Problemstellung
Das vorgegebene Thema „Forensik in der Geburtshilfe“ hat sicherlich seine rechts- und medizinpraktische Bedeutung, worauf auch näher einzugehen sein wird. In gewisser Weise greift es zugrunde liegenden Problemstellungen – diese übergehend – voraus, indem es ohne Weiteres eine gerade zu vermeidende Situation, nämlich dass sich Ärztin oder Arzt vor dem (gerichtlichen) „Forum“ wiederfinden, anspricht. So ist für Ärztinnen und Ärzte, insbesondere auch Geburtshelfer, selbstverständlich ein „forensisches Risiko
“, also die Gefahr, in die Mühlen der Justiz zu geraten, zu konstatieren. Dies gilt im Hinblick auf zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit.
1 Dazu liegt zwar kein zusammenfassendes – die absoluten Gegebenheiten widerspiegelndes – statistisches Zahlenmaterial vor, jedoch muss festgestellt werden, dass sich die Zahl jährlich anhängiger Strafverfahren und – mehr noch – Zivilverfahren sowie auch in Deutschland Verfahren vor ärztlichen Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen sowie Landes-Patientenanwaltschaften in Österreich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich erhöht haben. Dabei ist die Geburtshilfe – soweit nachvollziehbar – von entsprechend erhobenem und ausgewertetem Fallmaterial zu Behandlungsfehlervorwürfen nicht signifikant quantitativ betroffen.
2 Jedoch darf nicht vernachlässigt werden, dass sog. Geburtsschäden durch enorme Schadenssummen – auch in Höhe mehrerer Millionen Euro – charakterisiert sein können. Infolgedessen ist das Haftpflichtprämienniveau in den vergangenen Jahren eklatant gestiegen, und sollen zwischenzeitlich nur noch wenige Versicherungsunternehmen bereit sein, Geburtshilfe versicherungsvertraglich zu decken.
Nun ist jegliche ärztliche Berufsausübung schon im Allgemeinen durch Risikoaffinität in der Relation von Behandlungsausübung und Behandlungserfolg im Hinblick auf Komplikationen, Nebenfolgen oder gar einen Misserfolg aller Bemühungen charakterisiert. Dies resultiert nicht zuletzt aus der „Eigengesetzlichkeit und weitgehenden Undurchschaubarkeit des lebenden Organismus“, wie auch die höchstrichterliche Rechtsprechung nach wie vor anerkennt.
3 Infolgedessen kann ärztliche Behandlung auch mit keiner „Erfolgsgarantie“ verbunden sein. Dabei ist nicht zuletzt gerade auch für die Geburtshilfe zu veranschlagen, dass vielfach schnellste Entschlüsse gefasst werden müssen, Erfolg und Misserfolg meist unmittelbar und für jedermann sichtbar in Erscheinung treten und dabei ein menschliches Versagen, ein Irrtum, nur ein Zögern schwerwiegende, oft irreparable Konsequenzen haben können.
4 Diese Behandlungsrisikoaffinität korreliert mit dem beschriebenen forensischen Risiko, welches sich zunehmend entwickelt und manifestiert hat.
Mag eine über die Jahre verstetigte Verrechtlichung der Medizin zu beklagten sein,
5 wozu u. a. auch die kaskadenartig quantitativ expandierende Judikatur mit daraus qualitativ resultierender Erweiterung und Verfeinerung medizinrechtlicher Dogmatik beigetragen hat, liegt das forensische Risiko
für Ärztinnen und Ärzte im Ausgangspunkt in der Tatsache begründet, dass ihre Berufsausübung in Deutschland sowie auch Österreich rechtssystematisch überhaupt zu zivilrechtlicher Haftung und strafrechtlicher Sanktion führen kann.
6 Dies ist einerseits hinzunehmen, wobei bzw. weshalb sich andererseits gerade die Frage stellt, wie sich das gegebene Haftungs- und Strafbarkeitsrisiko reduzieren lässt.
Die oben angegebene forensische Fallzahlentwicklung belegt, dass eine Praktizierung sog. „defensiver Medizin“ kaum hilfreich ist. Solches Agieren hat Laufs bereits 1986 erkannt und wie folgt beschrieben:
„Die Verrechtlichung seiner Kunst lässt den Arzt neben den Risiken, die der Patient mitbringt und die diesem bei der Diagnose oder Therapie drohen, auch die eigenen forensischen Gefahren bedenken und als indizierende wie kontraindizierende Faktoren ins Kalkül ziehen. Aus der verrechtlichten droht eine defensive Medizin zu werden, die aus Scheu vor der Klage zu viel untersucht oder zu wenig an Eingriff wagt“.
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Defensive Medizin kann sich allerdings auch als ein „Zuviel“ an Eingriffen darstellen, wie z. B. der schon seinerzeitigen Zunahme an Sectioentbindungen zur Vermeidung denkbar komplikativer Vaginalentbindungen auch zu entnehmen sein dürfte.
8 Ist nachvollziehbar, dass Ärztinnen und Ärzte vermittels „juristischer Indikationsstellung“ versuchen, forensische Risiken zu umgehen bzw. zu minimieren, kann solches – im Eigentlichen nicht indikationsgerechtes – Behandlungsverhalten infolge „Scheu vor der Klage“ und nur der eigenen Absicherung dienend letztlich keine Rechtfertigung finden.
Tatsächlich verhält es sich doch so, dass alle ärztlichen Bemühungen auf das „Wohl des Patienten“ bzw. der Patientin ausgerichtet sein müssen. Basale Voraussetzung dafür, dieses Ziel zu erreichen, ist eine adäquate fachliche Qualifikation der Behandelnden. Dies impliziert z. B. die Kenntnis je aktuellen medizinischen Standards hinsichtlich Diagnostik und Therapie in der Geburtshilfe. Dazu gehört auch die permanente Fortbildung, um insoweit statthabende Diskussionen und Entwicklungen zur Kenntnis nehmen und in die Praxis umsetzen zu können (z. B. betreffend ein
Screening auf Präeklampsie und CMV (Cytomegalovirus)-Infektionen in der Schwangerschaft).
Allerdings unterliegt das Behandlungsagieren auch – im Weiteren näher darzulegenden – rechtlichen Maßgaben und Anforderungen, welche jeder Ärztin und jedem Arzt bekannt und stets bewusst sein müssen. Beispielsweise berühren strafrechtliche Kategorien, welche immer wieder den Prüfungsmaßstab sog. Kunstfehlerprozesse bilden, ohnehin fundamental die Frage nach dem „Sollen“ der Rechtssubjekte im Zusammenhang mit bestimmten Lebenssachverhalten. So verstandenes „Sollen“ impliziert auch das „Dürfen“ und „Können“ aufgrund entsprechender Erlaubnis und Ermächtigung.
