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Die Urologie
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Publiziert am: 06.04.2022

Varianten der sexuellen Differenzierung/DSD

Verfasst von: Susanne Krege
Unter Intersexualität bzw. Varianten der Geschlechtsentwicklung (engl. „disorders of sex development“, DSD) werden eine Reihe unterschiedlicher Phänomene zusammengefasst, bei denen die geschlechtsdeterminierenden und -differenzierenden Merkmale des Körpers (Chromosomen, Gene, Keimdrüsen, Hormone, äußere Geschlechtsorgane und Geschlechtsmerkmale) nicht alle dem gleichen Geschlecht entsprechen. Sind Geschlechtschromosomen, Keimdrüsen und/oder deren Hormonproduktion nicht kongruent, können Differenzierungsvarianten des äußeren Genitales resultieren. Das Kapitel beschreibt nach einer Übersicht zur regelhaften Embryologie des äußeren Genitales die verschiedenen Phänomene sexueller Differenzierungsstörungen. Da die meisten Formen für die Betroffenen keinen unmittelbaren Krankheitswert haben, sollten medikamentöse/operative Interventionen, wenn überhaupt, erst erfolgen, wenn der Wille der Betroffenen entsprechend mitberücksichtigt werden kann. Oftmals entwickeln sich Betroffene ganz anders als primär von ärztlicher Seite eingeschätzt. Andererseits können Ursachen zugrunde liegen, wie Enzymdefekte in der Nebenniere beim adrenogenitalen Syndrom, die neben dem inkongruenten äußeren Genitale lebensbedrohliche Komplikationen mit sich bringen, in diesem Falle die fehlende Kortisonproduktion. In derartigen Fällen bedarf es der sofortigen Diagnose und Therapie.

Einleitung

Von Varianten der sexuellen Differenzierung spricht man, wenn die geschlechtsdeterminierenden und – differenzierenden Merkmale des Körpers (Chromosomen, Gene, Keimdrüsen, Hormone, innere und äußere Geschlechtsorgane und Geschlechtsmerkmale) nicht alle dem gleichen Geschlecht entsprechen. Auf der Konsensuskonferenz im Jahre 2005 in Chicago erfolgte eine systematische Einteilung der Varianten der Geschlechtsentwicklung (Tab. 1). Als übergeordneter Begriff wurde „disorders of sexual development“ gewählt, was mit „Störungen der Geschlechtsdifferenzierung“ zu übersetzen wäre. Da Betroffene es ablehnen, dass ihre Besonderheit eine „Störung“ ist, wurde der Begriff in „differences of sexual development“ geändert, so dass die griffige Kurzbezeichnung „DSD“ beibehalten werden kann.
Tab. 1
DSD-Klassifikation gemäß der Chicago-Konsensuskonferenz 2005. (Nach Hughes et al. 2006)
Chromosomale DSD
46,XY-DSD
46,XX-DSD
A
45,X (Turner-Syndrom und Varianten)
A
Testikuläre Gonadendysgenesie
A
Ovarielle Gonadendysgenesie
  
1
Komplette Gonadendysgenesie (Swyer-Syndrom)
1
Ovotestikuläre DSD
2
Partielle Gonadendysgenesie
2
Testikuläre DSD (z. B. SRY+, dup SOX9)
3
Gonadale Regression
3
Gonadendysgenesie
4
Ovotestikuläre DSD
  
B
47,XXY (Klinefelter-Syndrom und Varianten)
B
Störungen der Androgensynthese oder -wirkung
B
Androgenexzess
  
1
Androgenbiosynthesedefekt (z. B. 17-Hydroxysteroid-Dehydrogenase-Defekt, 5α-Reduktase-Defekt, StaR-Mutationen)
1
Fetal (z. B. 21-Hydroxylase- Defekt, 11-Hydroxylase- Defekt)
2
Störungen der Androgenwirkung (z. B. CAIS, PAIS)
2
Fetoplazentar (Aromatasedefekt, POR)
3
LH-Rezeptor-Defekt (z. B. Leydig-Zell-Hypoplasie, -aplasie)
3
Maternal (Luteom, exogen)
4
Störungen von AMH oder vom AMH-Rezeptor (Persistenz von Müller-Strukturen)
  
C
45,X/46,XY (gemischte Gonadendysgenesie, ovotestikuläre DSD)
C
Andere (z. B. schwere Hypospadien, kloakale Ekstrophie)
C
Andere (z. B. kloakale Ekstrophie, Vaginalatresie, MRKH-Syndrom, andere Syndrome)
Im Folgenden soll es in erster Linie um die beiden Gruppen 46,XY-DSD und 46,XX-DSD gehen, bei denen sich die Variante u. a. in einem nicht eindeutig männlichem oder weiblichem äußeren Genitale zeigt.

