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DGIM Innere Medizin
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Publiziert am: 10.07.2015

Prinzipien der antineoplastischen Chemotherapie

Verfasst von: Christian Maurer, Kai Hübel und Jens Chemnitz
Die Disziplin der antineoplastischen Chemotherapie, also einer medikamentösen Therapie von Krebserkrankungen, stellt eine recht junge Behandlungsmethode dar. Heute werden neben der klassischen Chemotherapie bei hormonsensitiven Tumoren hormonale Agonisten und Antagonisten erfolgreich eingesetzt. Insbesondere neue Therapieansätze spielen eine zunehmende Bedeutung in der modernen Onkologie. Durch immer besseres Verständnis der molekularen Grundlagen der Tumorgenese gelingt es, Zytostatika mit deutlich höherer Selektivität zu entwickeln. Der Begriff der zielgerichteten Krebstherapie („targeted therapies“) hat sich etabliert und beschreibt den Angriffspunkt der Medikamente an molekularen Ursachen der Fehlfunktionen in Tumorzellen. Zu dieser Gruppe der Krebstherapien zählen beispielsweise Antikörper und Tyrosinkinase-Inhibitoren. Weiterhin spielen Medikamente mit einer Wirkung auf das endogene Immunsystem, so genannte Immunmodulatoren, und Medikamente zur Beeinflussung des Tumormikromilieus, also von Zellen in Nachbarschaft zu den Tumorzellen, eine zunehmende Rolle.

Begriffserklärung

Der Begriff Chemotherapie wurde 1906 von Paul Ehrlich geprägt und stammt aus dem Gebiet der Infektionskrankheiten. Die Bezeichnung steht für künstlich hergestellte Medikamente oder Abkömmlinge von in der Natur vorkommenden Stoffen.
Heute unterscheidet man zwischen einer antimikrobiellen und einer antineoplastischen Chemotherapie. Die Disziplin der antineoplastischen Chemotherapie, also einer medikamentösen Therapie von Krebserkrankungen, stellt eine recht junge Behandlungsmethode dar. Erstmalig wurde 1941 mit dem synthetisch hergestellten Estrogen Diethylstilbestrol erfolgreich das Prostatakarzinom behandelt. Das erste klassische Zytostatikum, ein Stickstoff-Lost-Derivat, wurde kurz darauf eingeführt. Ein weiterer Meilenstein stellt die erste erfolgreiche Therapie einer akuten lymphatischen Leukämie mit dem Folsäureantagonisten Aminopterin im Jahr 1948 dar.
Heute werden neben der klassischen Chemotherapie bei hormonsensitiven Tumoren hormonale Agonisten und Antagonisten erfolgreich eingesetzt. Insbesondere neue Therapieansätze spielen eine zunehmende Bedeutung in der modernen Onkologie. Durch immer besseres Verständnis der molekularen Grundlagen der Tumorgenese gelingt es, Zytostatika mit deutlich höherer Selektivität zu entwickeln. Der Begriff der zielgerichteten Krebstherapie („targeted therapies“) hat sich etabliert und beschreibt den Angriffspunkt der Medikamente an molekularen Ursachen der Fehlfunktionen in Tumorzellen. Zu dieser Gruppe der Krebstherapien zählen beispielsweise Antikörper und Tyrosinkinase-Inhibitoren. Weiterhin spielen Medikamente mit einer Wirkung auf das endogene Immunsystem, so genannte Immunmodulatoren, und Medikamente zur Beeinflussung des Tumormikromilieus, also von Zellen in Nachbarschaft zu den Tumorzellen, eine zunehmende Rolle.

