
Verlust sämtlicher Zehen eines Fußes
20
Verlust einer Zehe (2–5)
unter 10
Hüftgelenk
 
Versteifung beider Hüftgelenke in Funktionsstellung
70
Versteifung eines Hüftgelenks in Funktionsstellung
30
Bewegungseinschränkung in einem Hüftgelenk (Streckung/Beugung: 0/10/90, übrige Freiheitsgrade nur gering eingeschränkt)
10
Bewegungseinschränkung in einem Hüftgelenk (Streckung/Beugung: 0/30/90, übrige Freiheitsgrade entsprechend eingeschränkt)
20
Total- oder teilprothetischer Ersatz eines Hüftgelenks mit freier Funktion
20
Total- oder teilprothetischer Ersatz beider Hüftgelenke mit freier Funktion
20
Verlust (Resektion) eines Hüftgelenks (Girdlestone)
50
Kniegelenk
 
Versteifung beider Kniegelenke in Funktionsstellung (Streckung/Beugung: 0/10/10)
80
Versteifung eines Kniegelenks in Funktionsstellung (Streckung/Beugung: 0/10/10)
30
Versteifung eines Kniegelenks (Streckung/Beugung: 0/20/20)
35
Versteifung eines Kniegelenks (Streckung/Beugung: 0/30/30)
40
Bewegungseinschränkung in einem Kniegelenk (Streckung/Beugung: 0/0/90)
15
Bewegungseinschränkung in einem Kniegelenk (Streckung/Beugung: 0/0/80)
20
Bewegungseinschränkung in einem Kniegelenk (Streckung/Beugung: 0/30/90)
30
Lockerung des Kapsel-Band-Apparats eines Kniegelenks – muskulär kompensiert
10
Lockerung des Kapsel-Band-Apparats eines Kniegelenks – muskulär nicht kompensiert mit Gangunsicherheit
20
Vollständige Lockerung des Kapsel-Band-Apparats eines Kniegelenks (Wackelknie, Orthese erforderlich)
30
Verlust einer Kniescheibe – Beweglichkeit frei
10
Total- oder teilprothetischer Ersatz eines Kniegelenks mit freier Funktion
20
Total- oder teilprothetischer Ersatz beider Kniegelenke mit freier Funktion
20
Sprunggelenke
 
Versteifung eines oberen Sprunggelenks in Funktionsstellung (Neutral-0-Stellung bis 10° Spitzfuß)
15
Versteifung eines oberen Sprunggelenks in ungünstiger Stellung (Spitzfuß von >20°, Hackenfuß von >10°)
30
Versteifung eines unteren Sprunggelenks in Neutral-0-Stellung
10
Versteifung eines oberen und unteren Sprunggelenks in Funktionsstellung
25
Versteifung eines vorderen Sprunggelenks (Chopart-Gelenklinie) in anatomischer Stellung
10
Versteifung eines Großzehengrundgelenks in Funktionsstellung (leichte fußrückenwärtige Stellung)
unter 10
Versteifung aller Zehen eines Fußes in Funktionsstellung
10
Bein (insgesamt)
 
Beinverkürzung bis 4 cm
10
Beinverkürzung bis 6 cm
20
Beinverkürzung über 6 cm
30
Rückflussstörung nach tiefer Beinvenenthrombose – mit Kompressionsstrumpf gut kompensiert
10
Nerven
 
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines Beinnervengeflechts (Plexus lumbosacralis)
75
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines Hüftnervs (N. ischiadicus) und eines Gesäßnervs (N. glutaeus inferior)
65
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines Hüftnervs (N. ischiadicus)
50
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines oberen Gesäßnervs (N. glutaeus superior)
20
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines unteren Gesäßnervs (N. glutaeus inferior)
20
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines Hüftlochnervs (N. obturatorius)
10
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines Schenkelnervs (N. femoralis)
35
Vollständiger Ausfall eines Oberschenkelhautnervs (N. cutaneus femoris lateralis)
unter 10
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines gemeinsamen Wadenbeinnervs (N. peronaeus communis)
20
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines tiefen Wadenbeinnervs (N. peronaeus profundus)
20
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines oberflächlichen Wadenbeinnervs (N. peronaeus superficialis)
15
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines Schienbeinnervs (N. tibialis)
25
Vollständige Lähmung (Ausfall) eines Schien- und Wadenbeinnervs (N. tibialis und N. peronaeus communis)
45