Embryologie des äußeren Genitales

Mit dem Zusammentreffen zweier X- bzw. eines X- und eines Y-Chromosoms wird das chromosomale Geschlecht in weiblich und männlich differenziert. Die Gonadenanlagen, sog. Urkeimzellen, sind in den ersten Wochen bei beiden Geschlechtern gleich. Das SRY-Gen des Y-Chromosoms bewirkt die Ausschüttung des „testis determing factors“ (TDF), wodurch sich die Keimzellen ab der 7. Woche post conceptionem zu Hoden differenzieren. Fehlt TDF, entwickeln sich Ovarien. In den Hoden entstehen im Weiteren die Tubuli seminiferi, Leydig-Zellen und Sertoli-Zellen. In den Leydig-Zellen wird Testosteron produziert. Dieses bewirkt die Fortentwicklung der Wolff-Gänge zu inneren männlichen Organen. Sein Abbauprodukt Dihydrotestosteron (DHT) führt zur Differenzierung des ebenfalls zunächst indifferenten äußeren Genitales in männliche Richtung. Die Sertoli-Zellen bilden den „antimuellerian factor“, welcher die Weiterentwicklung der Müller-Gänge hemmt. Die Ovarien hingegen bilden keine Hormone oder Faktoren. Hier verkümmern die Wolff-Gänge, während sich die Müller-Gänge zu den inneren weiblichen Organen entwickeln. Das äußere Genitale verändert sich in weibliche Richtung (Abb. 1).
Das indifferente äußere Genitale besteht aus dem Genitalhöcker, den Labioskrotalwülsten und den Urethralfalten (Abb. 2). Unter dem Einfluss von Testosteron fusionieren die Urethralfalten zur männlichen Harnröhre und die Labioskrotalwülste zum Skrotum sowie den Corpora cavernosa. Der Genitalhöcker wird zur Glans. Dieser Prozess ist bis zur 12. Woche post conceptionem abgeschlossen. DHT bewirkt im Weiteren dann das Längenwachstum des Phallus (Abb. 3). Beim weiblichen Geschlecht werden die Labioskrotalwülste zu den großen Labien, die Urethralfalten zu den kleinen Labien und der Genitalhöcker zur Klitoris (Abb. 4).
Kommt es zu Fehlern bei der Gonadenentwicklung oder zu Störungen der Hormonproduktion bzw. Einschränkungen ihrer Wirkung, resultieren entsprechende Störungen im Aussehen des äußeren Genitales (Sinnecker 1999; Grumbach et al. 1998).

46,XY-DSD

Partielle Gonadendysgenesie

Hier liegen nicht voll funktionsfähige Gonaden vor. Dies kann eine oder beide Gonaden betreffen. Es wird daher nicht ausreichend Testosteron bzw. Anti-Müller-Hormon (AMH) gebildet, möglicherweise auf einer Seite gar nicht. Dies führt dazu, dass die Fortentwicklung der Wolff-Gänge zu den inneren männlichen Organen gestört ist und das äußere Genitale nicht komplett männlich erscheint. Beispielsweise fusionieren die Urethralfalten nicht vollständig, sodass eine Hypospadie resultiert (Abb. 5). Durch den Mangel an AMH erfolgt andererseits nur eine inkomplette Regression der Müller-Gänge, sodass sich weibliche Anlagen wie Tuben und Uterus ausbilden (Abb. 6). Letzteres sichert bei der Abklärung auch die Diagnose der partiellen Gonadendysgenesie.

Komplette Gonadendysgenesie

Hier sind beide Gonaden funktionslos, sog. Streak-Gonaden. Es bilden sich daher innere weibliche Organe aus, nur Ovarien finden sich nicht. Das äußere Erscheinungsbild ist ebenfalls komplett weiblich. Die Betroffenen fallen in der Regel durch eine ausbleibende Pubertätsentwicklung auf. Diagnostisch findet sich ein hypergonadotroper Hypogonadismus.

