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DGIM Innere Medizin
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Publiziert am: 08.08.2023

Prävention und Gesundheitsförderung in der Geriatrie

Verfasst von: Jennifer Anders und Ulrike Dapp
Die altersmedizinische Komplexbehandlung beruht auf der Erkenntnis, dass von Behinderung betroffene Menschen lebenslang Potenzial zur körperlichen oder geistigen Wiederherstellung und Wiedereingliederung in das gesellschaftliche Leben aufweisen. Ob dies ausreicht, muss durch geeignete Maßnahmen wie ein „Geriatrisches Assessment“ geprüft werden: Der Anspruch „Rehabilitation VOR Pflege“ ist im § 31 SGB V gesetzlich verankert. Von der Wiederherstellung beeinträchtigter Fähigkeiten (Tertiärprävention) zum Schutz (Sekundär- und Primärprävention) und Ausbau gesundheitlicher Reserven (Gesundheitsförderung) war ein Umdenken von der Pathogenese zur Salutogenese erforderlich. Die medizinischen Versorgungsstrukturen sind für die Gesundheitsförderung älterer Menschen noch ausbauwürdig. Letztendlich wird die Investition in die Prävention und die Gesundheitsförderung über die Bewältigung des demografischen Wandels mitentscheiden.

Definition: Salutogenese und Pathogenese

Zwei verwandte Begriffe, Prävention und Gesundheitsförderung, spiegeln einen Paradigmenwechsel in der Medizin wider. Ausgehend von einer Krankheitslehre, die pathophysiologische Entwicklungen anhand spezifischer Krankheitsentitäten beschreibt, ist Prävention als Schutz gesundheitlicher Reserven und möglichst frühe Abwendung oder Unterbrechung einer Krankheitsentwicklung zu verstehen (von lat. praeventere = vorher abwenden). Eine dieser pathogenetischen Tradition folgende Beschreibung präventiver Ansätze in der Inneren Medizin finden sich innerhalb der einzelnen, krankheitsbezogenen Kapitel dieses Referenzwerkes – etwa zum Diabetes oder der arteriellen Hypertonie. Die dahinter vermutete strikte Trennung von „gesund und krank“ in einer Person ist dagegen gerade bei älteren Patient:innen aufgehoben zugunsten einer Grauzone von dokumentierten Diagnosen ohne Krankheitswert, chronischen Erkrankungen ohne Symptome bis hin zu dauerhaftem Leiden und Pflegebedürftigkeit als sichtbaren Folgen erlebter Krankheit.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird seit 1946 zitiert mit einer idealen, sehr weiten Beschreibung von „Gesundheit als vollständigem körperlichem, geistigen und sozialen Wohlbefinden“. Weil viele ältere Patient:innen Einschränkungen in diesen Bereichen mit sich bringen, ist lange das präventive Potenzial in der Geriatrie unterschätzt worden.
Wesentlich zugänglicher für die medizinische Praxis ist diese aktualisierte Definition, die Gesundheit beschreibt als einen „positiven funktionellen Gesamtzustand im Sinne eines dynamischen, biopsychologischen Gleichgewichtszustandes, der erhalten bzw. immer wieder hergestellt werden muss“ (Franzkowiak und Sabo 1998). Der funktionelle Gesamtzustand umfasst von den Funktionen der Organsysteme über die Fähigkeiten zur Alltagsbewältigung (Selbsthilfestatus) bis hin zur sozialen Teilhabe von Senior:innen ein weites Spektrum. In der Altersmedizin nimmt der Selbsthilfestatus den Dreh- und Angelpunkt der Diagnostik, Behandlung und Prognose ein.
Was erhält also (älteren) Menschen ihr Wohlbefinden und ihre Handlungsfähigkeit? Der salutogenetische Ansatz setzt attraktive Gesundheitsziele anstelle von Vermeidung, Stimmigkeit anstelle von Problemzentrierung und Ressourcenorientierung anstelle der Konzentration auf Defizite. Gesundheit wird nicht länger verstanden als das Gegenteil von Krankheit, sondern als Entwicklungsoption in beide Richtungen eines Kontinuums (Antonovsky und Franke 1997). Da bei älteren Patient:innen das Vorliegen nur einer, sich durch wohlumrissene Symptome äußernden Erkrankung eher die Ausnahme als die Regel ist, widmet sich dieses Kapitel vorrangig der Gesunderhaltung und Gesundheitsförderung unter erschwerten Bedingungen. Gesundheitsförderung ist die an den vorhandenen Reserven und Problemen einer Person ausgerichtete Stärkung der Gesundheit oder der gesunderhaltenden Mechanismen.
Diese Aussage wird jedem in der Altersmedizin Tätigen vertraut erscheinen, weil es direkt die Idee des „Geriatrischen Assessments“ vorbereitet. Das Geriatrische Assessment erlaubt durch die standardisierte Erfassung von Reserven und Risiken in mehreren gesundheitsbezogenen Dimensionen diagnostische Prozeduren und Behandlungsstrategien abzuleiten, die sich an den Zielen der Betroffenen orientieren. Das Geriatrische Assessment stellt die Grundlage altersmedizinischen Denken und Handelns im interdisziplinären Team dar (Freund 2017). Auch am Anfang einer gesundheitsfördernden Intervention sollte daher die Durchführung eines (teils adaptierten) Assessments stehen. Die Adaptation geschieht durch die Auswahl entsprechend validierter Instrumente zur Vermeidung eines Ceiling-Effektes.
Durch „Gesundheitsförderung können bei ausreichender Prognose dafür notwendige Reserven der Menschen ausgebaut werden – und zwar in psychosozialer und körperlicher Hinsicht – und darüber hinaus die Selbstbestimmung über sich inklusive der eigenen Gesundheit gestärkt werden“ (Franzkowiak und Sabo 1998). Dieser Satz aus der Ottawa-Charta der WHO von 1986 leitet über zu der Besonderheit, dass in der Gesundheitsförderung tätige Expert:innen des geriatrischen Teams oder die mit älteren Menschen arbeitenden Ärzt:innen nicht mehr lediglich mit den ihnen bekannten geriatrischen Patient:innen innerhalb des klinisch-pflegerischen Settings konfrontiert sind, sondern mit dem gesamten Spektrum der heterogenen, älteren Bevölkerung. Um sich dabei zu orientieren, steht am Anfang das Verständnis für die Epidemiologie und Bestimmung von geeigneten Zielgruppen innerhalb der älteren Bevölkerung.

