Epidemiologie
Nach den epidemiologischen Daten zur
Sepsis von Engel und Brunkhorst beträgt der Anteil der Haut-Weichgewebs-Infektionen auf Intensivstationen 9 % und ist nach der
Pneumonie mit 63 % und den abdominellen Infektionen mit 25 % als die dritthäufigste Sepsiserkrankung anzusehen (Engel et al.
2007).
In einer Übersichtsarbeit von Anaya und Dellinger (
2007) wurde die Inzidenz der nekrotisierenden Haut-Weichgewebs-Infektion in den USA auf 500–1500 Fälle pro Jahr geschätzt. In einer Untersuchung aufgrund von Datenmaterial von Versicherungen wurde allein für die
nekrotisierende Fasziitis eine Inzidenz von 0,04 Fällen pro 1000 Personen/Jahr gefunden (Ellis Simonsen et al.
2006). In Deutschland ist mit einer Inzidenz schwerer Haut-Weichgewebs-Infektionen von etwa 0,15–0,2 auf 1000 Personen pro Jahr zu rechnen. Genaue Daten aus Deutschland liegen nicht vor, da lediglich der
Gasbrand in Deutschland meldepflichtig ist mit 60–120 Fällen pro Jahr.
Differenzierung der unterschiedlichen nekrotisierenden Haut-Weichgewebs-Infektionen („necrotizing soft tissue infections“; NSTI)
Eine international akzeptierte Klassifikation der unterschiedlichen nekrotisierenden Haut-Weichgewebs-Infektionen („necrotising soft tissue infections“; NSTI) gibt es bislang nicht.
In unseren Klimaverhältnissen relevante NSTI-Erkrankungen sind in der Übersicht aufgelistet. Aufgrund ihrer Pathogenese, Diagnostik und der notwendigen Therapie sind diese Erkrankungen gut gegeneinander abgrenzbar (Tab.
1).
Tab. 1
Differenzierung der Weichgewebsinfektionen nach Erregern, klinischen Symptomen und Therapie. (Nach Kujath et al.
2012)
| anaerobe/aerobe Mischinfektion oder GAS | +++ | ++ | (+) | Faszie | +++ | Operativ |
| Clostridia spp. | +++ | + | (+) | Muskel | +++ | Operativ |
Streptokokkenmyositis | GAS | +++ | ++ | ++ | Muskel | +++ | Operativ |
| GAS | (+) | +++ | ++ | (Haut) | (+) | Konservativ |
STSS ohne Myositis/Fasziitis | GAS | (+) | +++ | ++ | Haut | +++ | Konservativ |
Staphlokokken-TSS | S. aureus | (+) | + | +++ | Haut | +++ | Konservativ |
Pathogenese und Risikofaktoren
Eintrittspforte für NSTI sind in gut 90 % aller Fälle Bagatellverletzungen, kleine Hautläsionen, die die Eintrittspforte der Erreger darstellen. Bei einem Großteil der Patienten ist die initiale Hautläsion nicht mehr feststellbar und auch dem Patienten oft nicht mehr erinnerlich. Nekrotisierende Weichgewebsinfektionen können auch bei gesunden Erwachsenen nach Bagatellverletzungen auftreten.
Die Hautläsion kann vom Wespenstich oder der kleinen Schürfwunde bis hin zu großflächigen Hautkontusionen oder -defekten beim
Polytrauma reichen. Dabei korreliert das Ausmaß der Hautläsion keineswegs mit der Schwere der NSTI. Lediglich beim
Gasbrand besteht nicht selten eine Korrelation zwischen dem Ausmaß der Verletzung bzw. des Gewebeschadens. Besonders gefährdet für Gasbrandinfektionen sind Polytraumapatienten mit stark verschmutzten Wunden und Patienten mit arterieller Verschlusskrankheit im Stadium IV.
Erregereintrittspforte und Ausgangspunkt einer
nekrotisierenden Fasziitis kann auch eine Injektionsstelle sein oder eine Operationswunde.
Eintrittspforten bei der Fournier-Gangrän sind neben Bagatellverletzungen nicht selten initial banale perianale Infektionen, entzündete periurethrale Drüsen oder eine Bartholinitis.
Diskutiert wird aus Einzelfallbeschreibungen, dass vorausgegangene virale Infektionen wie Herpes, Varizellen und auch Grippeviren dramatische Krankheitsverläufe begünstigen.