9 Diese Kriterien werden gerade bei der Ausübung von Heilkunde sehr anschaulich deutlich: Geht es doch zum einen um die Verpflichtung, dem Patienten sorgfaltspflichtgerecht eine Behandlung lege artis zu vermitteln, was zum anderen grundsätzlich nur im Rahmen entsprechender
Einwilligung nach adäquater Aufklärung erfolgen darf. Somit stellt sich auch im Zusammenhang mit der geburtshilflichen Behandlung von Patientinnen die Frage, wie sich das ärztliche „Sollen“ rechtlich gestaltet,
10 was im Weiteren nähere Darlegung findet. Allerdings betrifft dies nicht nur das individuelle Agieren von Ärztinnen und Ärzten, sondern auch das kooperative und zu koordinierende Zusammenwirken mit anderen Medizinalpersonen im Rahmen horizontaler und vertikaler Arbeitsteilung (etwa fachgebietsübergreifend mit Anästhesisten, Pädiatern und Neonatologen sowie Hebammen und auch Pflegekräften). Dergestalt vollzieht sich das Agieren aller Beteiligten im Rahmen mehr oder weniger komplexer Behandlungsstrukturen, was vor allem – aber nicht nur – für Kliniken gilt. Mithin ist auch sicherzustellen, dass sich die individuelle fachliche Qualifikation aller am Behandlungsprozess Beteiligten verwirklichen
kann, wozu es einer adäquaten Organisation bedarf. Letztlich erfordert es zur Erzielung einer möglichst positiven
Ergebnisqualität der Etablierung dafür erforderlicher Struktur- und
Prozessqualität.
Das Erfordernis zur Gewährleistung einer adäquaten Behandlungsorganisation hat sogar normative Absicherung gefunden. So sind in Deutschland gemäß § 135a Abs. 2 Nr. 2 SGB (Sozialgesetzbuch) V die Leistungserbringer verpflichtet, einrichtungsintern ein
Qualitätsmanagement einzuführen und weiter zu entwickeln. Im Ergebnis Entsprechendes gilt in Österreich für alle in Gesundheitsberufen Tätigen gemäß Gesundheitsqualitätsgesetz aus dem Jahr 2004.
Im Rahmen der Methode „Qualitätsmanagement“ muss als ein Instrument jedenfalls auch ein adäquates „Risikomanagement“ etabliert sein, was insbesondere für die Geburtshilfe gilt. Denn vermittels dieses Instruments lassen sich – gerade auch aus rechtlicher Sicht – risikobegründende und -erhöhende Faktoren identifizieren und eliminieren, was zur Optimierung der Struktur- und
Prozessqualität führt, woraus wiederum eine Verbesserung der
Ergebnisqualität resultieren kann. Dies dient dem „Wohl des Patienten“, im Bereich der Geburtshilfe also Mutter und Kind, impliziert idealiter eine Schadensreduktion und senkt somit letztlich das forensische Risiko
. Damit kommt dem Prinzip „salus aegroti suprema lex“ (die Sicherheit des Patienten ist das oberste Gesetz) unter aktuellen Gegebenheiten und Anforderungen weitergehende Bedeutung zu.
In diesem Sinne haben die nachfolgenden Ausführungen das Ziel, aus rechtlicher Sicht „Risikokontrollpunkte“ sowohl für das individuelle als auch für ein kooperatives Behandlungsagieren zu markieren.
Als „Seitenstücke“ finden „Grundlagen der medizinischen Begutachtung“, welche für gerichtliche Entscheidungen sowie auch im Rahmen staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen grundsätzlich unabdingbar sind, und praktische Hinweise für das Verhalten nach einem Zwischenfall bzw. zu einem „Juristischen Zwischenfallmanagement“, womit forensische Auseinandersetzungen gerade vermieden bzw. zweckmäßig bewältigt werden sollen, Darlegung.
Grundlagen der medizinischen Begutachtung in Zivil- und Strafverfahren
Wie bereits ausgeführt (vgl. Abschn.
2.2.3) ist sowohl im Arzthaftungs- als auch im Arztstrafprozess betreffend den Vorwurf fehlerhafter Behandlung nach medizinischen Kriterien die rechtliche Frage zu beantworten, ob die Ärztin bzw. der Arzt ihrer/seiner berufsspezifischen Sorgfaltspflicht
gerecht geworden ist. An dieser
Schnittstelle zwischen Medizin und Recht kommt der medizinische Sachverständige „ins Spiel“. Denn der Richter muss „den berufsfachlichen Sorgfaltsmaßstab mit Hilfe eines medizinischen Sachverständigen
ermitteln. Er darf medizinischen Standard nicht ohne Sachverständigengrundlage allein aus eigener rechtlicher Beurteilung heraus festlegen“.
90 Entsprechendes gilt auch für einen Staatsanwalt bei der vorzunehmenden Würdigung im Hinblick auf die Abschlussverfügung im strafrechtlichen Ermittlungs- bzw. Vorverfahren („Verfahrenseinstellung versus Anklageerhebung“). Insofern geht es konkret darum, dass der Sachverständige z. B. den in der fraglichen Behandlungssituation einzuhaltenden Standard beschreibt, damit auf dieser Grundlage rechtlich beurteilt werden kann, ob eine Sorgfaltspflichtverletzung festzustellen ist oder nicht. Im Behandlungszusammenhang ist genau damit die forensische Funktion des medizinischen Sachverständigen im Kern beschrieben.
Vor diesem Hintergrund wird der Sachverständige oftmals als „Gehilfe des Gerichts“ apostrophiert, was zu dessen Missverständnis seiner eigenen Funktion führen kann. Denn der Sachverständige sitzt gerade nicht „im Boot“ von Gericht und/oder Staatsanwaltschaft. Tatsächlich ist der Sachverständige „Beweismittel“, wie z. B. ein Zeuge. So ordnet § 402 ZPO (Zivilprozessordnung) Folgendes an: „Für den Beweis durch Sachverständige gelten die Vorschriften über den Beweis durch Zeugen entsprechend, insoweit nicht in den nachfolgenden Paragraphen abweichende Vorschriften enthalten sind“ (vgl. strafrechtlich entsprechend § 72 StPO (Strafprozessordnung)).