Therapieziele

Prinzipiell kann zwischen einer kurativen und einer palliativen Chemotherapie unterschieden werden. Eine Kuration, also Heilung, mit Chemotherapie ist nur bei wenigen Tumorerkrankungen möglich. Hierzu zählen Leukämien, Lymphome und manche solide Tumoren wie das Chorionkarzinom oder bösartige Hodentumoren. Insbesondere bei metastasierten Tumorerkrankungen kann mit der Chemotherapie meist nur eine Teilremission, eine Verbesserung tumorbedingter Symptome und eine begrenzte Lebenszeitverlängerung erreicht werden (palliative Chemotherapie). Hierbei darf allerdings nicht vergessen werden, dass durch immer neuere Medikamente, z. B. die oben erwähnten zielgerichteten Behandlungsverfahren, zahlreiche Krebserkrankungen auch in einem weit fortgeschrittenen Stadium über zum Teil lange Zeit kontrolliert werden können. Viele Krebserkrankungen bleiben somit nicht heilbar, wandeln sich jedoch zunehmend in eine chronische Erkrankung.
Die zumindest zahlenmäßig größte Bedeutung der Chemotherapie liegt zusammen mit der Chirurgie in der Behandlung von soliden Tumoren. Je nach zeitlichem Zusammenhang zur Operation kann zwischen zwei Formen unterschieden werden: unter einer neoadjuvanten Chemotherapie wird der Einsatz der Zytostatika vor der Operation verstanden. Damit sollen die Chancen einer kompletten chirurgischen Entfernung des Tumors verbessert werden. Eine adjuvante Chemotherapie steht zeitlich nach einer Operation. Ziel stellt die Elimination noch vorhandener, eventuell nicht sichtbarer Tumorzellen dar. In der Hämatologie, etwa bei der Behandlung von Lymphomen, spielen Hochdosischemotherapien eine große Rolle. Mittels Zytostatika in sehr hohen Konzentrationen sollen möglichst viele Tumorzellen abgetötet werden. Da diese Therapien jedoch meist die Knochenmarkfunktion irreversibel schädigen, ist eine Stammzelltransplantation im Anschluss notwendig.