Testosteronbiosynthesedefekte

Auch hier resultiert eine inkomplette Ausbildung der inneren männlichen Organe und äußeren männlichen Genitales. Im Gegensatz zur Gonadendysgenesie finden sich jedoch keine rudimentären Müller-Strukturen.
Es sind 5 Enzymdefekte bekannt, 3 betreffen sowohl die Glukokortikoid- als auch die Sexualhormonbiosynthese, führen also auch zu einer Nebenniereninsuffizienz. Es sind dies die Enzyme Zytochrom P450scc, 3β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase und Zytochrom-P450c17-Hydroxylase. Zwei weitere Enzymdefekte betreffen nur die Sexualhormonsynthese, Zytochrom-P450c17/17,20-Lyase und 17β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase. Kinder mit einer zusätzlichen Nebenniereninsuffizienz fallen unmittelbar bei Geburt mit entsprechender teils lebensbedrohlicher Symptomatik auf. Zur Differenzierung der Enzymdefekte lassen sich entsprechende sich vor dem Enzymdefekt anhäufende Stoffwechselprodukte bestimmen. Hier bedarf es der Kompetenz eines pädiatrischen Endokrinologen.

Leydig-Zell-Hypoplasie

Bei dieser seltenen Störung besteht ein Defekt der Leydig-Zellen bzw. ihrer Rezeptoren, sodass humanes Choriongonadotropin (hCG) und luteinisierendes Hormon (LH) keine Bildung bzw. Ausschüttung von Testosteron bewirken. Die Folgen sind die gleichen wie bei den Testosteronbiosynthesedefekten.

5α-Reduktase-Mangel

Dieser Enzymmangel verhindert die ausreichende Umwandlung von Testosteron in Dihydrotestosteron. Daher kommt es zu einer mangelhaften Maskulinisierung des äußeren Genitales, wohingegen die unter dem Einfluss von Testosteron stehende Fortentwicklung der Wolff-Gänge zu inneren männlichen Organen normal verläuft. Ebenso finden sich keine Reste von Müller-Strukturen. In der Pubertät kommt es dann aber zu einer zunehmenden Virilisierung. Dies lässt sich dadurch erklären, dass mit zunehmender Testosteronkonzentration bei nicht komplettem Fehlen des Enzyms auch mehr DHT entsteht. Zudem bindet Testosteron an die gleichen Rezeptoren wie DHT, wenn auch mit geringerer Affinität. Diagnostisch steigt im hCG-Stimulationstest der Quotient Testosteron/DHT deutlich an.

Partielle Androgenresistenz

Hier kommt es zu Störungen der Fortentwicklung der Wolff-Gänge und somit zu Störungen der Ausbildung der inneren männlichen Organe sowie der Maskulinisierung des äußeren Genitales. Müller-Rudimente finden sich nicht. Eine häufige Erscheinungsform im Kindesalter ist ein unauffällig wirkender Junge mit perineoskrotaler Hypospadie und sehr kleinem Penis (Reifenstein-Syndrom). In der Pubertät kommt es ebenso zu einer mangelnden Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale. Durch eine gesteigerte Östrogenproduktion resultiert eine ausgeprägte Gynäkomastie. Nach hCG-Stimulation kommt es zu einem normalen Testosteronanstieg, allerdings ist die Reaktion des sexualhormonbindenden Globulins (SHBG) vermindert, bei kompletter Androgenresistenz fehlt sie völlig: Zur Abklärung einer Androgenresistenz werden heute allerdings in der Regel molekulargenetische Methoden eingesetzt, die den Gendefekt nachweisen.

Komplette Androgenresistenz

Hier fehlen innere männliche Organe, das äußere Erscheinungsbild ist komplett weiblich. Da AMH aber vorhanden war, sind auch keine weiblichen inneren Organe vorhanden. In der Pubertät kommt es zu einer zunehmenden Feminisierung, da das Testosteron zunehmend zu Östradiol aromatisiert wird. Die Sekundärbehaarung bleibt allerdings spärlich oder fehlt vollständig („hairless women“). Die blind endende Scheide reicht meist zur Ausführung von Geschlechtsverkehr aus. Oftmals fallen Betroffene erst in der Pubertät durch ein Ausbleiben der Regelblutung auf. Diagnostisch findet sich dann typischerweise die Konstellation: primäre Amenorrhö, blind endende Vagina, erhöhte LH- und stark erhöhte Testosteronwerte. Im Kindesalter kann der Verdacht entstehen, wenn sich bei einer Herniotomie ein Hoden findet.