Unfall-/BK-Folgen an Wirbelsäule und Becken

Unfall-/BK-Folge(n)
MdE in %
Knöchern bzw. bindegewebig stabil verheilte Dornfortsatz- oder Querfortsatzbrüche
unter 10
Knöchern fest verheilter Wirbelkörperbruch ohne statisch wirksamem Achsenknick
unter 10
Knöchern fest verheilter Wirbelkörperbruch mit statisch wirksamem Achsenknick (<20°)
10
Knöchern fest verheilter Wirbelkörperbruch mit statisch wirksamen Achsenknick (>20°)
20
Segmentale Instabilität eines Wirbelsäulensegments ohne Achsenknick
20
Lokales LWS-„Syndrom“ oder lumbales Wurzelkompressions-„Syndrom“ mit leichten belastungsabhängigen Beschwerden und leichten Funktionseinschränkungen – ggf. auch nach operiertem Bandscheibenvorfall
10
Lokales LWS-„Syndrom“ oder lumbales Wurzelkompressions-„Syndrom“ mit mittelgradigen belastungsabhängigen Beschwerden; Lumboischialgie mit belastungsabhängigen Beschwerden, deutliche Funktionseinschränkungen; mittelgradige Funktionseinschränkungen und Beschwerden nach Operation
20
Lumbales Wurzelkompressions-„Syndrom“ mit starken belastungsabhängigen Beschwerden und motorischen Störungen funktionell wichtiger Muskeln; starke Funktionseinschränkungen und Beschwerden nach Operation
35
Lumbales Wurzelkompressions-„Syndrom“ mit schwersten motorischen Störungen; persistierendes, gravierendes Kaudasyndrom; schwerste Funktionseinschränkungen und Beschwerden nach Operation
gleich/über 50
Stabile Schoßfugenerweiterung unter 15 mm
unter 10
Instabil (>15 mm) zur Ausheilung gekommener Beckenringbruch
 
• Einseitig
20
• Beidseitig
30
Fest verheilte Beckendeformierung/Beckenverschiebung/Schoßfugenverschiebung >15 mm
 
• Einseitig
20
• Beidseitig
30

Unfall-/BK-Folgen im Kopfbereich

Unfall-/BK-Folge(n)
MdE in %
Knöcherner Defekt im Bereich des Schädeldachs – je nach Größe – ohne Funktionsstörungen
10–20
Knöcherner Defekt im Bereich des Schädeldachs in Bohrlochgröße
unter 10
Vollständiger Nasenverlust – ohne Korrektur
40
Lippendefekt mit ständigem Speichelfluss
10
Stimmverlust
30
Visusverlust (Erblindung) bzw. Sehschärfe unter 0,1 bzw. vollständige lähmungsbedingte Okklusion
 
• Einseitig
25
• Beidseitig
100 (Konsens)
Gesichtsfeldausfall
 
• Homonyme Hemianopsie (gleichseitige Halbseitenblindheit – rechts oder links)
40
• Homonyme untere Quadrantenanopsie (gleichseitiger unterer Gesichtsfeldausfall)
30
• Homonyme obere Quadrantenanopsie (gleichseitiger oberer Gesichtsfeldausfall)
20
Hörverlust (Taubheit)
 
• Einseitig
20
• Beidseitig
80
Tinnitus (ein- oder beidseitig – ohne psychische Störungen)
unter 10

Unfall-/BK-Folgen auf fachinternem Gebiet

Unfall-/BK-Folge(n)
MdE in %
Leichte Bronchitis ohne relevante Lungenfunktionsstörung
10
Bronchitis oder Rippenfellschwarten/Brustkorbdeformierungen nach Rippenserienbrüchen/Brustbeinbruch, Blut-/Luftansammlung im Rippenfellraum mit nachgewiesener Lungenfunktionsstörung
 
• Leichtgradig
20
• Mittelgradig
30–40
• Hochgradig
50–60
Herzmuskelerkrankungen (Kardiomyopathien) bzw. Herzklappeninsuffizienz
 