Wirkung der Chemotherapie

Vereinfacht kann gesagt werden, dass die klassische Chemotherapie unselektiv besonders gut sich schnell teilende Zellen abtötet. Entsprechend spielt die Wachstumskinetik der Zellen eine entscheidende Rolle. Neben bösartigen Zellen werden also auch gesunde, sich teilende Körperzellen durch die klassischen Zytostatika geschädigt. Innerhalb eines Tumors kann zwischen drei Zellpopulationen unterschieden werden. Die erste Population stellt die proliferierenden Zellen dar (Wachstumsfraktion). Die zweite Population bildet ruhende Zellen, die – zumindest prinzipiell – in die Wachstumsfraktion zurückkehren können. Die dritte Population besteht aus Zellen, die ausgereift, differenziert sind und die Fähigkeit zur Proliferation verloren haben. Lediglich die ersten beiden Zellpopulationen sind potenziell mit einer Chemotherapie anzugreifen. Innerhalb der Wachstumsfraktion durchläuft eine Zelle den Zellzyklus. Dieser besteht aus aufeinander folgenden Phasen. Ruhende Zellen befinden sich in der G0-Phase, können jedoch in die G1-Phase übertreten. In dieser Phase bereitet sich die Zelle auf die DNA-Replikation vor, die in der darauffolgenden S-Phase stattfindet. In der G2-Phase wird die Richtigkeit der Replikation überprüft, bevor die Zelle in die Phase der eigentlichen Zellteilung (Mitose, M-Phase) übertritt. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass der Zellzyklus korrekt abläuft. Entsprechend befinden sich am Übergang von der G1- zur S-Phase und von der S- zur G2-Phase Kontrollpunkte („check points“). Werden hierbei DNA-Schäden festgestellt, wird der Zellzyklus angehalten und der Schaden repariert. Gelingt dies nicht oder ist der Schaden zu groß, kommt es zur Induktion des programmierten Zelltodes, der Apoptose.
Je größer die Wachstumsfraktion, desto besser wirkt die Chemotherapie. Die meisten klassischen Zytostatika bewirken, wenn auch auf unterschiedliche Weise, eine Zellschädigung und damit eine Induktion der Apoptose. Von besonderer Bedeutung für die Apoptose ist das Tumorsuppressorprotein p53. Das entsprechende Gen TP53 ist in bösartigen Tumoren das am häufigsten mutierte. Schätzungsweise 40–50 % aller Tumoren weisen ein fehlendes oder fehlerhaftes Protein auf. Somit kann es zur Resistenz gegenüber Zytostatika kommen. Heute weiß man, dass noch andere, p53-unabhängige Signalwege der Apoptose existieren. Diese stehen im Fokus intensivster Forschung, um bei Vorliegen entsprechender Mutationen dennoch ein Therapieansprechen zu erreichen. Abbildung 1 gibt eine Übersicht über die Signalwege der Apoptose.
