Erschienen in:
01.03.2009 | Übersichten
Weinen, ein Bindungsverhalten
verfasst von:
Dr. phil. Dipl.-Psych. Karin Grossmann
Erschienen in:
Die Psychotherapie
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Ausgabe 2/2009
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Zusammenfassung
Weinen ist – unabhängig vom Alter des Weinenden – ein Bindungsverhalten eines (momentan) Schwächeren, der ein Erlebnis nicht allein bewältigen kann. Weinen aus Angst, Ärger und Trauer ist zugleich Ausdruck der Hilflosigkeit und Appell an andere, zu trösten und zu helfen. Weinen eröffnet die Chance, Verbundenheit zu zeigen. Ein besorgter anderer, der sich momentan stärker fühlt und das Weinen hört oder sieht, fühlt üblicherweise den Impuls, den Weinenden zu trösten und fürsorglich zu sein. Das Weinen des Neugeborenen drückt dessen Angst aus, verlassen und damit nicht geschützt und nicht versorgt zu werden, also sterben zu müssen. Mit der wachsenden Erfahrung, wie auf sein Weinen reagiert wird, lernt der Säugling schnell, mit welchem Verhalten er seine schützende Bindungsperson in seine Nähe rufen kann. Weinen wird schon gegen Ende des ersten Lebensjahres mit den Erwartungen anderer, besonders der Bindungspersonen, in Übereinstimmung gebracht. Ob ein Kind oder ein Erwachsener einer Situation angemessen weint, überraschenderweise nicht weint oder übertrieben dramatisch weint, hängt stark von den Erfahrungen ab, die die Person in ihren Bindungsbeziehungen mit ihrem Weinen gemacht hat. Ebenso, wie effektiv sich der Weinende trösten lässt und ob sich der andere Stärkere überhaupt kümmern möchte, wird von den Erfahrungen beeinflusst, die jeder von beiden mit Weinen und Trösten in den bisherigen Bindungen gemacht hat. Waren diese beruhigend, können die Personen auch als Erwachsene weinen oder fürsorglich trösten. Wenn aber ein Weinen zurückliegende schmerzliche Erfahrungen von Zurückweisung noch verstärkt, wird es dem Erwachsenen schwer fallen, tröstliches, verbindendes Verhalten eines anderen zu wünschen, zu akzeptieren oder es einem Weinenden zu geben.