Dabei verhält es sich faktisch so, dass die vom Gericht zu beurteilende Rechtsfrage zur etwaigen Sorgfaltspflichtverletzung im Kern vom Sachverständigen durch die Darlegung einzuhaltenden Standards beantwortet wird. Denn einerseits fehlen dem Richter die nötigen Fachkenntnisse und andererseits ist nur der Sachverständige aufgrund seiner wissenschaftlichen Qualifikation und praktischen Erfahrung in der Lage, den Inhalt des Standards samt der (Nicht-)Einhaltung beim fraglichen Behandlungsgeschehen zu beschreiben. Der Richter bleibt zwar verpflichtet, das Gutachten selbstständig und kritisch auf seine Überzeugungskraft zu prüfen, doch läuft dies praktisch auf eine bloße „Plausibilitätskontrolle“ hinaus. „Die Folge ist, dass der Richter die Verantwortung für Entscheidungen trägt, die in Wirklichkeit ein anderer, nämlich der Sachverständige produziert hat“.
91 Dergestalt erhellt, dass dem Sachverständigen – jenseits der ohnehin basal bestehenden Verpflichtung zu strikter Objektivität und Neutralität – eine besonders hohe Verantwortung für die sachliche Richtigkeit seiner Ausführungen zukommt. Dieser Verantwortung kann er nur gerecht werden, wenn er seine aus gesetzlichen Anordnungen und allgemeinen Grundsätzen resultierenden Rechte und Pflichten bei der Ausübung seiner Tätigkeit kennt und beachtet.
Aufgaben des Sachverständigen
Generell ist zu fordern, dass ein Gutachten „auf detaillierter Kenntnis des Gegenstandes, exakten Untersuchungsergebnissen (und) umfassendem Wissen von den derzeitig anerkannten wissenschaftlichen Fakten beruht“.
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Aufgaben des Sachverständigen sind insbesondere:
-
die Vermittlung von Erfahrungssätzen auf seinem speziellen Wissensgebiet,
-
die aus eigener Sachkunde resultierende Feststellung von Tatsachen und
-
die Beurteilung von Tatsachen auf der Grundlage aus seinem Wissen und seiner Sachkunde resultierender Erfahrungssätze.
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Bindung an den Begutachtungsauftrag
Die Tätigkeit des Sachverständigen beruht auf dem ihm erteilten Auftrag. Ist dieser unpräzise oder unklar, muss der Gutachter darauf drängen, dass das Beweisthema exakter bzw. verständlich und klar gefasst wird.
Im Strafverfahren ist der Begutachtungsauftrag immer umfassend zu verstehen, d. h. alle in Betracht kommenden
Behandlungsfehler sind zu prüfen, selbst wenn nur eine ganz konkrete Frage (z. B. nach der Indikation eines Eingriffs) gestellt wird. Erkennt der Gutachter, dass das Beweisthema zu eng gefasst ist (z. B. der Fehler nicht bei der Indikation, sondern in der Durchführung des Eingriffs liegt), muss er dies in seinen Ausführungen deutlich machen und auf die eigentlich entscheidenden Probleme eingehen.
Im Zivilprozess, der nach Maßgabe der sog. Dispositionsmaxime vom wechselseitigen Parteivorbringen „lebt“, ist dagegen die Bindung an das vorgegebene Beweisthema stärker. Hier darf der Sachverständige vom ihm erteilten Auftrag nur abweichen, wenn sich dies aufgrund konkreter Anhaltspunkte förmlich aufdrängt.
94 Dies bedeutet z. B.: Fragt das Gericht nur nach der Art und Weise der Durchführung des Eingriffs, nicht aber danach, ob dieser als solcher überhaupt medizinisch indiziert war, so hat der Gutachter das nicht sachverständige Gericht darauf hinzuweisen, dass die fragliche ärztliche Handlung schon an sich verfehlt oder bedenklich war. Der Gutachter würde jedoch über das Ziel hinausschießen, wenn er auf die Frage nach
Behandlungsfehlern in seinem Gutachten auch zur Frage der Aufklärung Stellung nimmt, obwohl etwa der klagende Patient hierzu nichts vorgetragen hat. Ein Befangenheitsantrag der Gegenseite kann die Folge sein.
Verpflichtung zur Unparteilichkeit
Der Sachverständige muss sein Gutachten streng objektiv, ausschließlich sachbezogen und in jeder Hinsicht vorurteilsfrei erstatten. Anderenfalls kann er wegen „Besorgnis der Befangenheit“ abgelehnt werden, wobei schon der Eindruck der Parteilichkeit aus der Sicht eines verständigen Prozessbeteiligten genügt. Wiederholt hat der Bundesgerichtshof betont, dass der medizinische Gutachter seinen beklagten „Kollegen“ nicht aus falscher „Standessolidarität“ schützen darf. Objektivität geht stets vor Standessolidarität, allerdings auch – wie man heute betonen muss – vor Rivalität, da in der Praxis gar nicht so selten Gutachter auftreten, die dem beklagten oder beschuldigten Arzt besonders kritisch, ja sogar voreingenommen gegenüberstehen und nur „patientenfreundliche“ Gutachten erstatten.
Die Verpflichtung zur Unparteilichkeit gilt auch für das sog. Privat- oder Parteigutachten, das der Sachverständige im Auftrag des Beschuldigten bzw. seines Verteidigers oder einer Prozesspartei erstattet. Ein „parteiisches, geschöntes Gefälligkeitsgutachten“ schadet nur dem Ruf des Gutachters, nützt aber in Wirklichkeit niemandem, da seine Schwächen rasch erkannt werden und es damit ohne Beweiswert ist.
Das Gebot der Unparteilichkeit zwingt den Sachverständigen bei Lücken in den tatsächlichen Feststellungen oder divergierenden Zeugenaussagen, sein Gutachten alternativ, entsprechend den verschiedenen Möglichkeiten der Beweiswürdigung, aufzubauen. Unklarheiten, Mängel und Widersprüche darf er nicht durch Unterstellungen und Annahmen zugunsten oder ungunsten einer Partei beseitigen, vielmehr muss er sie offenlegen. Leider liest man jedoch im Gegenteil immer wieder in Gutachten von bloßen Vermutungen, Spekulationen und Verdächtigungen, für die in einem wissenschaftlichen Gutachten kein Raum ist.
Stellenwert des schriftlichen Gutachtens
Üblicherweise hat der Sachverständige sowohl im Zivilprozess als auch im Strafverfahren (zunächst als staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren) ein schriftliches Gutachten vorzulegen. Im Zivilprozess muss er dieses Gutachten in aller Regel auf gerichtliche Anordnung in einem Gerichtstermin mündlich erläutern (§ 411 Abs. 3 ZPO), was im Wesentlichen aus Fragen und Vorhalten seitens Gericht und Parteien resultiert. Demgegenüber hat der Sachverständige im Strafprozess sein Gutachten entsprechend dem dort geltenden Mündlichkeits- und Unmittelbarkeitsprinzip in der Hauptverhandlung (auf der Grundlage bzw. anhand des schriftlichen Gutachtens) persönlich zu erstatten. Dabei besteht keine Bindung an vorgängige schriftliche Ausführungen, sodass der Sachverständige bei Kenntnisnahme neuer Tatsachen oder neuer Argumente verpflichtet ist, seine zunächst schriftlich abgefasste Auffassung zu revidieren. Dies mag manchmal nicht leicht fallen, muss aber von einem pflichtbewussten Gutachter ebenso verlangt werden wie das Eingeständnis eines eventuell unterlaufenen sachlichen Fehlers oder Irrtums.