DNA-Schäden bewirken eine Stabilisierung und Aktivierung des Tumorsuppressorproteins p53. Als Transkriptionsfaktor beeinflusst p53 den Zellzyklus und die Apoptose. Über weitere zwischengeschaltete Proteine (u. a. p21) kommt es zu einer Hemmung der Synthese von Cyclin E (G1-Arretierung) und Cyclin B (G2-Arretierung) und damit zu einem Anhalten des Zellzyklus. Weiterhin bewirkt p53 eine Expression des Proteins Bax. Bax wiederum führt zur Freisetzung von Cytochrom C aus den Mitochondrien. Zusammen mit APAF-1 („apoptotic protease activating factor 1“) und der Protease Procaspase 9 bildet sich ein Multiproteinkomplex, das so genannte Apoptosom, wodurch es zur Aktivierung der Procaspase 9 kommt. Die aktive Caspase 9 löst ihrerseits die Caspase-Kaskade aus. Durch eine signalverstärkende Rückkopplung über die Caspase 7 werden weitere Caspase 9-Moleküle aktiviert.
Extrazellulär kann die Apoptose über bestimmte Membranrezeptoren, so genannte Todesrezeptoren ausgelöst werden. Diese gehören zu der Tumornekrosefaktor(TNF)-Familie. Ein wichtiger Vertreter stellt der FAS-Rezeptor (CD95) dar. Wichtige Liganden sind FASL und TNF-β. Nach Aktivierung der Rezeptoren kommt es zur Aktivierung einer intrazellulären Domäne („receptor death domain“), welche das Adaptorprotein FADD („FAS-associated death domain protein“) bindet. Dieses führt zur Autoaktivierung der Procaspase 8, die analog zur Caspase 9 die Caspase-Kaskade aktiviert. Insbesondere die Caspasen 3, 6 und 7 führen zum apoptotischen Tod der Zelle. Sie bewirken einen Abbau von Zytoskelettproteinen (Actin) sowie des Kernmembranproteins Laminin. Besondere Bedeutung besitzt die Caspase 3. Durch Abbau des Inhibitors ICAD („inhibitor of CAD“) kommt es zur Aktivierung von CAD („caspase-activated DNase“). Die DNase spaltet die genomische DNA an internukleosomalen gekennzeichneten Regionen, wodurch 180–185-Basenpaar(BP)-Fragmente entstehen. Diese lassen sich in einer Gelelektrophorese als charakteristische Apoptoseleiter darstellen. Letztendlich nimmt das Zellvolumen ab, es kommt zur Ausbildung von Membranausstülpungen, und die Zellreste werden durch Phagozytose beseitigt.
Die durch Todesliganden ausgelöste extrinsische Apoptose ist über Bid („BH3 interacting domain death agonist“) mit der intrinsischen Apoptose verknüpft. Die Caspase 8 spaltet hierzu Bid. Das dabei entstehende tBid („truncated Bid“) führt zur Insertion von Bax in die mitochondriale Membran und somit zur Freisetzung von Cytochrom C.
Chemotherapeutika können über mehrere Wege die Apoptose induzieren. Zum einen können Zytostatika durch Schädigung der DNA die intrinsische Apoptose auslösen. Weiterhin kann unabhängig von DNA-Schäden und p53 Cytochrom C aus den Mitochondrien freigesetzt werden. Auch der extrinsische Weg kann von Zytostatika beeinflusst werden. So führen manche Chemotherapeutika wie auch p53 zu einer Hochregulation von Todesrezeptoren.