Epidemiologie und Zielgruppen älterer Patient:innen

Entgegen der Erfahrungen vieler Mediziner:innen, die vorrangig Kontakt zu älteren, multimorbiden Patient:innen mit vielen Folgeproblemen haben, erfreut sich die Mehrheit der älteren Bevölkerung einer guten Gesundheit (Dapp et al. 2012). Diese ist gekennzeichnet durch Wohlbefinden, Mobilität, selbstständige Lebensführung und soziale Aktivitäten (WHO 2015). Ältere Bürger:innen und Patient:innen finden sich dennoch (fast) überall: bei sportlichen Wettkämpfen, in der internistischen oder allgemeinmedizinischen Praxis, im stationären Versorgungsbereich und in Einrichtungen der Langzeitpflege oder Hospizen. Ein einheitlicher Zugang über ein Setting wie bei Kindern oder Berufstätigen über Kindergärten, Schulen oder Betriebe ist kaum möglich. Eine positive Ausnahme in Deutschland ist (noch) die Hausarztpraxis (inklusive Praxispersonal), die für die Mehrheit der älteren Personen fester Ansprechpartner in vielen Belangen ist und dazu in regelmäßigen Abständen aufgesucht wird. Die folgenden Empfehlungen versuchen durch ein abgestuftes Vorgehen mit möglichst geringem Aufwand zunächst Personen für frühe (primäre und sekundäre) Ansätze der Prävention und der Gesundheitsförderung zu erreichen (Lacas und Rockwood 2012).
Am Anfang steht dabei die Identifikation dieser beiden Zielgruppen, die per definitionem noch keine Folgekomplikationen oder gar funktionelle Einschränkungen durch Erkrankungen aufweisen. Dazu sollten bei jedem Erstkontakt zu älteren Patient:innen und dann in etwa 2-jährigen Intervallen oder aber bei perakuter Verschlechterung des Gesundheitszustandes einfache Verfahren zur Filterung von Risikogruppen (Screening) angewandt werden. Je nach Einordnung des Individuums in Zielgruppen der Gesundheitsförderung kann zur Ableitung geeigneter Maßnahmen dann ein umfassenderes, multidimensionales Assessment nachgeschaltet werden. Dabei erfolgt die Einteilung nicht primär anhand der medizinischen Diagnosen, sondern zunächst anhand einer Ermittlung der persönlichen Reserven und Risikofaktoren in Form damit valide verknüpfter (Selbst-)Aussagen. Diese erlauben eine gute, prognostisch aussagekräftige Einschätzung des funktionellen Gesamtzustandes, der hoch prädiktiv ist für die restliche Lebenserwartung über 60-jähriger Menschen. Dies gilt für die Erwartung der absoluten Überlebenszeit ebenso wie für die behinderungsfreie Überlebenszeit. Einfache Parameter wie das kalendarische Lebensalter haben sich diesbezüglich nicht bewährt: Die statistische Assoziation vieler Erkrankungen mit dem höheren Lebensalter ist nicht Ausdruck eines kausalen Zusammenhanges und ungeeignet zur Einschätzung eines Individuums (Sieber 2007). Ebenso kann der äußerliche Ersteindruck täuschen – etwa bei Personen im guten, körperlichen Zustand bei gleichzeitig schweren, seelischen oder mentalen Leiden wie beginnender Demenz.
Ein vereinfachtes Schema (Abb. 1) unterteilt die heterogene, ältere Bevölkerung grob in 4 Zielgruppen, die sich durch unterschiedliches Potenzial für gesundheitsfördernde oder medizinisch-pflegerische Prophylaxen auszeichnen. Diese 4 Zielgruppen werden nun kurz beschrieben.

Phänotyp „Rüstige (robuste) Personen“ mit völlig intakten Funktionen und über längere Zeit stabilem Gesundheitszustand