Rechtliche Wertungen
Die rechtliche Würdigung des Sachverhalts ist ausschließlich Aufgabe des Richters. Der Sachverständige muss sich daher davor hüten, rechtliche Wertungen vorzunehmen, selbst wenn er unzulässigerweise etwa gefragt wird, ob ein Verhalten „grob fahrlässig“, „schuldhaft“ oder gar „strafbar“ sei. Bedauerlicherweise verleiten oftmals Richter, Staatsanwälte oder Rechtsanwälte den Gutachter durch ihre Fragestellung zu „Rechtsausführungen“ – z. B. zur Qualifizierung eines
Behandlungsfehlers als „grob“ – obwohl der Sachverständige damit seine Kompetenz überschreitet. Denn der Terminus „grober Behandlungsfehler
“ ist ein zivilrechtlicher Rechtsbegriff, der der Beweiswürdigung des Gerichts unterliegt, wozu der Sachverständige auf Frage lediglich etwaige Beurteilungskriterien mitzuteilen hat.
In Österreich gibt es den Rechtsbegriff „grober Behandlungsfehler“ nicht, der ganze Bereich wird durch den § 1299 ABGB abgedeckt. Bei konkreten Fragen z. B. der klagenden Partei, ob eine bestimmte Handlung des Beklagten einen „groben Behandlungsfehler“ darstelle, muss der Sachverständige darauf hinweisen, dass es diesen in Österreich nicht gibt und er auch in Deutschland Sache der richterlichen Beweiswürdigung ist.
Berücksichtigung unterschiedlicher medizinischer Standards
Vom Arzt wird weder die „größtmögliche“ Sorgfalt noch ein „Maximalstandard“ verlangt, wie er vielleicht an Universitätskliniken und Spezialkrankenhäusern den Patienten geboten wird. Deshalb dürfen Gutachter, zumal wenn sie aus dem Kreis der sog. Koryphäen kommen, nicht unbesehen die Maßstäbe und Möglichkeiten ihrer Häuser zugrunde legen, sondern müssen die Anforderungen „an den für diesen Patienten in dieser Situation faktisch erreichbaren Gegebenheiten ausrichten, sofern auch mit ihnen ein zwar nicht optimaler, aber noch ausreichender medizinischer Standard erreicht werden kann“.
95 Ein spezifischer Facharzt schuldet eben ein anderes Maß an Sorgfalt als der Arzt für Allgemeinmedizin, und entsprechende Unterschiede sind auch zwischen dem klinisch tätigen und dem niedergelassenen Arzt und wohl auch zwischen einem kleineren kommunalen Krankenhaus einerseits und einer Universitäts- oder Spezialklinik andererseits zu machen. „In Grenzen ist deshalb der zu fordernde medizinische Standard je nach den personellen und sachlichen Möglichkeiten verschieden“.
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Beurteilungszeitpunkt
Die Frage des fachärztlichen Standards ist stets aus der Sicht ex ante zu beurteilen, sodass sich der Sachverständige bei der Begutachtung räumlich, zeitlich und sachlich in den Behandlungszeitpunkt zurückversetzen muss. Konkret ist also zu prüfen, wie sich ein gewissenhafter, erfahrener Geburtshelfer in gleicher Situation, also bei der Behandlung der Patientin, anstelle des beklagten oder beschuldigten Arztes verhalten hätte. Später, etwa bei einer Obduktion bekannt gewordene Umstände, nachträgliche Erkenntnisse und neueste, etwa erst im Zeitpunkt der Erstellung des Gutachtens publizierte Forschungsergebnisse, Erfahrungen und Beobachtungen haben außer Betracht zu bleiben;
97 außer, dass das seinerzeitige Behandlungsagieren den aktuellen Erkenntnissen (bereits) entsprochen hätte.
Im Gegensatz dazu muss die Frage des Schadens sowie der Kausalität zwischen
Behandlungsfehler und Tod oder Schädigung der Patientin bzw. des Fetus aus der Sicht ex post beantwortet werden, d. h. Grundlage der Beurteilung ist hier der Zeitpunkt der Gutachtenerstattung.
Anforderungen an den Nachweis der Kausalität im Zivil- und Strafrecht
Der Sachverständige sollte ferner wissen, dass im Zivil- und Strafrecht unterschiedliche Anforderungen an den Nachweis der Kausalität gestellt werden.
Jedweder Zweifel an der Ursächlichkeit führt im Strafverfahren zu dessen Einstellung bzw. zum Freispruch des angeklagten Arztes, da der Ursachenzusammenhang zwischen Pflichtwidrigkeit und Tod bzw. dem Gesundheitsschaden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, d. h. unter Ausschluss vernünftiger, auf Tatsachen gegründeter Zweifel, feststehen muss.
Im Zivilrecht genügt dagegen ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit, der „Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen“,
98 d. h. einer nach allgemeiner Lebenserfahrung gegebenen Wahrscheinlichkeit.
Intellektuelle Redlichkeit und Verständlichkeit des Gutachtens
Die Überzeugungskraft eines Gutachtens steht und fällt mit seiner intellektuellen Redlichkeit und Verständlichkeit. Gibt es unterschiedliche Lehrmeinungen, einen „Schulenstreit“ mit unterschiedlichen Ansichten, Behandlungsalternativen und verschiedenen Therapiekonzepten, so muss in einem objektiven Gutachten alles dies dargelegt und im Einzelnen aufbereitet werden. In der Justizpraxis werden jedoch nicht selten z. B. Meinungen als sicheres Wissen und Empfehlungen bzw. eigene Anforderungen des Sachverständigen als „allgemeiner Standard“ ausgegeben, den Gutachten keine Literaturbelege beigefügt und apodiktische, zum Teil widersprüchliche Feststellungen ohne Hinweis auf vertretbare andere Behandlungsmethoden getroffen.
Ein besonders häufiger Mangel in Sachverständigengutachten resultiert aus der Dynamik des medizinischen Fortschritts und der damit zwangsläufig verbundenen wissenschaftlichen Spezialisierung und Subspezialisierung. Diese Umstände bringen es mit sich, dass Gutachter ihre Fachkompetenz überschreiten oder zum Zeitpunkt der Erstattung des Gutachtens nicht mehr über den aktuellen Wissensstand verfügen. Mit Sorge ist zu beobachten, dass manche Sachverständige ihre mangelnde Sachkunde für bestimmte Fragen oder Gebiete nicht erkennen (wollen) bzw. nicht den Mut haben, die Übernahme des Gutachtens abzulehnen.