Kinetik des Tumorwachstums

Die Verdopplungszeit eines Tumors wird von der Dauer des Zellzyklus, der Größe der Wachstumsfraktion und dem Zellverlust bestimmt. Mit zunehmender Tumorgröße nehmen die Wachstumsfraktion ab und der Zellverlust zu. Ursache hierfür ist unter anderem ein Nährstoffmangel der Tumorzellen. Entsprechend wird bei Tumoren kein exponentielles Wachstum beobachtet. Die Wachstumskurve flacht mit zunehmender Tumorgröße ab.
Chemotherapeutika töten pro Therapiezyklus den gleichen Prozentsatz an Zellen ab, nicht etwa die gleiche absolute Zellzahl. Man spricht hierbei von der „Fractional cell kill“-Hypothese. Damit die fraktionelle Abtötungsrate besonders groß ist, werden meist Polychemotherapien verwendet. Mehrere Therapiezyklen haben somit das Ziel, nach Möglichkeit fast alle Tumorzellen zu beseitigen. Zwischen den einzelnen Therapiezyklen nimmt die Tumorzellzahl unter idealen Wachstumsbedingungen wieder exponentiell zu. Entsprechend müssen die Therapiepausen so gewählt werden, dass die ursprüngliche Zellzahl nicht wieder erreicht wird.

Angriffspunkte der Zytostatika

Zentrale Angriffspunkte der meisten Zytostatika sind die DNA, deren Synthese, deren Vorstufen (Nukleinsäuren) sowie Enzyme, die an der DNA-Replikation bzw. DNA-Verstoffwechselung beteiligt sind. Ein anderer wichtiger Angriffspunkt stellen die Mikrotubuli im Rahmen der Mitose dar. Abb. 2 veranschaulicht die Angriffspunkte der Chemotherapeutika. Tab. 1 gibt eine Übersicht der wichtigsten Substanzen.
Tab. 1
Übersicht der wichtigsten Zytostatika
Substanzklasse
Wirkung
Substanzen
Antimetabolite
Antimetabolite hemmen als falsche Bausteine die Synthese von DNA und RNA. Je nach primärer Wirkung kann zwischen drei Gruppen unterschieden werden.
1. Folsäureantagonisten
-Pemetrexed
2. Purinanaloga
-6-Mercaptopurin und 6-Thioguanin
-Fludarabin, Cladribin, Pentostatin
-Azathioprin
3. Pyrimidinanaloga
-5-Fluoruracil (Prodrugs: Capecitabine, Tegafur)
-Cytarabin
-Gemcitabin
-Azacitidin
-Decitabin
Ribonukleotidreduktase-Inhibitor
Durch Hemmung der Ribonukleotidreduktase wird die Überführung von Ribonukleosiddiphosphate in Desoxribonukleotide verhindert und damit die DNA-Synthese gestört.
Hydroxyharnstoff
Platinverbindungen
Platinverbindungen bewirken eine Intrastrangquervernetzung der DNA.
Cisplatin, Carboplatin, Oxaliplatin
Alkylierende Substanzen
Die antiproliferative Wirkung beruht auf Alkylierung der DNA, zum Teil auch durch Quervernetzung innerhalb eines DNA-Stranges
1. Stickstoff-Lost-Verbindungen
-Cyclophosphamid, Ifosfamid, Trofosfamid
-Chlorambucil, Melphalan, Bendamustin
2. Thiotepa
3. Alkylsulfonate
-Busulfan, Treosulfan
4. Nitrosoharnstoffverbindungen
-Lomustin, Carmustin
5. Hydrazinderivate
Procarbazin, Dacarbazin, Temozolomid
Interkalierende Substanzen
Durch Interkalation (Einlagerung) der Moleküle in die DNA/RNA wird deren Synthese gestört. Meist kommt es auch durch Hemmung der Topoisomerase zu Strangbrüchen.
1. Anthrazykline
-Doxorubicin, Daunorubicin
-Epirubicin, Idarubicin
2. Amsacrin
3. Mitoxantron
Die verwendeten Substanzen werden von unterschiedlichen Streptomyces-Arten produziert. Auch die beiden Anthrazykline Doxorubicin und Daunorubicin wurden ursprünglich aus Streptomyces-Kulturen isoliert. Die Wirkung beruht auf DNA-Interkalation (Actinomycin D), DNA-Alkylierung (Mitomycin C) bzw. DNA-Interkalation mit anschließender Fragmentierung durch Radikalbildung (Bleomycin)
Actinomycin D, Mitomycin C, Bleomycin
Topoisomerase-Inhibitoren
Topoisomerasen führen zur transienten Einzelstrangbrüchen (Topoisomerase I) bzw. Doppelstrangbrüchen (Toposimoerase II) der DNA und überführen damit die eng gepackte (superhelikale) DNA in entspannte DNA. Somit wird die Voraussetzung für die Replikation geschaffen. Toposiomerase-Inhibitoren verhindern diesen Vorgang und stabilisieren zum Teil auch die Bindung der Topoisomerasen an DNA-Spaltstellen, die folglich nicht mehr geschlossen werden können.
1. Topoisomerase-II-Inhibitoren
-Etoposid, Teniposid
2. Topoisomerase-I-Inhibitoren
-Irinotecan, Topotecan
Mikrotubuli-Inhibitoren
Mikrotubuli bestehen aus dem Zytoskelettprotein Tubulin und sind von zentraler Bedeutung für die Ausbildung des Spindelapparates während der Mitose. Es besteht ein dynamisches Gleichgewicht zwischen Polymerisation und Depolymerisation. Vinca-Alkaloide hemmen die Polymerisation, Taxane die Depolymerisation. Es kommt zu einer Arretierung in der Metaphase der Mitose.
1. Vinca-Alkaloide
-Vincristin, Vinblastin, Vinorelbin, Vindesin
2. Taxane
-Paclitaxel, Docetaxel