Körper, Geist und Psyche sind in der Lage, sich an wechselnde Bedingungen anzupassen, ohne die innere Homöostase und die äußere Balance zu verlieren. Diese Zielgruppe kann weiter gesundheitliche, schützende Reserven ausbauen. Langzeituntersuchungen haben gezeigt, dass gesundheitliche Reserven entscheidender für den individuellen Alterungsverlauf sind als die Belastung durch Risikofaktoren (Anders et al. 2012). Die geeigneten Maßnahmen zur Gesundheitsförderung sind im Wesentlichen die gleichen wie bei jüngeren Erwachsenen. Beispielsweise kann der altersassoziierte und zivilisationsbedingte Muskelkraftverlust durch vorbeugendes Krafttraining eingedämmt werden. Lediglich Intensität und Tempo des Muskeltrainings sollten an die leicht abnehmenden Regenerationsmechanismen des Körpers ab dem 40. Lebensjahr angepasst werden (Hollmann und Strüder 2009). Ähnlich wie bei der medikamentösen Behandlung gilt hier der Grundsatz „start low, go slow“. Behandelnden Ärzt:innen obliegt im Wesentlichen die Unterscheidung von rüstigen und gebrechlichen Personen durch valide Screening-Verfahren, die Durchführung der gesetzlich verankerten Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen (Primärprävention) sowie die Motivation zu einem aktiven Lebensstil (Gesundheitsförderung). Ein geeignetes Verfahren zur Unterscheidung von robusten und gebrechlichen Älteren kann in jedem Setting mit einem einfachen in der Longitudinal Urban Cohort Ageing Study (LUCAS) entwickelten Selbstausfüllerfragebogen, dem LUCAS-Navigator, zeit- und personalsparend erfolgen – ohne Verzicht auf Validität und Prognosekraft (Dapp et al. 2014).
Eine detaillierte Lebensstilberatung sollte nur vornehmen, wer speziell qualifiziert ist – anderenfalls ist die Delegation an kompetente Berufsgruppen (wie Sportwissenschaftler:innen, Ökotropholog:innen, Psycholog:innen) einer oberflächlichen, pauschalen Ansprache („einfach mal mehr bewegen“) vorzuziehen, die durch schlechte Umsetzbarkeit letztendlich demotivieren kann. Die Sportvereine haben sich entsprechend in den letzten Jahren an die Bedürfnisse älterer Sportler:innen und Neueinsteiger:innen angepasst (vgl. u. a. Deutscher Olympischer Sportbund o. J.). Studien haben belegt, dass erfolgreiche Lebensstiländerungen eine individualisierte Beratung, Motivationstechniken und gezielte Behandlung von Barrieren erfordern (Dapp et al. 2007). 2005 wurde das Programm „Aktive Gesundheitsförderung im Alter“ mit dem 1. Preis des Deutschen Präventionspreises ausgezeichnet – u. a. aufgrund der hohen Teilnahmerate, effizienten Didaktik und den wissenschaftlich nachgewiesenen Effekten nach einem Jahr. Inzwischen konnte belegt werden, dass die Teilnahme auch über eine Langzeitbeobachtung von knapp 14 Jahren von Vorteil war (Dapp et al. 2018).
Am Übergang von der Gesundheitsförderung respektive Primärprävention zur kurativen Behandlung stehen Maßnahmen der frühen Entdeckung und Behandlung von Erkrankungen, um Folgeschäden zu vermeiden. Zu den Details der Sekundärprävention informieren wiederum die einzelnen Kapitel zu Erkrankungen wie Diabetes und Bluthochdruck. Wo dies nicht gelingt, beginnt eine Destabilisierung der Gesundheit und Funktionen.

Phänotyp „Gebrechliche Personen“ mit instabilem Zustand aufgrund sich beschleunigt aufbrauchender Reserven und Fähigkeiten

Der ältere Organismus passt sich nicht mehr erfolgreich an, sondern reagiert zunehmend gleichförmig auf äußere Veränderungen. Nach außen sind zunächst wenig dramatische Befindlichkeitsstörungen wie Erschöpfung und unspezifische Symptome wie Gangunsicherheit Ausdruck sich rasch aufbrauchender Reserven und zunehmender Risiken (Kressig et al. 2001). Eine katabole Stoffwechsellage geht einher mit Sarkopenie, Inappetenz, sekundär-kognitiven Störungen (Pseudodemenz) und Depression sowie Verschlechterung der Immunabwehr. Es droht der Verlust der inneren Homöostase bis hin zu epigenetischen Veränderungen und dem Vollbild eines klinischen Frailty-Syndromes (Morley et al. 2002). Dieses birgt eine hohe (etwa gegenüber rüstigen Gleichaltrigen um das 8-Fache erhöhte) Mortalität und bei Überleben die Gefahr eines dauernden Verlustes von Fähigkeiten. Auslöser finden sich in allen medizinischen Fachbereichen wie der Inneren Medizin (z. B. Krebs-, Autoimmunerkrankungen) oder der Neurologie (z. B. Morbus Parkinson). Allen Auslösern gemein ist die Durchschlagkraft einer krankhaften Störung, die Reserven aufbraucht (tituliert als „impact disease“) und damit eine altersspezifische, pathophysiologische Endstrecke anstößt, die Frailty-Kaskade. Zu knapp einem Drittel sind psychische Störungen wie schwere, depressive Episoden oder reaktivierte, psychische Traumata anzuschuldigen. Die differenzialdiagnostische Klärung ist daher eine Herausforderung an der Schnittstelle ambulanter und stationärer Versorgung (Anders et al. 2011).
Die Zielgruppe der neu gebrechlich Gewordenen wird in der medizinischen Versorgungskette noch nicht rechtzeitig erfasst. Oft erfolgen medizinische Maßnahmen erst bei schweren, krankenhauspflichtigen Ereignissen (Sturz, Delir). Diese werden nicht immer als Komplikationen einer sich selbst unterhaltenden, gesundheitlichen Dysfunktion verstanden und weisen daher auch bei erfolgreicher, lokaler Behandlung (z. B. chirurgischer Stabilisierung einer Fraktur) eine schlechte Gesamtprognose auf. Rehospitalisationen aus unterschiedlichen Anlässen mit komplizierten Verläufen können sich häufen. Es wird künftig darauf ankommen, diese Gruppe früher zu erfassen, möglichst noch vor bleibenden Funktionsverlusten: etwa durch populationsbasierte Screening-Verfahren (via Kommunen, Krankenkassen oder Hausarztpraxen) sowie spätestens im Zuge einer Krankenhausbehandlung.
Wie keine andere medizinische Gruppe verfügen die beiden Supraspezialitäten der Allgemeinmedizin und Geriatrie über die Kompetenz, gebrechliche Senior:innen aufzufangen (Stoppe und Mann 2009). Erschwert wird dies zunehmend durch eine Steuerung der gesundheitlichen Versorgung mehr aus der Perspektive der Kostenträger denn der Leistungsträger. So sind gebrechliche, ältere Menschen in einer Situation drohender funktioneller Verluste, die eigentlich Zugang in die teilstationäre, altersmedizinische Komplexbehandlung erlauben sollte. Geriatrische Kliniken mussten erfahren, dass für diese Patient:innen die Kostenübernahme durch den Medizinischen Dienst oft nicht anerkannt wurde. Dadurch erfolgte eine Anpassung des Status quo dahingehend, dass anstelle drohender (z. B. bei Gangunsicherheit) nun stattgehabte funktionelle Verluste als Eingangskriterium gelten. Dadurch verschiebt sich der Zugang der Gebrechlichen zur wirksamen Behandlung. Kurzfristig werden Kosten eingespart, längerfristig (höhere) Folgekosten in Kauf genommen (Kurz und Osterloh 2023). Die komplexe, sich selbst unterhaltende, Pathophysiologie der Frailty-Kaskade ist mit Einzelmaßnahmen nicht zu unterbrechen, sondern erfordert eine per Geriatrischem Assessment (S1-Leitlinie Geriatrisches Assessment der Stufe 2) orchestrierte Komplexbehandlung (Deutsche Gesellschaft für Geriatrie 2019).