„Verständlichkeit“ eines Gutachtens bedeutet nicht, dass auf die medizinische Fachsprache verzichtet werden müsste. Wer aber den Leser mit einer Flut von dem Laien unbekannten Fachausdrücken überschüttet, entwertet sein Gutachten und die darin investierte Gedankenarbeit erheblich. Denn wenn ein Richter, Staatsanwalt oder Verfahrensbeteiligter die gutachtlichen Ausführungen nicht ohne klinische Wörterbücher verstehen kann, ist die Gefahr von Missverständnissen ebenso groß wie die Gefahr eines Fehlurteils mit all seinen schlimmen Konsequenzen für die Parteien des Rechtsstreits bzw. den beschuldigten Arzt.
Ärztliche Verpflichtung zur Gutachtenerstattung
Nach den einschlägigen deutschen Gesetzesregelungen sind alle approbierten Ärzte verpflichtet, sich dem Gericht, der Staatsanwaltschaft und – unter bestimmten Voraussetzungen – auch der Verteidigung als Sachverständige zur Verfügung zu stellen. Für die Ablehnung eines Gutachtenauftrags müssen zwingende sachliche Gründe vorgebracht werden, z. B. Arbeitsüberlastung, Befangenheit oder mangelnde Sachkunde.
Für Österreich regelt das Sachverständigen- und Dolmetschergesetz (SDG) die Eintragung der beeideten und zertifizierten ärztlichen Gerichtssachverständigen in die von den Landesgerichten geführte Sachverständigenliste. Für die Eintragung in die Liste müssen Kenntnisse der wesentlichen Bestimmungen des Verfahrensrechts (insbesondere ZPO, StPO und AVG (Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz/Österreich)) im Rahmen einer Prüfung vor einer eigens eingerichteten Zertifizierungskommission nachgewiesen werden. Ärztliche Sachverständige müssen eine mindestens 5-jährige ärztliche Tätigkeit in verantwortlicher Stellung in ihrem Fachgebiet nachweisen. Für diese 5-Jahres-Frist wird das Datum der Eintragung als Facharzt bei der Ärztekammer als Stichtag genommen. Nach 5 Jahren gutachterlicher Tätigkeit muss beim zuständigen Landesgericht ein Antrag auf Verlängerung der Eintragung in die Gutachterliste eingereicht werden. Diesem Antrag ist eine Liste mit den Aktenzahlen aller für Gerichte erstellten Gutachten beizulegen. Bei positiver Erledigung wird ein neuer Gutachterausweis mit Chip für Zugang zu Justiz-online.at ausgestellt.
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Ein besonders „wunder“ Punkt in der Praxis ist die Zeitdauer der Gutachtenerstattung, die oftmals den Grund für die überlangen Arzthaftungsstreitigkeiten bildet. Jeder Sachverständige sollte sich bewusst machen, dass er eine äußerst schwierige, verantwortungsvolle Aufgabe übernommen hat, die Justiz jedoch gerade auf die erfahrensten und wissenschaftlich qualifiziertesten Ärzte angewiesen ist, um Fehlurteile zu vermeiden, und jeder Prozess für den oder die Betroffene(n) eine ungeheure Belastung darstellt. Die Verweigerungshaltung mancher als Sachverständige prädestinierter Klinikchefs bzw. das Hinausschieben der Erledigung des Gutachterauftrags bedeutet nicht nur für die Rechtspflege „Stillstand“, sondern für die Beteiligten die Fortdauer der Parteienkonfrontation bzw. für den Beschuldigten den fortdauernden psychischen Druck durch ein Strafverfahren.
Persönliche Verantwortung des Gutachters
Die Beauftragung der Gutachtenerstattung verpflichtet den Sachverständigen höchstpersönlich. Sie lässt sich daher nicht einfach auf Mitarbeiter oder andere übertragen.
Dies schließt nicht aus, bei der Vorbereitung und Abfassung des Gutachtens wissenschaftliche Mitarbeiter oder sonst geeignete Hilfskräfte hinzuzuziehen, doch muss die persönliche Verantwortung des beauftragten Sachverständigen für das Gutachten insgesamt uneingeschränkt gewahrt bleiben. Der beauftragte Sachverständige muss also die volle Verantwortung für das Gutachten übernehmen und mit seiner Unterschrift zu erkennen geben, dass er dazu bereit und aufgrund eigener Untersuchungen und Urteilsbildung in der Lage ist.
Der gerichtlich bestellte Sachverständige haftet für ein fehlerhaftes Gutachten oder für Fehler bei der Vorbereitung seines Gutachtens gem. § 839a BGB, wenn eine Gerichtsentscheidung auf dem unrichtigen Gutachten beruht, dem Sachverständigen grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz vorzuwerfen ist und im Vorprozess die Rechtsmittel ausgeschöpft worden sind.
Außerdem kann sich der Sachverständige u. a. wegen Ausstellens eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses nach § 278 StGB, wegen Meineids (§ 154 StGB) oder fahrlässigen Falscheids (§ 163 StGB), vorsätzlicher uneidlicher Falschaussage (§ 153 StGB), Geheimnisverrat (§§ 203, 204 StGB), Betrug (§ 263 StGB), Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) und v. a. wegen Strafvereitelung (§ 258 StGB) strafbar machen. Ein „Gefälligkeitsgutachten“ kann bei entsprechendem Vorsatz auch den Tatbestand (des Versuchs) der Strafvereitelung (§ 258 Abs. 1, Abs. 4 StGB) erfüllen.
Juristisches Zwischenfallmanagement; praktische Hinweise für das Verhalten nach einem Zwischenfall
Immer wieder ist festzustellen, dass im Anschluss an Behandlungskomplikationen und sogar noch nach Schadensanmeldungen von Patienten bzw. der Einleitung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsverfahren von Ärztinnen und Ärzten sowie seitens Kliniken nicht „lege artis“ im Sinne eines strukturierten juristischen Zwischenfallmanagements
100 agiert und reagiert wird. Wie man sich im „medizinischen Notfall“ verhalten soll, wird angeleitet und ist bekannt. Darüber hinaus sollte allerdings auch ein strukturiertes Zwischenfallmanagement unter juristischen Kriterien als Instrument zur Prävention gegen verfahrensmäßige Weiterungen bzw. zur adäquaten Begleitung von Zivil- und Strafverfahren etabliert sein.