Unerwünschte Wirkungen der Chemotherapeutika

Die klassischen Zytostatika wirken nicht spezifisch gegen Tumoren. Auch gesunde Körperzellen werden geschädigt. Betroffen sind primär Zellen bzw. Organe mit einer hohen Proliferationsrate wie das Knochenmark, die Schleimhäute des Gastrointestinaltraktes sowie die Haarfollikel.
Insbesondere die Knochenmarkdepression mit einhergehender Anämie, Leukopenie und Thrombopenie stellt eine dosislimitierende Nebenwirkung dar. Fast alle Zytostatika führen zu einer Schädigung des Knochenmarks. Ausnahmen bilden Bleomycin und Asparaginase. Auch Vincristin zeigt eine geringe Wirkung auf das Knochenmark. Insbesondere bei Cyclophosphamid und Busulfan zeigt sich eine starke Myelosuppression. Beginn, Höhe und Ausmaß der Knochenmarkdepression unterscheiden sich je nach verwendetem Zytostatikum. Bei vielen Zytostatika beobachtet man eine maximale Neutropenie (Nadir) in der zweiten Woche (Cyclophosphamid, Doxorubicin, Cisplatin). Hingegen zeigen Lomustin, Carmustin und Mitomycin C eine verzögerte und lang andauernde Leukopenie.
Schädigungen der Schleimhäute des Gastrointestinaltraktes äußern sich in Form von Mukositis, Stomatitis und Diarrhoe. Ausgeprägte Mukositiden findet man vor allem unter Methotrexat, 5-Fluoruracil und Cytarabin sowie bei Hochdosistherapieprotokollen.
Übelkeit und Erbrechen wird von vielen Patienten als am meisten belastend empfunden (Tab. 2). Heute existieren jedoch sehr wirksame antiemetische Medikamente, die, je nach emetogenem Potenzial der Zytostatika, angewendet werden.
Tab. 2
Wahrscheinlichkeit von Erbrechen bei Zytostatika. (Modifiziert nach Aktories et al. 2013)
Risiko
Zytostatikum
Hoch (>90 %)
Cisplatin
Cyclophosphamid (hohe Dosen)
Carmustin
Dacarbazin
Actinomycin D
Mittel (30–90 %)
Oxaliplatin, Carboplatin
Cyclophosphamid (mittlere Dosen)
Doxorubicin, Epirubicin
Irinotecan
Niedrig (10–30 %)
Paclitaxel, Docetaxel
5-Fluoruracil, Gemcitabin
Minimal (<10 %)
Bleomycin
Busulfan
Vincristin, Vinblastin
Fludarabin
Die meisten Zytostatika führen zu Haarverlust. Geringer und kaum ausgeprägt ist diese Nebenwirkung unter Carboplatin, Cisplatin, Bendamustin, Fludarabin, Capecitabin, 6-Mercaptopurin und Methotrexat.
Weiterhin können Zytostatika zu unterschiedlichen Organschädigungen führen. Je nach Substanz kann es somit zu Schädigungen von Herz, Lunge oder Niere kommen. Typischerweise besitzen Anthrazykline (insbesondere Doxorubicin) und Trastuzumab (ein HER2/neu-Antikörper, siehe Tab. 4) kardiotoxische Wirkungen. Eine Lungenfibrose wird unter Busulfan und Bleomycin beobachtet. Unter den Platinverbindungen besitzt Cisplatin das höchste nephrotoxische Potenzial. Eine ausgeprägte Neurotoxizität mit sensorischen und motorischen Ausfällen (Parästhesien, Muskelschwäche, Schädigung der Hirnnerven) sowie Störungen des autonomen Nervensystems (Obstipation, Blasenatonie) wird vor allem unter Vincristin, Oxaliplatin, Cisplatin und den Taxanen festgestellt. Ausgeprägte Hautveränderungen sind Kennzeichen von 5-Fluoruracil (Hand-Fuß-Syndrom) bzw. Busulfan und Bleomycin (Hyperpigmentierung).
Zytostatika sind mutagen, teratogen und onkogen. Nach einer Therapie kann es somit zum Auftreten von Zweittumoren kommen. Diese treten charakteristischerweise nach einer Latenzzeit von mehreren Jahren auf. Häufig kommt es zu myelodysplastischen Syndromen, Leukämien und Lymphomen. Auch solide Tumoren können in Form von Zweitneoplasien auftreten. Die Häufigkeitsangabe schwankt. Je nach verwendeten Zytostatika bzw. Therapieschemata können mehr als 10 % der behandelten Patienten betroffen sein. Insbesondere Alkylanzien besitzen ein hohes kanzerogenes Potenzial.