Phänotyp „Traditionell-geriatrische Patient:innen“ nach dem Verlust von Fähigkeiten infolge schwerer Erkrankungen im Alter

Diese Gruppe (inklusive damit verbundener, iatrogener Belastungen wie Operationen, Multimedikation oder Immobilisierung) bildet die eigentliche Zielgruppe älterer Patient:innen für eine (teil-)stationäre, medizinisch-geriatrische Komplexbehandlung mit dem Ziel der Ausbehandlung von Akuterkrankungen unter erschwerten Bedingungen der Multimorbidität und gleichzeitiger Rehabilitation (Wiederherstellung von Fähigkeiten – Synonym für Tertiärprävention). Die Patient:innen leiden oft an chronischen Erkrankungen wie Polyarthrosen, die neben der medizinischen Behandlung etwa durch Gelenkersatz, Schmerzbehandlung und Re-Mobilisation der Kompensation von bleibenden, funktionellen Einschränkungen bedürfen – etwa durch Versorgung mit geeigneten Hilfsmitteln. Einzelheiten finden sich im SGB XI insbesondere in den §§ 31, 1–4, die den „Vorrang der Rehabilitation vor Pflege“ verankern. Bei geriatrischen Patient:innen ist die Durchführung eines Geriatrischen Assessments laut aktueller S3-Leitlinie zur Feststellung der Potenziale und Probleme obligat (Deutsche Gesellschaft für Geriatrie 2021). Am Ende steht die individuelle Ausrichtung der interdisziplinären Behandlung. Genutzt werden pharmakologische (zu verstehen als Medikationsmanagement inklusive des Absetzens nicht dringend benötigter Pharmaka), somatische und psychotherapeutische Verfahren. Eine besondere Herausforderung besteht darin, fördernd-fordernde und schützend-restriktive Interventionen auszubalancieren – etwa beim Gehtraining Sturzgefährdeter (Neumann et al. 2013). Einzelheiten sind den gleichnamigen Kapiteln zu den geriatrischen Syndromen zu entnehmen. Da geriatrische Patient:innen sich zumeist in Krankenhausbehandlung befinden, greifen hier neben individuellen Maßnahmen der Tertiärprävention insbesondere auch in der Klinik implementierte Strategien für die Sicherheit von Patient:innen wie Hygienemaßnahmen oder Delirprophylaxen oder Systeme zur Vermeidung von Medikationsirrtümern. Das Ziel des internationalen Projekts „Action on Patient Safety: High 5s“ bietet die bedeutsame, nachhaltige und messbare Reduzierung von unerwünschten Ereignissen in der Versorgung von Patient:innen durch die Implementierung von standardisierten Handlungsempfehlungen in Krankenhäusern (Aktionsbündnis Patientensicherheit o. J.).

Phänotyp „Pflegebewohner:innen“: Hochaltrige Personen in der terminalen oder finalen Lebensphase