• Ohne wesentliche Leistungsbeeinträchtigung, selbst bei gewohnter stärkerer Belastung; keine Einschränkung der Soll-Ergometerleistung
unter 10
• Mit Leistungsbeeinträchtigung bei mittelschwerer Belastung; Beschwerden und Auftreten pathologischer Messdaten bei Ergometerbelastung mit 75 W über wenigstens 2 min
30
• Mit Leistungsbeeinträchtigung bereits bei alltäglicher leichter Belastung; Beschwerden und Auftreten pathologischer Messdaten bei einer Ergometerbelastung mit 50 W über mindestens 2 min
60
• Mit gelegentlich auftretenden, vorübergehenden schweren Dekompensationserscheinungen
80
• Mit Leistungsbeeinträchtigung bereits in Ruhe
90–100
Blutgerinnungshemmende Medikation (Antikoagulation)
10
Reponibler Bauchwandnarbenbruch ohne Funktionseinbußen – je nach Größe
bis 10
Kunstafter (Anus praeter) – gute Funktion
 
• Dünndarm
30
• Dickdarm
20
Milzverlust – ohne Funktionsstörungen
 
• Bei Kindern bis zum 7. Lebensjahr – aus präventiven Gründen
30
• Ab 7. Lebensjahr und bei Erwachsenen
unter 10

Unfall-/BK-Folgen auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet

Unfall-/BK-Folge(n)
MdE in %
Hochgradige zentrale Lähmung eines Arms (mit Spastik)
70
Hochgradige zentrale Lähmung eines Beins (mit Spastik)
70
 
• Sehr leicht (klinisch nur gering mit leichten sensiblen Störungen einschließlich Reizerscheinungen)
unter 10
• Leicht (sensible Störungen einschließlich Reizerscheinungen sowie ggf. beginnende periphere motorische Störungen, die die Geh- und Stehfähigkeit nicht belangvoll beeinträchtigen)
10
• Leicht bis mittelschwer (sensible Störungen einschließlich beeinträchtigender Reizerscheinungen und/oder leichte motorische Störungen mit leichtgradiger Auswirkung auf die Geh- und Stehfähigkeit)
20
• Mittelschwer (ausgeprägte sensible Störungen und/oder sensible Reizerscheinungen und distal betonte motorische Störungen mit deutlicher Auswirkung auf die Geh- und Stehfähigkeit)
30
 
• Leichtgradig, v. a. im Dunkeln
unter 10
• Deutlich – mit Sturzneigung
20–30
• Ausgeprägt – Gehhilfe dauernd erforderlich
40–50
• Hochgradig – nur wenige Meter mit Gehhilfe möglich
60
Zerebrale Anfallsleiden (Epilepsie)
 
• Sehr selten (generalisierte große und komplexe fokale Anfälle mit einem Intervall von >1 Jahr; kleine und einfache fokale Anfälle mit einem Intervall von Monaten)
30
• Selten (generalisierte und komplexe fokale Anfälle mit einem Intervall von Monaten; kleine und einfache fokale Anfälle mit einem Intervall von Wochen)
40
• Mittlere Häufigkeit (generalisierte große und komplexe fokale Anfälle mit einem Intervall von Wochen oder bis zu 12 Anfällen/Jahr; kleine und einfache fokale Anfälle mit Intervallen von Tagen oder bis zu 48 Anfälle/Jahr)
50–60
• Häufig (generalisierte große oder komplexe fokale Anfälle wöchentlich oder als Serien von generalisierten Anfällen, von fokal betonten oder von multifokalen Anfällen)
80–90
• Nach 3 Jahren Anfallsfreiheit unter antikonvulsiver Therapie ohne medikamentöse Nebenwirkungen
unter 10
• Nach 3 Jahren Anfallsfreiheit unter antikonvulsiver Therapie mit medikamentösen Nebenwirkungen
20
Vollständiger Verlust des Geruchssinns (Anosmie) mit damit einhergehender Störung des Geschmacks
10
Vollständiger Verlust des Geschmacks
unter 10
Vollständige Lähmung (Ausfall) des Gesichtsnervs (N. facialis)
 
• Einseitig
30
• Beidseitig
50
Störungen des Gleichgewichtsorgans
 
• Mit gelegentlichem Belastungsschwindel, Lageschwindel und Unsicherheit bei plötzlichen Kopfdrehungen
10
• Mit Belastungsschwindel und Unsicherheit bei geschlossenen Augen
20
• Mit deutlichem Belastungsschwindel und Schwierigkeiten, mit geschlossenen Augen zu stehen oder zu gehen
30
• Mit erheblichem Belastungsschwindel und Unfähigkeit mit geschlossenen Augen zu stehen oder zu gehen
40
Vollständige Lähmung beider Arme und Beine mit Blasen- und Mastdarmstörung (Tetraplegie)
100
Vollständige Lähmung beider Beine mit Blasen- und Mastdarmstörung (Paraplegie)
100
Vollständiger Ausfall des Afterschließmuskels
30
Vollständige Harninkontinenz
30
Erektionsverlust mit durchschnittlicher psychischer Beeinträchtigung
10
Organisch-psychische Störungen nach Hirnverletzung
 