Zelluläre und molekulare Angriffspunkte zur Entwicklung neuer Tumortherapeutika

Das Verständnis der Tumorzelle ist von zentraler Bedeutung für die Entwicklung neuer und spezifischer Medikamente. Da diese zielgerichteten Medikamente meist recht spezifisch eine bestimmte Eigenschaft einer Tumorzelle angreifen, ist die Wirkung auf gesunde Zellen oft geringer. Die Nebenwirkungen unterscheiden sich somit von denen der klassischen Zytostatika und sind oft geringer ausgeprägt. Zum Teil bestehen klassenspezifische Nebenwirkungen. Die zielgerichteten Therapien sind von zentraler Bedeutung für eine so genannte personalisierte Therapie. Durch individuelle Bestimmung der an dem Krankheitsprozess beteiligten Gene und Proteine können hierfür passende Medikamente eingesetzt werden, um einen maximalen Nutzen zu erlangen. Hanahan und Weinberg (2011) beschreiben in einem Übersichtsartikel die zentralen Eigenschaften von Krebszellen. Hierbei wird die Komplexität der Erkrankung auf acht fundamentale Eigenschaften heruntergebrochen. Zwei weitere Charakteristika (Förderung einer Entzündungsreaktion und genomische Instabilität) verstärken bzw. unterstützen diese acht Kennzeichen. Abbildung 3 veranschaulicht die zentralen Eigenschaften von Tumorzellen, Tab. 3 gibt einen Überblick über mögliche therapeutische Angriffspunkte. Tabelle 4 fasst bereits zugelassene zielgerichtete Medikamente zusammen.
Tab. 3
Tumorzelleigenschaften und deren therapeutische Beeinflussung
Tumorzelleigenschaften
Mechanismus
Medikamente
Unabhängigkeit von Wachstumssignalen
Vermehrte Expression von Wachstumsfaktorrezeptoren (EGFR)
EGFR-Aktivierung
Aktivierung von „downstream pathways“ (z. B. Ras, Raf, MAP-Kinasen, PI3-Kinase)
Autokrine Stimulation
EGFR-Inhibitoren (Antikörper), Tyrosinkinase-Inhibitoren
Insensitivität gegenüber inhibitorischen Signalen
Mutationen in Tumorsuppressorproteinen wie TP53-Mutation und dem Retinoblastom(Rb)-Protein Verlust der Zell-Zell-Kontaktinhibition
Substanzen mit Angriffspunkt in entsprechenden Signalwegen (z. B. Cyklinabhängige Kinase-Inhibitoren)
Potenzial zur unbegrenzten Proliferation
Re-Expression der Telomerase
„Alternative lengthening of telomeres“ (ALT)
Telomerase-Inhibitoren
Vermeidung von Apoptose
TP53-Mutation
Vermehrte Expression antiapoptotischer Signale (Bcl-2)
Verminderte Expression proapoptotischer Signale (Bax)
Bcl-2-Inhibitoren
Induktion von Gewebsinvasivität und Metastasierung
Herunterregulation von E-Cadherin
Hochregulation von N-Cadherin
Expression von Transkriptionsfaktoren für die epithelial-mesenchymale Transition (EMT)
Sekretion von Metalloproteinasen durch Tumorstromazellen
Matrixmetalloproteinase-Inhibitoren
Induktion der Angiogenese
Sekretion von VEGF (durch Tumorzellen und Tumorstromazellen)
VEGF-Antikörper
Unterdrückung einer Anti-Tumor-Immunreaktion
Sekretion von immunsuppressiven Stoffen (TGF-β)
Rekrutierung von immunmodulatorischen/immunsuppressiven T-Zellen
Immunaktivierende Antikörper (CTLA4-Antikörper), Immunmodulatoren
Deregulierter Energiestoffwechsel
Induktion der „aeroben Glykolyse“ durch aktivierte Onkogene (z. B. RAS) und mutierte Tumorsuppressorproteine
Inhibitoren der aeroben Glykolyse
Genomische Instabilität und Mutation
TP53-Mutation
Telomerverkürzung und dadurch bedingte Karyotypinstabilität
Epigenetische Veränderungen durch DNA-Methylierung und Histonmodifikation
PARP(Poly-ADP-Ribose-Polymerase)-Inhibitoren, HDAC(Histondeacetylase)-Inhibitoren
Förderung einer (lokalen) Entzündungsreaktion
Akquisition von immunmodulatorischen Zellen und deren Freisetzung von Wachstumssignalen („epidermal growth factor“ [EGF] und „vascular endothelial growth factor“ [VEGF]), Metalloproteinasen und anderen Zytokinen
Antiinflammatorische Medikamente
Tab. 4
Bereits zugelassene zielgerichtete Tumortherapeutika. (Modifiziert nach Berger et al. 2013)
Substanzgruppe
 
Medikamente
Immunmodulatoren
 
Thalidomid
Lenalidomid
Pomalidomid
Monoklonale Antikörper und Konjugate
CD20-Antikörper
Rituximab
Ofatumumab
Obinutuzumab
 