Die folgenden praktischen Hinweise sind keine starren Regeln, sondern stellen in der Praxis vielfach erprobte und bewährte allgemeine Empfehlungen dar.
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Gespräch mit der Patientin oder ihren Angehörigen
Durchmustert man die einschlägigen Verfahrensakten, zeigt sich häufig, dass ein unbedachtes Wort oder fehlende Gesprächsbereitschaft die Ursache für Misstrauen und Verdacht bei Patienten oder ihren Angehörigen war und in der Folge dann zu Schadensersatzansprüchen oder einer Strafanzeige geführt haben. Ärzte sollten daher das Gespräch mit den Betroffenen nicht scheuen, sondern umgehend ihre Bereitschaft zu einer Aussprache signalisieren. Hier liegt vielfach die entscheidende Weichenstellung für den weiteren Verfahrensgang. Das oft befürchtete Risiko des Verlustes des Versicherungsschutzes besteht bei richtiger Handhabung nicht (s. Abschn.
4.5). Demgegenüber kann ein menschlich vertrauensvolles Gespräch in vielen Fällen sogar einen für alle Beteiligten belastenden Rechtsstreit verhindern.
Das Gespräch mit der betroffenen Patientin oder ihren Angehörigen ist allerdings oftmals nicht nur schwierig, sondern auch eine zweischneidige Sache und häufig eine Gratwanderung zwischen Selbstbezichtigung und Selbstverteidigung mit der Gefahr von Fehldeutungen und Missverständnissen. § 630c Abs. 2 S. 2 BGB verlangt vom behandelnden Arzt, den Patienten „auf Nachfrage“ oder „zur Abwendung gesundheitlicher Nachteile“ über Umstände zu informieren, „die die Annahme eines Behandlungsfehlers begründen“. Die
Wertung als „Fehler“ gehört nicht zur Informationspflicht. Die Mitteilung darf im Strafverfahren nicht gegen den Arzt zu Beweiszwecken verwandt werden. (§ 630c Abs. 2 S. 3 BGB).
102
Betrifft der Zwischenfall nachgeordnete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ist der Chefarzt der Abteilung gefordert, das Gespräch zu führen, zumindest aber daran teilzunehmen. Ereignet sich der Zwischenfall in der Praxis, sollte man unbedingt eine Kollegin/einen Kollegen oder die Sprechstundenhilfe als Zeugen hinzuziehen.
Meldung des Schadens
Geboten ist die unverzügliche Meldung jedes Schadensereignisses, das Haftpflichtansprüche zur Folge haben könnte, an den Haftpflichtversicherer über die Krankenhausverwaltung (Zentrale Schadensbearbeitung) sowie ggf. den Vorgesetzten bzw. den für die Behandlung der Patientin/des Kindes verantwortlichen Arzt.
Komplettierung der Behandlungsunterlagen, persönliches Gedächtnisprotokoll, Fertigung von Fotokopien
Bei Komplikationen und erst recht im Notfall ist eine zeitgleiche Dokumentation aller Maßnahmen mit der akut erforderlichen ärztlichen Behandlung nur schwer oder überhaupt nicht vereinbar. Gerade für solche Situationen hat allerdings die Erfüllung der ärztlichen Dokumentationspflicht im Falle forensischer Auseinandersetzungen nochmals gesteigerte Bedeutung. Umso wichtiger ist es deshalb auch, im unmittelbaren Anschluss an den Eintritt des Zwischenfalls unverzüglich, jedenfalls zeitnah, eventuell unterbliebene Eintragungen vorzunehmen. Dies sollte ohne jede Hektik in Ruhe unter Angabe von Eintragungsdatum bzw. -zeit geschehen. Die derart erstellte ärztliche Dokumentation hat Urkundenqualität und unterliegt infolgedessen auch der Vermutung von Vollständigkeit und Richtigkeit.
Erforderlichenfalls sind dergestalt auch sonstige Nachträge bzw. Korrekturen anzubringen, was ebenfalls als nachträglich dokumentiert zu kennzeichnen ist, wobei der ursprüngliche Inhalt erkennbar bleiben muss; vgl. § 630 f Abs. 1 Satz 2 BGB. Anderenfalls ist der Tatbestand der Urkundenfälschung (§ 267 StGB) erfüllt. Idealiter sollte eine solche nachträgliche Dokumentation von (einem) Zeugen zur Bestätigung der Richtigkeit gegengezeichnet werden.
Urkundenunterdrückung und -vernichtung sind strafbar (§ 274 Nr. 1 StGB) und führen im Zivilprozess zur Beweislastumkehr.
Jeder Beteiligte sollte für sich persönlich ein Gedächtnisprotokoll
über den Ablauf des Zwischenfalls bzw. der Komplikation mit markanten Zeitpunkten, der Länge bestimmter Zeitphasen (Pulsabfall, Dauer einer Herzdruckmassage etc.), beteiligten Personen, Besonderheiten in der Person der Patientin, Auffälligkeiten im Umfeld, Namen von Mitpatientinnen etc. fertigen. Eine solche Unterlage ist allerdings beschlagnahmefähig, weshalb sie – nur für eigene Zwecke, z. B. zur späteren Unterrichtung des eigenen anwaltlichen Vertreters – sicher aufbewahrt werden muss. Insbesondere gehört sie nicht zu den Behandlungsunterlagen und ist auch nicht als schriftliche Stellungnahme gegenüber Vorgesetzten, der Krankenhausleitung oder der
Haftpflichtversicherung zu verwenden.
Zudem sollten die Behandlungsunterlagen umgehend vollständig fotokopiert und von bildlichen Darstellungen Duplikate gefertigt werden. Kommt es zu einem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren mit Beschlagnahme, sind die Behandlungsunterlagen einer Einsicht grundsätzlich entzogen. Etwaige Beschuldigte erhalten persönlich ohnehin keine Akteneinsicht; solche kann nur über einen Verteidiger erlangt werden, wobei ein dahin gehender Rechtsanspruch erst nach Abschluss der Ermittlungen, die Jahre dauern können, besteht.
Schriftliche Stellungnahme
Erforderlich ist die Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme zu dem Vorfall bzw. den erhobenen Vorwürfen gegenüber dem Haftpflichtversicherer, der Krankenhausverwaltung und dem Vorgesetzten bzw. dem für die Behandlung der Patientin Verantwortlichen. Solche Stellungnahmen sollten von an einem Vorfall bzw. Zwischenfall beteiligten Personen einzeln und nicht als „Gruppenstatement“ verfasst werden. Das Gegenzeichnen von Stellungnahmen – gleichsam zur Bestätigung einer Richtigkeit – z. B. durch Hebammen, nachgeordneten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Pflegepersonal oder Praktikanten sollte unterbleiben. Die Betroffenen mögen das eventuell als Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses bzw. gar als „Nötigung“ empfinden.