• Sehr gering (nur geringfügige, bei den meisten Berufstätigkeiten kompensierbare Beeinträchtigung)
unter 10
• Geringgradig (im allgemeinen geringgradige, bei einem Teil der Berufstätigkeiten bereits maßgebliche Beeinträchtigung)
20
• Mäßiggradig (erhebliche Behinderung bei jeder beruflichen Betätigung)
40
• Mittelgradig (in den allermeisten Fällen eine berufliche Wiedereingliederung nicht möglich)
60
• Höhergradig (Erwerbsunfähigkeit mit verbliebener Fähigkeit zu fallweiser Beschäftigung mit leichten Tätigkeiten)
80
Anpassungsstörung (ICD-10 F43.2)
bis 20
Anpassungsstörung – starke Ausprägung
bis 30
Depressive Episode (ICD-10 F32 und F33)
 
• Verstimmung
unter 10
• Leichtgradig
bis 20
• Mittelgradig
bis 40
• Hochgradig
80–100
Anhaltende affektive Störung (ICD-10 F34 und F38.8)
 
• Leichtgradig
bis 10
• Mittelgradig
bis 30
• Hochgradig
bis 50
 
• Leichtgradig
bis 20
• Mittelgradig
bis 30
• Hochgradig
bis 50
Panikstörung (ICD-10 F41.0)
 
• Seltene Angstattacken
bis 20
• Häufige Angstattacken
bis 30
 
• Leichtgradig
bis 20
• Mittelgradig
bis 30
• Hochgradig
bis 50
Agoraphobie und soziale phobische Störung (ICD-10 F40.0 und 40.1)
 
• Leichtgradig
bis 10
• Mittelgradig
bis 30
Dissoziative Störung (ICD-10 F44)
 
• Leichtgradig
bis 10
• Mittelgradig
bis 30

Neue Eckwerte nach Gliedmaßenverlusten

Eine von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) eingesetzte Expertengruppe hat aufgrund der Reformforderungen in der Literatur und in der Rechtsprechung eine Analyse und Bewertung der verbliebenen Erwerbsfähigkeit nach Amputationen durchgeführt. Diese hat nach dem DGUV-Rundschreiben 0367/2019 vom 08.10.2019 ergeben, „dass es nur bei Fingerverlusten, insbesondere beim isolierten Daumenverlust, zu geringfügigen Korrekturen der bisherigen MdE-Erfahrungswerte kommt. Die übrigen MdE-Werte bei Arm- und Beinverlusten bleiben unverändert.“
Der Vorstand der DGUV hat in seiner Sitzung am 19.09.2019 beschlossen, das Konsenspapier der Expertengruppe zur MdE als Publikation zu veröffentlichen und entsprechende Umsetzungsempfehlungen an die Unfallversicherungsträger zu geben. Die neuen MdE-Werte kommen danach ab dem 01.11.2019 zur Anwendung.
Nach Schürmann (2019) bedeutet dies für den ärztlichen Gutachter, dass es neue zusätzliche MdE-Eckwerte gibt für die Einschätzung bei Gliedmaßenverlusten, deren Verbindlichkeit offen ist (Spelbrink 2018).
Die MdE-Neueinschätzung der DGUV-Expertengruppe bei Verlusten an oberen Gliedmaßen sind wie folgt:
  
MdE-Werte in %
  
MdE bisher*
MdE neu
1
Verlust eines Armes
Im Unterarm mit langem Unterarmstumpf bzw. im Handgelenk
65
60
2
 