46,XX-DSD

Adrenogenitales Syndrom (AGS)

Auch hier liegen Enzymdefekte in der Nebenniere zugrunde, die letztendlich dazu führen, dass kein Kortisol produziert wird, sodass für die betroffenen Neugeborenen eine lebensbedrohliche Situation vorliegt, die unmittelbar erkannt werden muss, um eine Glukokortikoid- und ggf. auch Fluodrokortikoidsubstitution einzuleiten. Der häufigste Enzymdefekt betrifft das Zytochrom P450c21 (C21-Hydroxylase). Dieses Enzym reguliert die Umwandlung von 17α-Hydroxyprogesteron in Richtung Kortisol und Progesteron in Richtung Aldosteron. Das sich anhäufende 17α-Hydroxyprogesteron wird zu Androstendion und Testosteron umgewandelt, sodass es zu einer Virilisierung des äußeren Genitales bei sonst genetisch und die inneren Organe betreffend weiblichen Kindern kommt (Kap. „Operative Therapie bei Störungen der sexuellen Differenzierung“). Ein weiterer nicht seltener Enzymdefekt betrifft die 11β-Hydroxylase mit gleichen Folgen. Hier ist die Umwandlung von 11-Desoxykortisol zu Kortisol und von 11-Desoxykortikosteron zu Kortikosteron gestört. Entsprechende Stoffwechselprodukte lassen sich diagnostisch nachweisen.

Exogene Androgene während der Schwangerschaft

Auch exogen während der Schwangerschaft zugeführte Androgene bewirken eine Maskulinisierung des äußeren Genitales beim Ungeborenen. Erfolgt die Zufuhr innerhalb der ersten 12 Wochen post conceptionem resultieren ein Sinus urogenitalis sowie eine Klitorishypertrophie. Nach der 12. Woche kommt es nur noch zu einer Klitorishypertrophie.

Endogene Androgene während der Schwangerschaft

Als Ursachen endogener Androgenausschüttung während der Schwangerschaft kommen mütterliche Tumoren der Nebenniere oder Ovarien, ein Luteom oder ovarielle Luteinzysten in Frage. Hinweisend kann eine Virilisierung der Mutter sein, wobei dies nicht immer der Fall sein muss.

Ovotestikuläre DSD

Hier finden sich in einem Individuum ovarielles und testikuläres Gewebe, entweder gemischt in den Gonaden, sog. Ovotestes, oder auf der einen Seite ein Hoden und auf der anderen ein Ovar. Ursächlich liegen Geschlechtschromosomenmosaike oder Translokationen des Y-Chromosoms oder Y-spezifischen Materials (TDF) auf Autosomen oder X-Chromosomen zugrunde. Zudem kann es durch Fusion zweier fertilisierter Eizellen zum 46,XX/46,XY-Chimerismus kommen. Das äußere klinische Erscheinungsbild ist vielfältig. Die Entwicklung der inneren Geschlechtsorgane entspricht wiederum der ipsilateralen Gonade. Bei Ovotestes ist der testikuläre Anteil meist dysgenetisch, sodass es hier zu einer weiblichen Entwicklung kommt.

Tumorrisiko der Gonaden bei DSD

Die Entwicklung eines malignen Tumors in den Gonaden ist bei DSD erhöht. Die Inzidenz ist abhängig von dem Vorhandensein eines oder mehrerer Y-Chromosomen im Genom. Das Tumorrisiko kann basierend auf den Empfehlungen des Chicagoer Konsensuspapiers zu DSD (Hughes et al. 2006) in 3 Gruppen unterteilt werden (Tab. 2). Eindeutig gegeben ist die Indikation zur Gonadektomie in der Hochrisikogruppe mit einer Tumorinzidenz von 30–40 %. Hier kann es bereits im 1. Lebensjahr zu tumorösen Veränderungen kommen, sodass hier ein früher OP-Zeitpunkt gewählt werden sollte.
Tab. 2
Tumorrisiko bei DSD
Störung
Anzahl Patienten a (n)
Tumorrisiko (%)
Risikogruppe
Gonadendysgenesie
mit Y, Gonade intraabdominal
>350
15–35
Hoch
Partielle Androgenresistenz
Gonade nicht skrotal
24
50
15
60
mit Y
5
40
Testosteronbiosynthesedefekt (17β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase)
7
28
Intermediär
mit Y
43
12
Gonadendysgenesie
mit Y, Gonade skrotal
 
Unbekannt
Partielle Androgenresistenz
Gonade skrotal
 
Unbekannt
Ovotestikuläre DSD
426
3
Gering
Komplette Androgenresistenz
55
2
Turner-Syndrom
ohne Y
557
1
5α-Reduktase-Mangel
3
0
Keine (?)
aDie Patientenzahl bezieht sich auf bekannte und publizierte Fälle
In den anderen beiden Gruppen sollte die Empfehlung zur Gonadektomie individuell erfolgen unter Berücksichtigung der Restfunktion der Gonaden. Auf keinen Fall sollte die Entfernung im frühen Kindesalter erfolgen. Der Häufigkeitsgipfel für testikuläre Neoplasien liegt zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Entscheidet man sich für ein Belassen der Gonaden, müssen sie palpatorisch und/oder sonografisch einer regelmäßigen Kontrolle zugänglich sein.