Erreger und Pathogenitätsfaktoren
Aus Sammelstatistiken im europäischen Raum lässt sich ableiten, dass gram-positive Keime (Staphylococcus aureus, Koagulase-negative
Staphylokokken,
Enterokokken und Streptococcus spp.) in etwa 60-70 % die auslösenden Erreger sind. Bei den gram-negativen Erregern werden am häufigsten
Pseudomonas aeruginosa,
Escherichia coli, Klebsiellen, Proteus und Acinetobacter nachgewiesen. Die Fournier-Gangrän ist eine polymikrobielle Infektion urogenitalen/analen Ursprungs, bei der in der Hälfte der Fälle auch mit Anaerobiern gerechnet werden muss. Der klassische Erreger der Gasbrandinfektion ist Clostrium perfringens, aber auch Clostridium septicum und Clostridium propionicum werden nachgewiesen.
Die wichtigsten Klassen von Pathogenitätsfaktoren sind: Adhäsine, Invasine, Agressine, Impidine und Moduline.
Diagnostik
Sowohl bei der
nekrotisierenden Fasziitis, als auch bei der Fournier-Gangrän und auch z. T. auch beim
Gasbrand (wenn die Nekroseareale nicht offen liegen) imponiert die Diskrepanz zwischen dem schweren septischen Krankheitsbild mit unverhältnismäßig starken
Schmerzen zu manchmal wenig imponierenden Hautveränderungen. Liegt ein solches Erscheinungsbild vor, ist an eine nekrotisierende Weichgewebsinfektion zu denken.
Leitsymptom ist der unverhältnismäßig starke
Schmerz bei unspektakulär imponierendem Hautbefund! Bei dieser Konstellation ist insbesondere bei tastbarem Emphysem an einen
Gasbrand zu denken.
Sonographisch findet sich bei der
nekrotisierenden Fasziitis ein Flüssigkeitssaum um die Faszien. Lufteinschlüsse und Flüssigkeitsverhalte lassen sich sonographisch, aber auch in der CT und MRT nachweisen. Um die genaue Ausdehnung von Infektion und Nekrosen der Infektion zu bestimmen, kann eine CT oder MRT sinnvoll sein. Die MRT ist am sensitivsten in der Bestimmung der Ausdehnung der Infektion. Die MRT wird aber aufgrund des Zeitaufwandes und der mangelnden Verfügbarkeit bei den schwerst septischen Intensivpatienten selten durchgeführt.
Bildgebende Verfahren sind selten erforderlich, zumal für die Indikation zur chirurgischen Intervention das klinische Bild bestimmend ist. Die frühzeitige Operation, die breite initiale Antibiotikatherapie und rasche Sepsistherapie bestimmen das Überleben des Patienten.
Therapie
Schwere nekrotisierende Haut-Weichgewebs-Infektionen erfordern die enge Zusammenarbeit zwischen dem
Intensivmediziner und dem Chirurgen.
Die frühestmögliche kausale chirurgische Therapie, die zielgerichtete Antibiotikatherapie und die supportive Therapie der schweren
Sepsis und des septischen Schocks (Kap. Sepsis) sind entscheidend für das Überleben des Patienten.
Die Erkrankungen im Einzelnen
Nekrotisierendes Erysipel
Das
Erysipel ist eine intradermale Infektion, die ausnahmslos durch
Streptokokken verursacht wird. In 5–10 % der Fälle kann sich aus dem Erysipel ein nekrotisierendes Erysipel entwickeln. Ursache dafür sind Stämme von Streptokokken, die Gewebe lysierende und nekrotisierende
Toxine bilden (Olivier
2001).
In Abhängigkeit von der Dauer der Erkrankung können nicht nur oberflächliche Schichten, sondern die gesamte Haut zerstört werden. Dann ist ein chirurgisches Débridement erforderlich, bei dem die Nekrosen abgetragen werden müssen. In einer Zweitoperation nach Erreichen von Infektfreiheit wird der Hautdefekt durch Spalthaut gedeckt. Ist die klinische Differenzierung zur
nekrotisierenden Fasziitis nicht möglich, ist eine Probeinzision sinnvoll. Bei der
nekrotisierenden Fasziitis infiltrieren die Nekrosen das Subkutangewebe und die Faszie bis an die Grenze zur Muskulatur.
Nekrotisierende Fasziitis
Die nekrotisierende Faziitis (NF) ist eine lebensbedrohliche Infektion, die in kurzer Frist von wenigen Stunden bis 2–3 Tagen abläuft. Morphologisch bilden sich Thromben in den Gefäßen, die die Faszie versorgen. Diese Thromben führen zur Nekrose der Faszie und sekundär zur Nekrose von Haut und Subkutangewebe.
Guiliano et al. (
1977) hat eine Differenzierung der NF in Typ 1 und Typ 2 vorgenommen.
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Beim
Typ 1 liegt eine polymikrobielle Infektion vor mit Beteiligung von grampositiven, gramnegativen und anaeroben Erregern. Am häufigsten lassen sich
Streptokokken, Enterobacteriaceae und Bacteroides spp. nachweisen.
