Dysmorphien (Abb.
2) sind metrische Abweichungen normaler Strukturen. Man hat sie mehr oder weniger. Beispiele sind auffällig kleine oder große Ohrmuscheln, ein weiter Augenabstand, ein wenig strukturiertes Philtrum, auffällig schmale Lippen oder kleine Finger- und Zehennägel. Wie in der gesamten Medizin ist dabei zu beachten, dass metrische Abweichung nicht per se pathologisch sind, selbst dann, wenn sie jenseits (willkürlich definierter) statistischer Grenzen (+2SD und -2SD bzw. 3. Perzentile und 97. Perzentile) liegen. Jede
Normalverteilung schließt Extremwerte ein. Die 3 Kleinsten von 100 gleichaltrigen, normalwüchsigen Kindern haben eine Körpergröße unter der 3. Perzentile, die drei größten eine solche jenseits der 97. Perzentile. Der Hypertelorismus (
Messwert der Interpupillardistanz >+2SD) einer gesunden Person ist oft nur ein faziales, gar nicht selten als attraktiv empfundenes Merkmal und hat nicht die Bedeutung eines medizinischen Symptoms. Auf der anderen Seite sind die engen Lidspalten („kleine Augen“), das strukturarme Philtrum und das fast fehlende Lippenrot eines schon pränatal hypoplastischen Kindes einer alkoholkranken Mutter sehr wahrscheinlich multiple Dysmorphien und Symptome des embryo-fetalen Alkoholsyndroms. Zur Objektivierung einer metrischen Besonderheit sind Messungen definierter Abschnitte (z. B. Interpupillardistanz; Lidspaltenlänge; Philtrumlänge oder Ohrlänge) mit adäquater Interpretation dieser Messwerte nützlich (Gripp et al.
2013). Weiterhelfen kann auch der Vergleich mit anderen Familienangehörigen. Nicht ausgeschlossen ist dabei, dass das besondere Aussehen mehrerer Familienangehöriger auch Ausdruck einer gemeinsamen Entwicklungsstörung sein kann. Die Differenzierung von nur „auffällig“ aber normal und anormal und pathologisch ist dann – wie generell – Teil der ärztlichen Kunst.