Anhand einer schlechten oder infausten Prognose, verbunden mit manifesten, gesundheitlichen und/oder funktionellen Problemen ergibt sich die Zugehörigkeit zu dieser Zielgruppe. Selten ohne, meist mit einer ausgeprägten Pflegebedürftigkeit, sind hier alle Maßnahmen konsequent auf den Schutz der Lebensqualität ausgerichtet. Dies gilt insbesondere für den Verzicht auf belastende, medizinische Verfahren oder Medikamente mit geringem Benefit. Eine Restitutio ad integrum der Gesundheit oder der Selbsthilfekompetenz sind nicht mehr realistisch. Es hat sich gezeigt, dass ältere Patient:innen am Lebensende unabhängig von der limitierenden Haupterkrankung an einer Vielzahl von Begleiterkrankungen und belastenden Symptomen wie Ernährungsproblemen, Übelkeit, Schmerzen, Orientierungsstörungen oder Atemnot leiden können. Diese Bedürfnisse erfordern eine entsprechende palliativmedizinische Begleitung – stationär und ambulant. Im Mittelpunkt stehen pflegerische Maßnahmen und Prophylaxen, um weitere, vermeidbare Beschwerden wie Schmerzen durch Druckgeschwüre zu vermeiden. Dabei kann sich die Indikation für medizinische Maßnahmen umkehren: z. B. hilft in der terminalen Phase die Verordnung von Benzodiazepinen, Angst und Luftnot zu lindern. In frühen Behandlungsphasen sind Benzodiazepine wegen ihres hohen Suchtpotenzials dagegen zu meiden – von Einmalgabe präoperativ oder spezifischen Indikationen (Morbus Parkinson, Psychosen) abgesehen (Anders et al. 2010). Eine psychosoziale Begleitung auch des sozialen Umfeldes und die Wahl der Versorgungsform (lokale Ärzte-Netzwerke, häusliche Pflege, Institutionalisierung, Hospiz oder Spezialisierte ambulante Palliativversorgung, SAPV) ist wichtig, damit die geplanten Hilfen die Betroffenen erreichen. Damit befassen sich in einer konzertierten Aktion die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), der Deutsche Hospiz- und Palliativ-Verband (DHPV) und die Bundesärztekammer (BÄK). Die medizinisch-pflegerischen Anforderungen sind im Kap. „Palliativmedizin im Alter“ beschrieben und werden daher nicht hier wiederholt. Zu beachten ist, dass rüstige Personen durch rechtzeitige Auseinandersetzung mit ihren eignen Vorstellungen zur medizinisch-pflegerischen Behandlung am Lebensende und entsprechende Dokumentation (Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung, Betreuungsvorausverfügung, Wohnortwahl) vorsorglich für sich in die Zukunft hinein wirksam werden können. In der Neufassung des Betreuungsrechtes, das am 01.01.2023 in Kraft getreten ist, wird deren Autonomie nochmals bestärkt (Bundesministerium der Justiz 2021).

Zielgruppengerechte Präventionsabstufung

Die bereits vorgestellten Gruppen robuster, gebrechlicher, geriatrischer und palliativ-terminaler Phänotypen können gezielt in ihrer Gesundheit bestärkt werden durch die ihnen entsprechenden Interventionen auf den Ebenen der primordialen Gesundheitsförderung (Ausbau von Reserven), Primärprävention (Schutz der Reserven), Sekundärprävention (Früherkennung von Erkrankung und Schutz vor deren Komplikationen), Tertiärprävention (Rehabilitation bei funktionellen Verlusten unter Erkrankung) und Quartärprävention (Schutz der Lebensqualität). Praktische Beispiele finden sich in der folgenden Tab. 1.
Tab. 1
Praktische Beispiele für zielgruppengerechte Abstufung der Prävention
Phänotyp/Zielgruppe
Ebene der Prävention
Praktische Beispiele
Robuster Phänotyp
Mobilität intakt „Radfahrer“
Gesundheitsförderung:
Befähigung zur Stärkung der eigenen Reserven (Empowerment)
Positives Konzept des alltäglichen Lebens, das in gleicher Weise die Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen für die Gesundheit betont sowie die körperlichen Fähigkeiten
Vielseitigkeit in Ernährung, körperlichem Training und sozialen Kontakten: Beratung zum Lebensstil, psychischer Resilienz, z. B. Programm „Aktive Gesundheitsförderung im Alter“
Primärprävention:
Spezifische Aktivitäten zum Erhalt der Gesundheit vor Eintritt einer messbaren biologischen Schädigung, sowie Verringerung der Krankheitsanfälligkeit oder Erhöhen der allgemeinen Widerstandskraft
Schutzimpfungen,
Schutz (z. B. Fahrradhelm)
FFP2-Masken
Handhygiene
Gebrechlicher Phänotyp
Mobilität bedroht,
Vermeidungsverhalten
„unsicherer Fußgänger“
Sekundärprävention:
Medizinische Vorsorge und Heilung
Früherkennung und Schutz durch Folgeschäden von chronischen Erkrankungen
Erhalt der gesundheitlichen Reserven/Funktionen
Screening-Maßnahmen zur
Früherkennung, Abklärung und Behandlung von Frailty-Syndroma, Diabetes, Bluthochdruck, Glaukom, Brustkrebs etc.
Meidung von Benzodiazepinen
Geriatrischer Phänotyp
„gehbehindert“
Tertiärprävention:
Rehabilitation und Kompensation von Folgeschäden akuter und chronischer Erkrankungen
Wiederaufbau der Reserven/Funktionen durch aktivierende Therapie
Geriatrisches Assessment, Medizinisch-geriatrische Komplexbehandlung nach Schlaganfall, hüftnaher Fraktur,
Herzklappenersatz etc.
Palliativ-terminaler Phänotyp
„bettlägerig“
Quartärprävention:
Palliativbehandlung
Behandlung belastender Symptome und Schutz vor Schäden durch Behandlung
Psychosoziale Begleitung
Erhalt der Lebensqualität
Dekubitusprophylaxen, Schmerzmanagement,
Verzicht auf belastende Behandlung!
Nutzen/Linderung durch Benzodiazepine
azum Vorgehen siehe folgender Abschn. 3

Vorgehen: Identifikation neu aufgetretener Gebrechlichkeit im ambulanten Versorgungsbereich