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Beim
Typ 2 der
nekrotisierenden Fasziitis sind Streptokokken der Gruppe A (selten Gruppe B, C oder G) die auslösenden Erreger. Beim Typ 2 finden sich Verläufe von extremer Rasanz, bei denen das Ausmaß der Nekrosen im Zeitrahmen von wenigen Stunden rasch fortschreitet.
Polymikrobielle nekrotisierende Fasziitis Typ 1
Typische prädisponierende Faktoren sind
Diabetes mellitus,
Alkoholismus,
Adipositas und Drogenabusus. Am häufigsten tritt die Erkrankung im Bereich der unteren Extremität auf. Weitere Regionen sind die Bauchdecke, anorektal und postoperative Wunden. Im Prinzip kann jede Faszienstruktur des Körpers von einer
nekrotisierenden Fasziitis befallen werden. Häufige Sonderformen sind der Befall der perinealen und der Hodenfaszien (Fournier-Gangrän; unten), die retroperitoneale Fasziitis und die deszendierende, nekrotisierende Mediastinitis (DNM).
Entscheidend für die Diagnostik ist das klinische Bild. Leitsymptom ist der unverhältnismäßig starke
Schmerz. In frühen Stadien der Erkrankung finden sich oft nur fleckförmige livide Verfärbungen. Die befallene Region zeigt eine deutliche Schwellung, die Haut imponiert mit einem Erythem mit unscharfen Rändern, das im Laufe der Erkrankung in eine rote, purpurfarbene bis blau-graue Farbe übergeht. Im Endstadium zeigt sich eine schwarze Verfärbung der Haut. Aufgrund der Schwellung kann eine kutane Blasenbildung imponieren. In einzelnen Fällen lässt sich ein subkutanes Hautemphysem tasten. Im klinischen Bild zeigen sich die Sepsiskriterien mit erniedrigtem Blutdruck, Tachypnoe,
Fieber und Verwirrtheitszustand.
Ein natives Röntgenbild ist indiziert, um Gaseinschlüsse in den Geweben zu identifizieren. Eine weiterführende bildgebende Diagnostik sollte nur bei strenger Indikationsstellung vorgenommen werden, beispielsweise bei einer Fournier-Gangrän mit Verdacht auf eine intraabdominelle Beteiligung.
Bei eindeutiger Klinik sollte ohne Zeitverzug operiert werden. Wesentlicher Part der chirurgischen Intervention ist das vollständige Débridement aller nekrotisierenden Gewebsanteile.
Nach der Inzision über dem betroffenen Hautareal zeigt sich ein dunkles, grau verfärbtes Subkutangewebe als Zeichen der Nekrose. Suprafaszial imponiert ein trüb wässriges Ödem, das im amerikanischen Schrifttum als „dish water pus“ bezeichnet wird (Wong und Wang
2005).
Während bei der
nekrotisierenden Fasziitis Typ 2 kein auffälliger Geruch besteht, kann bei der NF Typ 1, v. a. bei der Fournier-Gangrän, ein übler, fauliger Geruch begleitend sein. An der Faszie zeigen sich zumeist thrombosierte Gefäße, die beweisend für die Erkrankung sind. Die nekrotische Faszie lässt sich dann problemlos und ohne Blutverlust abpräparieren. Die Muskulatur ist nicht betroffen.
Anaerobe Myonekrose („Gasbrand“)
Weinstein und Barza (
1973) hat die Gasbrandinfektion klassifiziert. Es lassen sich 3 klinische Formen (Stadien) unterscheiden:
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Das Stadium 1 („simple contamination“) zeigt eine oberflächliche Wunde mit einem grün-schwärzlichen Wundbelag. Da tiefere Schichten nicht involviert sind, besteht die Behandlung in einem operativen Débridement, eine Säuberung der Wunde und in einer offenen Wundbehandlung.
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Das
Stadium 2 ist die anaerobe
Zellulitis: Es handelt sich um eine Clostridiuminfektion, die sich lediglich im Subkutangewebe ausbreitet. Klinisch zeigt sich eine schmutzig stinkende Wunde. In der Röntgenübersicht ist eine Gasbildung auszumachen, die jedoch strikt auf das Subkutangewebe beschränkt ist. In diesem Stadium ist eine therapeutische Freilegung des Subkutangewebes notwendig. Wichtig ist die Abgrenzung der Muskulatur, die keinesfalls von der Infektion befallen sein darf.
