Definition und Epidemiologie
Das akute Schmerzereignis ist ein Warnsignal
des Körpers auf ein schädigendes Ereignis, wie z. B. Gewebsuntergang oder Entzündung. Wenn die ursächliche Pathologie über einen längeren Zeitraum weiterbesteht oder das akute Schmerzereignis nicht ausreichend therapiert wird oder auch bei Vorliegen individueller kognitiver und emotionaler Faktoren kann der akute
Schmerz in einen chronischen
Schmerz übergehen, wie z. B. beim chronischen Unterbauchschmerz.
Der chronische Unterbauchschmerz ist kein eigenständiges Krankheitsbild, sondern ein
Symptomenkomplex, welcher Beschwerden wie
Dysmenorrhö,
Dyspareunie, Dyschezie oder Dysurie umfassen kann. Die Genese ist multifaktoriell und nicht gänzlich geklärt.
Der chronische Unterbauchschmerz kann lange nach dem ursprünglichen Ereignis persistieren und ohne aktuelle Gewebsschädigung auftreten (Royal College of Obstreticians and Gynaecologists
2012).
Die deutschen Leitlinien definieren den chronischen Unterbauschmerz als einen „schweren und quälenden
Schmerz mit einer Dauer von mindestens 6 Monaten. Er kann sich zyklisch, intermittierend-situativ oder nicht zyklisch chronisch ausprägen. Dieser Schmerz führt zu einer deutlichen Einschränkung der Lebensqualität“ (AWMF-Leitlinie
2015).
Aktuell gibt es keine international gültige Definition des chronischen Unterbauchschmerzes (AWMF-Leitlinie
2015). Die Leitlinien des Royal College of Obstreticians and Gynecologists schließen den ausschließlich zyklisch
auftretenden Unterbauchschmerz aus, die Leitlinien des American College of Obstreticians beziehen sich ebenfalls auf den nichtzyklischen
Schmerz, welcher so ausgeprägt sein muss, dass er zu einer Behinderung oder zur Inanspruchnahme von medizinischer Leistung führt (Ahangari
2014).
Aufgrund der unterschiedlichen Definitionen können genaue Angaben zu nationaler oder internationaler Inzidenz und
Prävalenz nur geschätzt werden. Viele Publikationen beziehen sich auf einzelne zugrundeliegende Krankheitsbilder, wie z. B. die
Endometriose oder das
Reizdarmsyndrom (AWMF-Leitlinie
2015). Daten aus den Entwicklungsländern stehen nur in sehr begrenztem Ausmaß zur Verfügung. Die WHO publizierte erstmals 2006 eine Übersichtsarbeit zur weltweiten Prävalenz des chronischen Unterbauchschmerzes. Es wurden drei Symptomkomplexe analysiert und die Prävalenz der Dysmenorrhoe je nach Studie mit 16,8–81 %, die Prävalenz der
Dyspareunie mit 8–21,8 % und die Prävalenz der nichtzyklischen Unterbauchschmerzen mit 2,1–21 % angegeben (Latthe et al.
2006). Ein Review aus den USA zeigte, dass bis zu 10 % der ambulanten Vorstellungen in der gynäkologischen Praxis aufgrund chronischer Unterbauchschmerzen stattfanden (Howard
1993). Für Deutschland liegen Daten aus dem Jahr 1999 vor. Dabei wurde die Prävalenz der chronischen Unterbauchschmerzen bei Frauen unter 40 Jahre mit 15 % und bei Frauen über 60 Jahre mit 8 % ermittelt. Für alle Altersgruppen lag die Prävalenz in der deutschen Bevölkerung bei 12 % (Richter
1999).
Anamnese
Viele Patientinnen mit chronischen Unterbauchbeschwerden haben bereits einen langen Leidensweg hinter sich und suchen nach einer Erklärung für ihre Beschwerden. Oft haben die Patientinnen eine eigene Hypothese über die Ursache der
Schmerzen, welche ernst genommen werden sollte, um die Patientin in ihrer persönlichen Situation „abzuholen“ (Sillem et al.
2015; Royal College of Obstreticians and Gynaecologists
2012,
2015; AWMF S3 Leitlinie
2012).
Eine vertrauensvolle Atmosphäre, ein ausreichendes Zeitfenster und eine empathische Grundhaltung des betreuenden Arztes schaffen einen geeigneten Rahmen für eine detaillierte Anamnese, die bei der Erstvorstellung einer Patientin mit chronischen Unterbauchbeschwerden unerlässlich ist (Sillem et al.
2015; Royal College of Obstreticians and Gynaecologists
2012).