Erschöpfung, geminderte Leistungsfähigkeit, rasche Ermüdbarkeit (von franz. fatigue = Ermüdung): Diese Symptome sind Ausdruck einer unspezifischen, gesundheitlichen Verschlechterung und gerade deswegen bei älteren Patient:innen geeignet, als Signalsymptom zu fungieren. Dabei besteht eine Prädiktivität für eine körperliche Beeinträchtigung und vermehrte Nutzung medizinischer Einrichtungen bis zu einem Jahr nach Auftreten (Avlund et al. 2008). Während jüngere Patient:innen oft spontan ärztlichen Rat suchen – vielleicht weil die berufliche Leistungsfähigkeit rasch in Mitleidenschaft gezogen wird, besteht vonseiten älterer Patient:innen und des medizinischen Fachperson eine Neigung, dieses Symptom als „alterstypisch“ herunter zu spielen oder andere Beschwerden in den Mittelpunkt zu stellen.
Doch eine Besonderheit älterer Patient:innen kommt zuhilfe: Erschöpfung und gesundheitliche Verschlechterung aller Art – sei es auf der Basis körperlicher, psychischer oder kognitiver Probleme – zieht zeitnah eine deutliche Beeinträchtigungen der Mobilität im Allgemeinen und speziell der Gangsicherheit nach sich (Montero-Odasso et al. 2022). Dies ist ein Hinweis auf eine geringere, physiologische Reservebreite im Alter (Guralnik et al. 2000). Der bipedale Gang als eine sehr komplexe, in der frühkindlichen Entwicklung spät erworbene Fähigkeit macht diese Vulnerabilität verständlich. Screening-Instrumente, die eine zunehmende Vermeidung von Mobilität im Alltag, Gangunsicherheit oder Sturzangst erfassen, korrelieren daher gut mit dem Initialsymptom Erschöpfung und mit der Wahrscheinlichkeit, ein Frailty-Syndrom zu entwickeln (Anders et al. 2008). Die Verlässlichkeit der Berichte von Patient:innen zu diesem Themenkomplex ist ausreichend, wenn nicht Details wie die tatsächliche Sturzhäufigkeit, sondern Anzeichen der sich verschlechternden Gangsicherheit erfragt werden (z. B. „Nutzung des Geländers und Blick auf die Füße beim Treppabsteigen“; „Vermeidung von überflüssigen Besorgungen außer Haus“). Da die Fähigkeiten noch vorhanden sind, aber bereits in adaptierter Art und Weise seltener und weniger selbstverständlich ausgeführt werden, spricht die geriatrische Forschung in diesem Stadium auch von „Prädisability“. Nach der Faustregel „use it or lose it“ unterhält dieser Prozess sich selbst durch negative Synergien – vor allem durch das Vermeidungsverhalten und einen veränderten Metabolismus (Lang et al. 2009). Andere Screening-Instrumente verbinden diese beiden Signalsymptome „Fatigue“ und „Prädisability“ zu einem Terminus „Fatigability“. Nun liegt alles daran, die bisher versteckten Auslöser des Prozesses zu identifizieren, diese möglichst kausal zu behandeln und die Mobilität inklusive der mentalen, psychischen und körperlichen Anteile als selbstverständliche Fähigkeit wiederherzustellen, die den älteren Bürger:innen damit die aktive soziale Teilhabe in allen Ausprägungen (Ehrenamt, Sorge um Andere, Hobbies) erlaubt.
Neben der allgemeinmedizinischen Praxis oder der geriatrischen Tagesklinik sind bei besonderen Fragestellungen Geriatrische Institutsambulanzen (GIA laut § 118b SGB V) entsprechend kompetent – aber noch unzureichend für diese komplizierte Fragestellung personell, finanziell (in Relation zur Herausforderung und den Einrichtungen der Psychiatrischen Institutsambulanz (PIA laut § 118a SGB V) und technisch ausgestattet – etwa mit einem technischen System zur Gangbildanalyse (Anders et al. 2011).
Für die Praxis ergeben sich aus diesen komplexen Zusammenhängen 3 einfache Schritte (vgl. Abb. 2):
Schritt 1 – Signalfrage
Einbau in die Anamnese einer offenen Frage nach dem Signalsymptom Fatigue: „Fühlen Sie sich in letzter Zeit ungewohnt müde, rasch erschöpft?“ oder Einsatz der Mobility-Tiredness-Scale (Avlund et al. 2008).
Schritt 2 – Screening
Bei Bejahung Einsatz von (einem) validierten Screening-Instrument in Form eines einfachen, aber aussagekräftigen Selbstausfüllerbogens wie z. B.
Schritt 3 – Basis-Assessment
3a: Verifizierung der subjektiven Angaben durch Performance-Tests zur Funktion und Mobilität. Diese sind zudem Bestandteil der altersmedizinischen Abklärung und geeignet zur Verlaufsbeurteilung und Dokumentation (S3-Leitlinie vgl. Deutsche Gesellschaft für Geriatrie 2021).
  • Timed Up & Go Test (Podsiadlo und Richardson 1991)
  • Short Physical Performance Battery (SPPB) aus Gehprobe, Stuhl-Aufsteh-Test und Tandemstand (Guralnik et al. 1994).
  • Tinetti-Test (Tinetti 1986)
3b: Abklärung durch Testung von mindestens 2 weiteren, gesundheitlichen Domänen
  • Auswahl mentale Dimension/Kognition: Uhr-Ergänzungstest (CCT), Dem-Tect (in der Praxis oder Ambulanz), Mini Mental State Examination MMSE (in der Klinik)
  • Auswahl psychische Dimension/Stimmung: Geriatrische Depressions-Skala (GDS), Patient Health Questionnaire (PHQ-D)