Dabei ist zu beachten: Da bei Todesfällen und Körperschäden die Einleitung eines Strafverfahrens möglich ist, können sämtliche Unterlagen beschlagnahmt und auch die Adressaten der Stellungnahmen (z. B. zu etwa erfolgten Erörterungen) als Zeugen vernommen werden. Alles, was der Arzt hier also freimütig und wahrheitsgemäß offenbart, wie es seine versicherungs- und arbeitsrechtliche Verpflichtung ist, kann auf diese Weise zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden gelangen und ggf. zu seinen Ungunsten verwandt werden.
Kein Schuldanerkenntnis; Regulierungsvollmacht des Versicherers
Beim initialen oder bei folgenden Gesprächen mit der Patientenseite sollten betroffene Ärztinnen und Ärzte kein Schuldanerkenntnis, d. h. die Erklärung, dass entstandener Schaden ersetzt werde, abgeben.
Zwar besteht nicht mehr das frühere „Anerkenntnisverbot“, welches Versicherungsnehmern durch die
Haftpflichtversicherung auferlegt war. Jedoch kann die Anerkennung unbegründeter Ansprüche zur Eigenhaftung des Versicherungsnehmers bzw. der Ärztin/des Arztes führen. Infolgedessen ist dringend davon abzuraten, ein Schuldeingeständnis oder Schuldanerkenntnis gegenüber der Patientin bzw. ihren Angehörigen abzugeben.
Schuldzuweisungen an andere (etwa auch bei einem fachgebietsübergreifenden Zusammenwirken oder einer Involvierung von Pflegepersonal) sollte ebenfalls unterbleiben.
Das Recht, ein schuldhaftes Verhalten zu leugnen, ist dem Arzt unbenommen. Niemand ist verpflichtet, sich selbst zu beschuldigen und an seiner Strafverfolgung durch eigenes Tun mitzuwirken.
Die Empfehlung, sein Verhalten von Anfang an nach einem Zwischenfall so einzurichten, dass daraus für die Verteidigung im Strafverfahren oder in einem Zivilprozess keine Nachteile erwachsen können, steht im Einklang mit dem Versicherungsvertrag. Dieser erlaubt dem Arzt auch, dem Patienten auf Befragen pflichtgemäß die Wahrheit zu sagen, selbst wenn dies das Eingeständnis eines Behandlungsfehlers bedeutet.
Gemäß Nr. 5.2 AHB (Allgemeine Haftpflichtbedingungen) gilt der Versicherer in Zivilsachen als bevollmächtigt, „alle ihm zur Abwicklung des Schadens oder Abwehr der Schadenersatzansprüche zweckmäßig erscheinenden Erklärungen im Namen des Versicherungsnehmers abzugeben“. Der Versicherer ist also ermächtigt, alle mit der Schadensregulierung zusammenhängenden Maßnahmen zu treffen und den Versicherungsnehmer (Klinik/Arzt) anzuweisen, sich entsprechend zu verhalten. Kraft seiner Regulierungsvollmacht hat der Haftpflichtversicherer das Recht, Schadenersatz zu leisten, den Anspruch eines Patienten zurückzuweisen und den Rechtsweg auszuschöpfen, also den Rechtsstreit durch mehrere Instanzen zu führen. Infolgedessen ist es verfehlt, insoweit selbstständig tätig zu werden, vielmehr ist jegliche Korrespondenz mit der Patientin bzw. deren Anwalt dem Versicherer zu überlassen.
Die Einschaltung eines „eigenen“ Rechtsanwalts ist dem Arzt zwar nicht verboten, doch muss der Versicherer, wenn er damit sachlich oder im Hinblick auf die Person des anwaltlichen Beraters nicht einverstanden ist, die Anwaltskosten nicht übernehmen.
Die Regulierungsvollmacht des Haftpflichtversicherers gilt allerdings nur in Zivilsachen, nicht in Strafsachen, bei denen der Arzt auch in seiner Anwaltswahl völlig frei ist.
Anwaltszwang vor dem Landgericht
Kommt eine Einigung mit der Patientin/den Eltern des Kindes in den Verhandlungen mit der
Haftpflichtversicherung nicht zustande und wird als Folge davon ein Gerichtsverfahren – in der Regel vor dem Landgericht – anhängig, so muss der Arzt anwaltlich vertreten sein. Denn vor dem Landgericht herrscht Anwaltszwang. Dabei haben die Haftpflichtversicherungen aufgrund ihrer schon erwähnten Regulierungsvollmacht ein Benennungsrecht, d. h. die Prozessführung wird vom Haftpflichtversicherer übernommen, der auch einen Anwalt beauftragt. Ist der Arzt mit dessen Person nicht einverstanden, so ist es ihm natürlich unbenommen, einen Anwalt seines Vertrauens zu mandatieren, doch hat er die dadurch entstehenden Anwaltskosten dann selbst zu tragen, wenn die Versicherung an „ihrem“ Prozessvertreter festhalten sollte.
Natürlicher und nichtnatürlicher Tod
Handelt es sich um einen Zwischenfall mit tödlichem Ausgang und lässt sich bei der Leichenschau ein strafbares Verhalten als Todesursache nicht von vornherein sicher ausschließen, sollte man auf dem Leichenschauschein im Zweifel die Todesart als „ungeklärt“ bezeichnen und die endgültige Feststellung dem Obduzenten bzw. Pathologen überlassen.
Im Hinblick auf die Versuchung des Arztes, der in den Zwischenfall verwickelt ist und möglicherweise durch eine ärztliche Sorgfaltspflichtverletzung den Tod der Patientin (des Kindes) verursacht hat, ist in manchen Bundesländern eine generelle Anzeigepflicht unnatürlicher Todesfälle gegenüber der Polizei nicht statuiert bzw. es wird dem Arzt das Recht eingeräumt, die Leichenschau zu verweigern, wenn sie ihn oder einen Angehörigen der Gefahr aussetzen würde, wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden.
Um derartige Konfliktsituationen von vornherein zu vermeiden, sollte man im Krankenhaus stets dafür Sorge tragen, dass, soweit irgend möglich, die Todesbescheinigung ein Arzt ausfüllt, der in den Zwischenfall nicht involviert war, sondern sozusagen „neutral“ ist.
Die Einschaltung der Staatsanwaltschaft bei ungeklärter oder nicht eindeutiger natürlicher Todesart ist eine Rechtspflicht, die sich aus gesetzlichen oder vertraglichen Bestimmungen (Vertragsarztrecht, Vertrag mit dem öffentlich rechtlichen Krankenhausträger) ergibt.