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Das
Stadium 3 ist die schwerste Erkrankungsform. Dabei handelt es sich um den eigentlichen
Gasbrand, eine Infektion der quergestreiften Muskulatur. Auslösender Erreger ist zumeist Clostridium perfringens, in seltenen Fällen auch Clostridium septicum. Die Inkubationszeit ist kurz und beträgt zwischen 6 und 48 h. Die Gasbranderkrankung ist selten. In der Bundesrepublik liegt die Inzidenz pro Jahr zwischen 60 und 120 Erkrankungsfällen (
meldepflichtige Erkrankung). Zumeist sind 2 Gruppen betroffen: einerseits handelt es sich um junge Patienten nach schweren Verkehrsunfällen mit starken Verschmutzungen der Wunde, das zweite Kollektiv sind ältere Patienten mit
Diabetes mellitus und arterieller Verschlusskrankheit und chronischen offenen verschmutzten Wunden.
Die Diagnose der Gasbrandinfektion ist klinisch zu stellen: Aufgrund der aufgetriebenen Muskulatur und der Lufteinschlüsse ist die befallene Extremität aufgetrieben, gar balloniert. Es besteht ein stechender aasiger Gestank, der unverwechselbar ist. In der Röntgenaufnahme findet sich die typische Fiederung der Muskulatur, die durch die Gasbildung in den Septen der Muskulatur hervorgerufen wird. Da das β-Toxin von Clostridium perfringens stark zytolytisch ist, bildet sich kein Eiter.
Die Therapie der Myonekrose ist chirurgisch (Kujath et al.
2007). Notwendig ist eine Inspektion der Muskulatur. Bei Unsicherheit der Diagnose kann ein mikrobiologischer Nachweis von Clostridien oder im Nachgang der histologische Befund die Erkrankung bestätigen. Die Konsistenz der Muskulatur ist bräunlich zerfließlich. Die Muskulatur blutet nicht und ist auf elektrischen Reiz nicht stimulierbar. Auf Druck lassen sich aus der Muskulatur Blutblasen abscheiden.
Ist die Muskulatur vollständig befallen, so ist die sofortige Ablation der gesamten Gliedmaße, am besten die Exartikulation, notwendig und die einzig lebensrettende Maßnahme.
Streptokokkenmyositis
Das Auftreten der Streptokokkenmyositis ist extrem selten. Die Schätzung der Häufigkeit im Verhältnis zur
nekrotisierenden Fasziitis Typ 2 beträgt 1:10 (Bisno und Stevens
1996).
Auslösend für die Erkrankung sind meist Bagatellverletzungen und chirurgische Eingriffe. Überwiegend sind gesunde Personen ohne klinische auffällige Reduktion des
Immunstatus betroffen. Auch bei der Streptokokkenmyositis ist der häufigste Manifestationsort die untere Extremität. Im Gegensatz zur NF ist bei der Streptokokkenmyositis der Schmerzcharakter eher dumpf und betrifft die gesamte Extremität. Im CT ist eine Strukturauflösung der gesamten Muskulatur nachweisbar. Beweisend ist der extreme Anstieg des Serummyoglobins und der Kreatininkinase als Ausdruck der Myonekrose. Das klinische Bild ähnelt einem Kompartmentsyndrom, das durch die ödematöse Schwellung verursacht wird. Auffallend ist die kalte Extremität.
Die Prognose ist schlecht, man muss mit einer Letalität zwischen 70 und 100 % rechnen (Kujath et al.
2002).
Auch in diesem Fall ist bei den Patienten eine umgehende Probefreilegung der Muskulatur für die definitive Diagnosesicherung notwendig. Die Muskulatur ist bläulich-schwarz verfärbt, jedoch nicht so zerfließlich wie bei der Gasbrandinfektion, und es fehlt der üble Geruch. Ist die gesamte Muskulatur betroffen, lässt sich eine hohe Amputation bzw. Exartikulation nicht umgehen. Nur in sehr begrenzten frühen Stadien kann eine lokale Exzision erfolgversprechend sein. Die antibiotische Behandlung ist konform der
nekrotisierenden Fasziitis.
Polymikrobielle nekrotisierende Weichgewebsinfektion
Bei diesen Infektionen handelt es sich um
Mischinfektionen, bei denen die
Toxine unterschiedlicher Keimspezies synergistisch pathogen wirken. Oft sind Anaerobier beteiligt. Häufige Manifestationsformen sind
postoperative Wundinfektionen, zumeist nach intraabdominellen Infektionen, oder schwere infizierte Dekubitalulzera. Auch fortgeschrittene Stadien des diabetischen Fußsyndroms müssen zu dieser Erkrankungsform gerechnet werden.
Immer dann, wenn eine begleitende systemische
SIRS/
Sepsis auftritt, ist eine unverzügliche chirurgische Maßnahme indiziert. Konform zu den anderen nekrotisierenden Haut-Weichgewebs-Infektionen muss in diesen Fällen ebenfalls eine sorgfältige Exzision der nekrotischen Anteile vorgenommen werden. Bei Patienten mit einem diabetischen Fußsyndrom sind es individuelle Entscheidungen, ob eine Amputation vorgenommen werden muss („life before limb“).