  • Selbsthilfestatus und Aktivitäten des täglichen Lebens: Barthel-Index (BI), Functional Independence Measure (FIM), Instrumental Activities of Daily Living (I-ADL), Geldzähltest
  • Versorgungsplanung: Soziale Situation (SoSi)
Ad Schritt 2 – Screening
Im stationären Versorgungsbereich dient ein Screening der zügigen Identifikation geriatrischer Patient:innen gegenüber älteren Menschen, die in anderen Fachabteilungen (Innere, Chirurgie etc.) behandelt werden können. Geeignet sind auch die bereits vorgestellten Instrumente sowie neuere Verfahren für spezielle Settings wie die Notaufnahme. Die drei Gesellschaften Bundesverband Geriatrie (BVG) e.V., Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG) e. V. und Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG) e.V. haben ein gemeinsames Positionspapier zur Identifizierung geriatrischer Patient:innen in der Notaufnahme in Deutschland erarbeitet: Erstens: Prognoseindizes sind als alleiniges oder wesentliches Maß ungeeignet, den komplexen Handlungsbedarf bei geriatrischen Patient:innen aufzuzeigen, und werden darum nicht empfohlen. Zweitens: Das umfassende geriatrische Assessment ist gut etabliert und wirksam, aber zu aufwendig, um bei einer größeren Anzahl von Patient:innen in der Notaufnahme angewendet zu werden. Es wird für Fälle empfohlen, in denen auf Basis von Screening-Instrumenten oder anderen Erwägungen eine Zuordnung der Patient:innen nicht eindeutig erfolgen kann. Drittens: Von den vorhandenen Screening-Instrumenten ist das Instrument ISAR (Identification of Seniors at Risk) am besten evaluiert und erscheint für die Anwendung in Deutschland geeignet. Die Adaptation des ISAR-Instruments sowie dessen Anwendung werden dort empfohlen, wo nicht bereits andere Instrumente angewendet werden oder eine direkte Beurteilung über eine:n Geriater:in erfolgt (Thiem et al. 2012).
Als geriatrische Patient:innen gelten nach einem Konsensus der DGG, der DGGG, des BVG, des Bundes Deutscher Internisten, Sektion Geriatrie (BDI) sowie der Europäischen Fachärztevereinigung, Sektion Geriatrie, wer „geriatrietypische Multimorbidität“ und höheres Lebensalter (überwiegend 70 Jahre oder älter) aufweist oder durch „Alter 80+“ („oldest old“) aufgrund der alterstypisch erhöhten Vulnerabilität, z. B. des Auftretens von Komplikationen und Folgeerkrankungen, der Gefahr der Chronifizierung sowie des erhöhten Risikos eines Verlustes der Autonomie mit Verschlechterung des Selbsthilfestatus, mehr als jüngere Menschen gefährdet ist. Meist liegen geriatrische Syndrome vor, die multifaktoriell bedingt sind, eine negative Synergie besitzen und daher eine multimodale Behandlung erfordern. Die geeignete Versorgungsform hält daher ein besonders qualifiziertes, interdisziplinäres geriatrisches Team vor. Das nachfolgende Assessment dient wesentlich der Aufdeckung latenter Probleme wie Proteinmalnutrition und der Koordination der Behandlung (vgl. Abb. 2).
Ad Schritt 3 – Basis-Assessment
Im ambulanten Versorgungsbereich dient ein Basis-Assessment der Abklärung neu aufgetretener Gebrechlichkeit, im klinischen Bereich zur Planung präventiver, pflegerischer und therapeutischer Maßnahmen. Je nach Befund und Verdachtsdiagnose können übliche medizinisch-diagnostische Verfahren hinzutreten (z. B. Schellong-Test zum Ausschluss einer orthostatischen Störung bei Sturzanamnese). Sinnvoll ist grundsätzlich zudem eine Erfassung und Bewertung der Medikation (ärztlich verordnete und Selbstmedikation). Sowohl die im Alter häufige Multimorbidität als auch der einfache Zugang zu Medikamenten aus freien Bezugsquellen (Internet, Ausland, Versandhandel, Angehörige) lässt Multimedikation als ein fast regelhaftes Phänomen bei älteren Patient:innen erscheinen (Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin 2021). Dadurch steigt das Risiko von unerwünschten Interaktionen, Nebenwirkungen und Einnahmefehlern stark an. Das erweiterte Assessment mit vertiefenden Instrumenten und Tests zu spezifischen Fragestellungen ist geriatrische Kernkompetenz. Eine Auswahl frei zugänglicher Testverfahren mit Erläuterung finden sich beim Informationsservice des Kompetenz-Centrums Geriatrie (Kompetenz-Centrum Geriatrie o. J.).
Fallbeispiele zu Prävention und Gesundheitsförderung: Anwendungsübungen
1) Palliation: Eine 94-jährige Patientin ist am 23. Dezember vom Wohnortpflegeheim in die zentrale Notaufnahme eines Krankenhauses der Schwerpunktversorgung gekommen. Sie ist nicht ansprechbar, somnolent, die Augen halb geschlossen, ohne Blickkontakt. Es zeigen sich ferner Spuren kompletter Inkontinenz, Kontrakturen aller Extremitäten und ein sakrales Dekubitalgeschwür III°. Die Haut ist kalt, blass, Schleimhäute minderdurchblutet, der Atem unregelmäßig rasselnd. Es liegt eine Pflegeakte vor mit der Hauptdiagnose „Schwere Demenz vom Alzheimer-Typ“ sowie eine 12 Jahre alte Patientenverfügung mit dem Wunsch, auf lebensverlängernde Maßnahmen zu verzichten. Die hinzugekommene, alleinstehende Tochter macht sich Sorgen, weil ihre Mutter seit 2 Tagen nicht mehr getrunken hat: „Da muss man doch was unternehmen!“
