Erschienen in:
01.02.2020 | Leitthema
Männer ohne Vergangenheit? (Ehren-)Vorsitzende der DGN nach 1957 und ihre NS-Belastung
verfasst von:
Michael Martin, Axel Karenberg, Prof. Dr. med. Heiner Fangerau
Erschienen in:
Der Nervenarzt
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Sonderheft 1/2020
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Zusammenfassung
Im vorliegenden Beitrag werden die Lebenswege sechs deutscher Neurologen während und unmittelbar nach dem „Dritten Reich“ rekonstruiert. Fünf von ihnen bekleideten zwischen 1957 und 1976 das Amt des Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), der sechste wurde 1981 zum Ehrenvorsitzenden ernannt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie als junge Ärzte zwischen dem 20. und 35. Lebensjahr in die NSDAP oder SA eintraten und somit nach jetzigem Forschungsstand als formal belastet gelten, aber keine nennenswerten (gesundheits-)politischen Aktivitäten entfalteten. Eine gewisse Ausnahme bildet Eberhard Bay (1908–1989), der mindestens einmal als Gutachter zu einem Erbgesundheitsgerichtsprozess hinzugezogen wurde. Gustav Döhring (1909–1963), NSDAP-Mitglied seit 1937, Pette-Schüler und Mitbegründer der DGN, wirkte über viele Jahre als Schriftführer der Gesellschaft und Herausgeber einer Festschrift. Johannes Hirschmann (1910–1991), ebenfalls Parteigenosse seit 1937, diente von 1939 bis 1945 als Truppen- und Lazarettarzt und gehört zu den wenigen, die ihre „kriegsneurologischen“ Erfahrungen publizierten. Richard Jung (1911–1986) war 1934 in die SA eingetreten und wurde deshalb unmittelbar nach dem Krieg von der Universität Freiburg entlassen, konnte aber mithilfe des Dekans kurz darauf seine Karriere fortsetzen. Robert Charles Behrend (1919–1996) wurde im Alter von 20 Jahren Parteimitglied und ist mit der Amtszeit 1975 bis 1976 der letzte in der Reihe der Nachkriegspräsidenten der DGN, die eine Verbindung zum Nationalsozialismus aufweisen. Deutlich älter als diese fünf war der DGN-Ehrenvorsitzende Gustav Bodechtel (1899–1983), Mitglied der SA, der NSDAP und weiterer NS-Organisationen. Seit 1938 in Düsseldorf tätig, wurde er 1946 entlassen, jedoch fünf Monate später aufgrund von Interventionen der Medizinischen Akademie und des Bürgermeisters wieder eingestellt. Neue Erkenntnisse zu diesen Persönlichkeiten beruhen ausschließlich auf archivalischen Recherchen und unterstreichen die Notwendigkeit, bislang ungenutzte Quellen für die fachgeschichtlich-biographische Forschung einzusetzen.