Unberührt davon bleibt der eherne Grundsatz, dass – von Ausnahmen abgesehen – niemand zur Aufdeckung eigenen Fehlverhaltens verpflichtet ist.
Nur dann, wenn der ärztliche
Behandlungsfehler zu einem erheblichen Gesundheitsschaden des Patienten geführt hat und Weiterungen zu befürchten sind, also eine Nachbehandlung oder gar ein operativer Eingriff erforderlich ist, muss dem Patienten bzw. dem nachbehandelnden Arzt „reiner Wein eingeschenkt“, d. h. das Fehlverhalten bzw. der diesem zugrunde liegende Sachverhalt – ohne rechtliche Wertung – mitgeteilt werden. Offenbarungspflichten aus therapeutischen Gründen bedürfen somit stets der exakten Prüfung im konkreten Einzelfall (§ 630c Abs. 2 S. 2 BGB).
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Fahrlässige Körperverletzung
In Fällen etwaiger fahrlässiger Körperverletzung müssen weder der betroffene Arzt noch sein Dienstvorgesetzter oder ein anderer Arzt der Staatsanwaltschaft oder Polizei eine Meldung machen. Denn die fahrlässige Körperverletzung ist ein sog. relatives Antragsdelikt, d. h. Ermittlungen werden nur bei Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses von der Staatsanwaltschaft von Amts wegen aufgenommen, während sie im Grundsatz von einem Strafantrag des bzw. der Verletzten abhängen, der/die auch selbst im Wege der Privatklage die Strafverfolgung betreiben kann (§§ 229, 230 StGB, 374 Abs. 1 Nr. 4 StPO).
Keine Beeinflussung von Zeugen; keine Fälschung und Vernichtung von Beweismaterial
Eigentlich selbstverständlich, aber aus gegebenem Anlass nochmals zu betonen ist der Hinweis, dass Zeugen nicht beeinflusst werden dürfen. Davon abgesehen sollte derjenige, der polizeiliche bzw. staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen seine Person nicht unter jedem denkbaren Gesichtspunkt für ausgeschlossen erachtet, Zurückhaltung im Gespräch mit Kollegen und dem nichtärztlichen Personal üben. Das gilt auch für die Teilnahme an Zwischenfallkonferenzen oder die Unterzeichnung sog. Gemeinschaftsprotokolle.
Informatorische Befragungen durch Polizei und Staatsanwaltschaft
Kommt es unmittelbar nach einem Zwischenfall zu informatorischen Befragungen durch Polizei oder Staatsanwaltschaft, ohne dass überhaupt schon feststeht, ob eine strafbare Handlung vorliegt bzw. gegen wen sich der Tatverdacht richten könnte, ist der in den Vorfall verwickelte Arzt zunächst Zeuge. Als solcher trifft ihn grundsätzlich die Pflicht auszusagen, und zwar wahrheitsgemäß. Nach § 55 StPO kann er jedoch die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren wahrheitsgemäße Beantwortung ihn der Gefahr aussetzen würde, wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden.
Obwohl der „verdächtige“ Zeuge auf diese Bestimmung vom Vernehmungsbeamten hinzuweisen ist, wird in der Praxis oftmals hiergegen verstoßen, ohne dass sich daraus aber irgendwelche rechtlichen Konsequenzen ergeben. Jeder möglicherweise von dem Fehlervorwurf betroffene Arzt ist daher gut beraten, im Frühstadium der Ermittlungen den Bereich des Auskunftsverweigerungsrechts weit zu ziehen, u. U. die Aussage im Hinblick auf § 55 StPO sogar ganz zu verweigern.
Unbedachte und vorschnelle, im Ergebnis belastende Angaben in diesem Stadium erschweren die Verteidigung oftmals außerordentlich, da das früher Gesagte im weiteren Verfahrensverlauf gegen den beschuldigten Arzt verwertbar ist. Vermag der Arzt dagegen durch seine Aussage sofort und einwandfrei seine Unschuld zu beweisen, sollte er sich zur Sache äußern und nicht durch einen Rückzug auf formale Rechtspositionen möglicherweise unnötigen Verdacht erregen.
Verhalten als Beschuldigter
Wer formell von der Staatsanwaltschaft mit dem Vorwurf konfrontiert wird, für den Tod oder die Körperverletzung einer Patientin bzw. des Kindes verantwortlich zu sein, ist „Beschuldigter“. In dieser Position ist dringend davon abzuraten, mündliche Erklärungen zur Sache gegenüber der Polizei oder Staatsanwaltschaft abzugeben. Wie die Erfahrung nämlich gezeigt hat, ist die Gefahr von Missverständnissen, Irrtümern und Ungenauigkeiten bei der Aufzeichnung der Angaben außerordentlich groß.
Spätestens im Anschluss an die formelle Mitteilung der Beschuldigung ist der Zeitpunkt gekommen, sich anwaltlicher Hilfe, d. h. eines Verteidigers, zu bedienen.
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Dies ist mit Nachdruck – gegen manch anderen juristischen Rat – zu empfehlen, da mit einer substanziell fundierten, oftmals durch ein fachspezifisches Gutachten unterlegten anwaltlichen Schutzschrift der weitere Gang des Verfahrens entscheidend in Richtung „Einstellung“ gefördert werden kann.
Das Zurückhalten von Argumenten und Tatsachen oder der Vorbehalt von vermeintlichen „Überraschungseffekten“ für die Hauptverhandlung ist in Arztstrafsachen ein anwaltlicher „Kunstfehler “.
Das Hauptziel der Verteidigung muss es sein, die Erhebung der Anklage mit nachfolgender öffentlicher Hauptverhandlung mit allen zulässigen Mitteln zu vermeiden.
Umgang mit Medien
Sogenannte „Kunstfehlerprozesse“ rufen vielfach bereits bei der Aufnahme staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen außerordentliche Medienwirksamkeit hervor. Auch insofern ist seitens Kliniken bzw. ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie niedergelassener Ärztinnen und Ärzte ein professionelles Agieren geboten.
Äußerungen gegenüber Medienvertretern sollten allenfalls vorbereitet und koordiniert erfolgen. Beispielsweise sollte ausgeschlossen sein, dass sich Betroffene oder sonstige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Klinik individuell äußern.
Persönlich Betroffene sollten sich gegenüber Medien überhaupt nicht äußern. „Notfalls“ ist auf den anwaltlichen Vertreter zu verweisen. Dieser muss dann im Einzelfall in Abstimmung mit seinem Mandanten entscheiden, ob und in welcher Weise medienwirksam reagiert wird. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass einem Vorfall und dessen Medienwirksamkeit mit eigener Informationserteilung nur weiterer „Auftrieb“ gegeben wird. Grundsätzlich gilt es, möglichst jegliche Publizität zu vermeiden.