CD30-Antikörper
Brentuximab-Vedotin
 
CTLA4-Antikörper
Ipilimumab
 
EGFR-Antikörper:
-HER1-Antikörper
-HER2/neu-Antikörper
Cetuximab
Panitumumab
Trastuzumab
Trastuzumab Emtansin (T-DM1)
Pertuzumab
 
EpCam-Antikörper
Catumaxomab
 
VEGF-Antikörper
Bevacizumab
Tyrosinkinase-Inhibitoren
ALK-Inhibitoren
Crizotinib
 
Bcr/abl-Inhibitoren
Imatinib
Dasatinib
Nilotinib
Bosutinib
Ponatinib
 
EGFR-Inhibitoren:
-HER1
-HER1-4
-HER1/2
Erlotinib
Gefitinib
Afatinib
Lapatinib
 
Multikinase-Inhibitoren
Sorafenib
Sunitinib
Regorafenib
Vandetanib
Pazopanib
Cabozantinib
 
B-Raf-Inhibitoren
Vemurafenib
Dabrafenib
 
MEK-Inhibitoren
Trametinib
 
JAK-1/2-Inhibitoren
Ruxolitinib
Andere „targeted therapies“
HDAC-Inhibitoren
Vorinostat
Romidepsin
 
Proteasom-Inhibitoren
Bortezomib
Carfilzomib
 
VEGF-Inhibitoren
Aflibercept
Axitinib
 
Differenzierungsinduktoren
Tretinoin

Tumorresistenz

Es gibt mehrere Ursachen für eine Resistenz der malignen Zellen gegenüber dem verwendeten Zytostatikum. Eine Übersicht bietet Abb. 4. Darüber hinaus kann eine Resistenz bei Lage des Tumors in einem für das Zytostatikum schwer erreichbaren Körperkompartiments vorliegen. So weisen viele Chemotherapeutika eine schlechte Liquorgängigkeit auf. Auch eine nebenwirkungsbedingte Dosisreduktion des Zytostatikums kann Ursache eines schlechten Therapieansprechens sein.
Zielgerichtete Therapien (vor allem Antikörper und Tyrosinkinase-Inhibitoren) zeigen oft keinen ausreichenden, keinen oder nur einen vorübergehenden Effekt. Ein Grund hierfür liegt in der Komplexität der intrazellulären Signalwege. Die einzelnen Signalwege stehen untereinander in Verbindung. Wird also beispielsweise ein Pfad durch ein zielgerichtetes Therapeutikum verschlossen, kann das Wachstumssignal dennoch über zahlreiche andere, zum Teil redundante Signalwege weitergegeben werden. Weiterhin kann durch eine aktivierende („gain-of-function“) Mutation eines Onkogens bzw. einer funktionseinschränkenden („loss-of-function“) Mutation eines Tumorsuppressors unterhalb des mittels der zielgerichteten Therapie abgeschalteten Signals deren Wirkung zunichte gemacht werden.
Die Zukunft der medikamentösen Krebstherapie steht vor einer großen Herausforderung. Es gilt nicht nur krankheitsspezifische, sondern insbesondere patientenspezifische, zielgerichtete Therapieformen zu entwickeln und zu kombinieren, um einen maximalen Nutzen zu erzielen. Es ist dabei durchaus denkbar, dass der Stellenwert der klassischen Chemotherapie in den nächsten Jahren zumindest bei ausgewählten Erkrankungen in Frage gestellt wird.
Literatur
Aktories F, Hofmann S (2013) Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie,11. Aufl. (17. September 2013). Urban & Fischer Verlag/ Elsevier GmbH
Berger EM (2013) Das Rote Buch: Hämatologie und Internistische Onkologie, ecomed Medizin, 5. Aufl. (16. Dezember 2013)
Hanahan D, Weinberg RA (2011) Hallmarks of cancer: the next generation. Cell 144(5):646–674CrossRefPubMed
Huggins C, Hodges CV (1941) Studies on prostatic cancer, I: the effect of estrogen and of androgen injection on serum phosphatases in metastatic carcinoma of the prostate. Cancer Res 1:293–297
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