Einordnung alternativ zum Screening: Telefonat mit dem betreuenden Hausarzt. Dort Vorliegen einer Vorsorgevollmacht ausgestellt auf einen rüstigen Halbbruder und einer Patientenverfügung. Im Gespräch Entscheidung für eine palliative Versorgung im Pflegeheim unter Opioidmedikation, Empfehlungen zur Pflegeüberleitung und Entlastung des Pflegepersonals vor Ort durch ehrenamtliche Sterbebegleiter. Die Patientin verstirbt eine Woche später ohne Anzeichen für Schmerzen (nonverbal ermittelbar über die BESD-Skala).
2) Kuration: Ein 76-jähriger Patient ist am 23. Dezember vom ADAC aus Südtirol ausgeflogen und in die Kardiologie eines Krankenhauses eingeliefert worden. Er hatte sich vor 7 Tagen beim Skilaufen eine rechtsseitige Tibiafraktur zugezogen, die operativ versorgt wurde. Intraoperativ traten tachykarde Herzrhythmusstörungen bei bekanntem, arteriellen Hypertonus und Aortenklappenstenose auf. Der Patient ist ansprechbar, orientiert und stabil, zeigt aber Zeichen der kardialen Dekompensation. Er ist teil-immobilisiert, darf das rechte Bein 6 Wochen nicht belasten. Es stellt sich Frage nach der Indikation für einen herzchirurgischen Eingriff (Klappenersatz).
Screening: aktuell verminderte körperliche Belastbarkeit
Assessment: noch keine funktionellen Beeinträchtigungen, aber Zeichen einer reaktiven Depression
Einordnung: Rüstiger Senior mit akuter Hochrisikoerkrankung.
Empfehlung: Vorstellung in der Kardiochirugie und Operation (möglichst Bioklappe zur Vermeidung einer Antikoagulationspflicht).
Im Anschluss ambulante Kardiorehabilitation inklusive Ernährungsberatung und psychologische Begleitung. Später dauerhafte Überleitung in eine Herzsportgruppe. Psychiatrische Erstvorstellung.
3) Komplexbehandlung: Eine 80-jährige Patientin lebt weitgehend selbstständig in einer Wohnanlage für Senior:innen. Sie wird regelmäßig ärztlich gesehen zur Kontrolle eines Diabetes mellitus Typ 2. Ferner sind Fachärzt:innen beteiligt zur Behandlung chronischer Erkrankungen wie einer leichten Gonarthrose, rezidivierenden Harnwegsinfekten und grauem Star. Die Patientin fühlt sich zunehmend gangunsicher und fragt um Rat. Eine diabetische Neuropathie wird ausgeschlossen, auch auf zerebrale Durchblutungsstörungen finden sich keine Hinweise. Der beteiligte Orthopäde sieht noch keine Indikation für einen Gelenkersatz und fasst zusammen: „Für das Alter geht’s doch noch ganz gut!“
Screening: Tiredness
Assessment: Beginnende Einschränkungen der Performance (Stuhlaufstehtest 16 s, TU&G 14 s, Tandemstand unsicher).
Einordnung: Gebrechliche Patientin mit Inaktivität, Kraftmangel vor allem der Rumpf- und Beinmuskulatur und Neigung zum Rückzug.
Empfehlung: Übungen zur Aktivierung von zentraler und peripherer Balance z. B. Tai Chi im Seniorentreff.
Bei fortschreitender Verschlechterung sowohl der Funktion als auch der Blutzuckereinstellung kommt es vor Umsetzung dieser Empfehlungen zu einem Sturz mit Oberschenkelhalsfraktur und Anlage einer Totalendoprothese (TEP) linksseitig. Indikation zur teilstationären, geriatrischen Komplexbehandlung nach Abschluss der lokalen Wundheilung. Darunter Verbesserung der Gangfunktion und Entlassung ohne Pflegestufe in die eigene Häuslichkeit.
4) Gesundheitsförderung: Eine 69-jährige Ärztin im Ruhestand spielt leidenschaftlich Golf, fühlt sich aber nicht ausgelastet. Im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung Check Up 35plus erwähnt sie schmerzhafte Beschwerden im Rücken und der rechten Schulter. Die Befunde ergeben eine leichte Hypercholesterinämie. Bereits vor 2 Jahren hatten diese zu einem Therapieversuch mit Statinen geführt, der aufgrund einer Unverträglichkeit mit beginnender Myopathie aufgegeben wurde.
Screening: unauffällig.
Lokalbefund: unauffällig, muskulärer Hartspann v. a. im M. deltoideus rechts mehr als links.
Einordnung: Rüstige, gesunde Seniorin
Empfehlungen zum Ausbau gesundheitlicher Reserven mit folgenden Bausteinen:
Soziale Vorsorge und Aktivität: Einbindung in ein Ehrenamt z. B. als Simulationspatientin für den Unterricht der Medizinstudierenden.
Körperliche Aktivität: Rat zum ausgleichenden Krafttraining der Muskulatur an Geräten inklusive vorbereitender Extensionsübungen. Darunter Beschwerdefreiheit und Verbesserung der Bewegungsabläufe beim Golf sowie der Blutfettwerte.
Gesunde Ernährung: Erhöhung des Anteiles von Gemüse an der täglichen Kost sowie des Anteiles von Fischmahlzeiten auf 2-mal wöchentlich bei Einsparung von Kohlenhydraten.
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