Im Unterarm mit kurzem Unterarmstumpf
65/70
70
3
 
Im Oberarm oder Ellenbogengelenk
70
70
4
 
Im Schultergelenk bzw. Oberarm mit kurzem Stumpf
80
80
5
Verlust beider Arme
 
100
100
6
Verlust einer Hand
 
60
60
7
Verlust beider Hände
 
100
100
8
Verlust des Daumens
Im Grundgelenk
20
30
9
Verlust des Daumens und eines Langfingers einer Hand
Jeweils im Grundgelenk
30
30
10
Verlust des Daumens sowie des Ring- und Kleinfingers einer Hand
Jeweils im Grundgelenk
40
30
11
Verlust des Daumens sowie des Zeige- und Mittelfingers einer Hand
Jeweils im Grundgelenk
45
40
12
Verlust des Daumens sowie drei weiterer Langfinger einer Hand
Jeweils im Grundgelenk
50
40
13
Verlust von 1 Langfinger
Im Grundgelenk
10
10
14
Verlust von 2 Langfingern einer Hand (z. B. Zeige- und Mittelfinger)
Jeweils im Grundgelenk
20/25
20
15
Verlust von 3 Langfingern einer Hand (z. B. Zeige-, Mittel- und Ringfinger)
Jeweils im Grundgelenk
35/40
30
16
Verlust aller Langfinger einer Hand
Jeweils im Grundgelenk
45
40
17
Verlust aller 5 Finger einer Hand
Jeweils im Grundgelenk
50
50
18
Verlust des Daumens an einer Hand und eines Langfingers an der anderen Hand
Jeweils im Grundgelenk
25/30
30
19
Verlust des Daumens an einer Hand und von zwei Langfingern der anderen Hand
Jeweils im Grundgelenk
40
40
20
Verlust des Daumens an einer Hand und von drei Langfingern der anderen Hand
Jeweils im Grundgelenk
 
50
21
Verlust des Daumens an einer Hand und von allen Langfingern der anderen Hand
Jeweils im Grundgelenk
 
70
22
Verlust beider Daumen (mit und ohne zusätzlichem beidseitigen einzelnen Langfingerverlust)
Jeweils im Grundgelenk
 
6
23
Verlust aller Langfinger beider Hände
Jeweils im Grundgelenk
 
80
24
Verlust aller Langfinger einer Hand und aller Finger an der anderen Hand
Jeweils im Grundgelenk
 
90
25
Verlust aller 10 Finger
Jeweils im Grundgelenk
80
100
*Schönberger et al. 2017 und Mehrhoff et al. 2009
Die MdE-Neueinschätzung der DGUV-Expertengruppe bei Verlusten an unteren Gliedmaßen sind wie folgt:
  
MdE-Werte in %
  
MdE bisher*
MdE neu
26
Verlust eines Beines
Im Unterschenkel
40
40
27
 
Im Kniegelenk oder kniegelenksnah
50
50
28
 
Im Oberschenkel, nicht kniegelenksnah
60
60
29
 
Im Oberschenkel mit kurzem Oberschenkelstumpf und Sitzstabilität
70
70
30
 
Im Beckenskelett oder Hüftgelenk ohne Sitzstabilität
80
80
31
Verlust beider Beine
Im Unterschenkel
70/80
70
32
 
Im Kniegelenk oder kniegelenksnah
70/80
80
33
 
Im Hüftgelenk oder Oberschenkel, nicht kniegelenksnah
100
100
34
Verlust eines Fußes
Im Mittelfuß
20/25
20
35
 
Im Rückfuß
30/35
30
36
Verlust beider Füße
Im Mittelfuß
40
40
37
 
Im Rückfuß mit Sprunggelenksarthrodese
60
60
38
Verlust der Großzehe (ggf. mit Verlust von 1 weiteren Zehe)
 
<10/10
<10
39
Verlust der Großzehe mit Verlust von 2–4 weiteren Zehen
 
10/15/20
10
40
Verlust aller 10 Zehen
 
20
20
*Schönberger et al. 2017; Mehrhoff et al. 2009
Literatur
Gesetzliche Unfallversicherung
Becker P (2011) Der Arbeitsunfall. Die BG. Schmidt, Erich, S 403–409
Kainz WJ (2012) Rechtliche Grundlagen der gesetzlichen Unfallversicherung. Neurotransmitter 10:20–26
Keller W (2013) Neues zum Unfallbegriff in der gesetzlichen Unfallversicherung – aus juristischer Sicht. Med Sach 109:76–78
Schönberger A, Mehrtens G, Valentin H (2017) Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. Erich Schmidt, Berlin
Grundsätze zur MdE-Einschätzung
Mehrhoff F, Meidl RC, Muhr G (2009) Unfallbegutachtung. de Gruyter, Berlin
Schürmann J (2019) In: Ludolph E, Schürmann J, Gaidzik PW (2005) Kursbuch der ärztlichen Begutachtung. ecomed MEDIZIN, Landsberg
Spellbrink W (2018) Rechtsprobleme bei der Verwendung von MdE-Tabellen. MedSach 114:6