Zur Anamnese gehören:
-
die Allgemeinanamnese (Vorerkrankungen, Voroperationen, psychische Komorbiditäten),
-
die Medikamentenanamnese,
-
die gynäkologische und geburtshilfliche Anamnese,
-
die Sexualanamnese und
-
die soziale Anamnese (z. B. Partnerschaft, Berufsleben).
In den meisten Fällen wurde eine ausführliche Vordiagnostik bereits durchgeführt, ohne dass die Ursache der
Schmerzen endgültig zu klären und zu therapieren war. Demensprechend sind diese Patientinnen oft fordernd und ungeduldig. Sie haben Sorge, dass organische Ursachen übersehen werden und haben Angst vor einer Stigmatisierung
(Royal College of Obstreticians and Gynaecologists
2012). Symptome, die auf eine akut behandlungsbedürftige somatische Erkrankung hindeuten, sind z. B. neu aufgetretene Darmbeschwerden im Alter über 50 Jahre, neu aufgetretene Unterbauchschmerzen in der Menopause, vaginale Kontaktblutung oder aktive
Suizidalität erfordern sofortige Maßnahmen.
Eine genaue Schmerzanamnese ist unerlässlich. Bedeutend ist der Zeitpunkt der Erstmanifestation, die Frequenz und Dauer des Auftretens, die Lokalisation und der Schmerzcharakter (Sillem et al.
2015; Rossaint et al.
2012).
Dabei unterscheidet man zwischen viszeralen
(dumpf, schlecht lokalisierbar, kolikartig), somatischen (stechend, gut lokalisierbar), neuropathischen
(brennend, einschießend) und somatoformen
Schmerzen (diffus, wechselnde Lokalisation) (Sillem et al.
2015). Die Schmerzintensität kann anhand visueller oder numerischer Analogskalen quantifiziert werden.
Für die weitere Diagnostik und Therapie sind sowohl die individuelle Beeinflussbarkeit der
Schmerzen, z. B. Linderung mittels Wärme oder körperlicher Betätigung, als auch mögliche Triggerfaktoren, wie z. B. die Menstruation oder der Geschlechtsverkehr, wichtig (Sillem et al.
2015).
Eine genaue Bestandsaufnahme des Status quo mit Abklärung der Funktionsbeeinträchtigung im Privat- und im Berufsleben ist wichtig, um die Therapierichtung zu priorisieren und gemeinsam mit der Patientin Therapieziele festzulegen und um (Teil-)Erfolge im Verlauf dokumentieren zu können. Der Schweregrad der Erkrankung ergibt sich aus dem Ausmaß der Funktionsminderung im Privat- und Berufsleben.
Diagnostik
Zunächst sollte eine ausführliche Diagnostik unter Beachtung aller möglichen Schmerzursachen erfolgen.
Zur gynäkologischen Diagnostik gehören die Inspektion und Palpation des inneren und äußeren Genitale und die Abnahme von Vaginal- und Zervikalabstrichen (Sillem et al.
2015; AWMF-Leitlinie
2015). Die abdominale, transvaginale und auch transrektale Sonografie kann weitere Hinweise über mögliche Organpathologien geben. Häufig ist eine diagnostische Laparoskopie zum Beweis oder Ausschluss einer gynäkologischen Ursache unverzichtbar (AWMF-Leitlinie
2015). Muskulofasziale Dysfunktionen (z. B. Spasmen der Beckenbodenmuskulatur) sind bei bis zu 85 % der Patientinnen mit chronischen Unterbauchschmerzen nachweisbar (Baker
1993; Prendergast und Weiss
2003) und können durch Palpation der äußeren und inneren Beckenbodenmuskulatur diagnostiziert werden (Faubion et al.
2012), indem der Tonus, die Empfindlichkeit, die Kontraktions- und Relaxationsfähigkeit der Beckenbodenmuskulatur durch vaginale und rektale Palpation evaluiert werden.
Waren die oben genannten Maßnahmen nicht zielführend, sollte die Patientin den benachbarten Fachdisziplinen zur Komplettierung der Diagnostik vorgestellt werden (Engeler et al.
2012; AWMF-Leitlinie
2015).
Es gibt keinen
Goldstandard für die Diagnose
neuropathischer Schmerzen. Mechanische oder thermische Reizung bekannter Nervendruckpunkte kann diagnoseweisend sein, wird aber meist nur in spezialisierten Schmerzzentren routinemäßig durchgeführt. Validierte Fragebögen können hilfreich sein, wurden bisher jedoch nicht für Schmerzereignisse im kleinen Becken validiert (Whitaker et al.
2016).