Diagnostik bei Verdacht auf DSD

Kommt ein Kind zur Welt, bei dem der Verdacht auf ein intersexuelles Genitale besteht, sollte unmittelbar eine Diagnostik eingeleitet werden, da die unklare Situation für die Eltern eine enorme psychische Belastung darstellt. Erfreulicherweise wurde im Frühjahr 2013 der Gesetzestext dahingehend geändert, dass beim Eintrag ins Geburtsregister das Geschlecht des Kindes nicht mehr unmittelbar festgelegt werden muss. Zunächst wurde neben „männlich“ und „weiblich“ als dritte Kategorie „offen“ ergänzt. Dies fand aber wenig Zustimmung bei den Betroffenen, da sie sich so als ein „Nichts“ fühlten. Inzwischen erfolgte eine Änderung in die Kategorie „divers“. Dies ermöglicht Betroffenen zu einem späteren Zeitpunkt einen individuellen Begriff eintragen zu lassen.
Am Anfang der Diagnostik steht die genaue klinische Untersuchung des Neugeborenen. Zur Beurteilung der inneren Organe dient der Ultraschall. Bei älteren Kindern oder Adoleszenten kann ein MRT sinnvoll sein. Unerlässlich ist die Chromosomenanalyse (s. unten). Zur Durchführung einer differenzierten Hormondiagnostik muss ein pädiatrischer Endokrinologe hinzugezogen werden. Aufgrund der lebensbedrohlichen Situation bei Vorliegen eines AGS enthält das allgemeine Neugeborenenscreening bereits die Bestimmung von 17α-Hydroxyprogesteron. Ist dieses erhöht, muss unmittelbar eine weitere Abklärung erfolgen mit Bestimmung von Testosteron, luteinisierendem Hormon (LH), follikelstimulierendem Hormon (FSH), Natrium, Kalium und Blutzucker. Zur weiteren Differenzierung bei DSD gehören folgende Basalwerte: Kortisol, Östradiol, Androstendion und Dihydrotestosteron. Die Analyse der Steroidhormone soll in einem qualifizierten und zertifizierten Speziallabor durchgeführt werden. Als Marker der Sertoli-Zell-Funktion dient die Bestimmung von Inhibin B und AMH. Auf die Bedeutung des hCG-Tests wurde schon bei den verschiedenen Formen der DSD hingewiesen.
Von vorrangiger Bedeutung sind zudem zyto- und molekulargenetische Untersuchungen. Zu den zytogenetischen Untersuchungen zählt die Chromosomenanalyse. Sie gehört zur Basisdiagnostik. Zum einen wird hierdurch festgelegt, ob es sich bei unauffälligem Chromosomensatz um eine 46,XY-DSD oder 46,XX-DSD handelt. Zum anderen können chromosomal bedingte Ursachen wie Mosaike aufgedeckt werden. Mittels molekular(zyto)genetischer Untersuchungen können aber auch strukturelle Störungen der Chromosomen oder genetische Defekte aufgedeckt werden.
Bei genetischen Untersuchungen müssen die Bestimmungen des Gendiagnostikgesetzes beachtet werden. Insbesondere muss eine schriftliche Einwilligungserklärung nach Beratung und Aufklärung unter der Berücksichtigung der Situation bei nicht einwilligungsfähigen Patienten vorliegen.
Leider gelingt es bis heute insbesondere bei 46,XY-DSD nur in der Hälfte der Fälle, die zugrunde liegende Ursache zu klären.

Therapeutische Überlegungen

Bis ins auslaufende letzte Jahrhundert war es übliches Vorgehen, ein neugeborenes Kind mit DSD frühzeitig einem Erziehungsgeschlecht zuzuweisen und entsprechende operative Korrekturen zur Angleichung der Anatomie vorzunehmen. Zur Entscheidungsfindung trug hier die jeweilige Ursache der DSD bei. So entschied man sich bei Bestehen einer Androgenresistenz in der Regel für das weibliche Geschlecht. 46,XX-Kinder mit AGS wurden ebenfalls einer feminisierenden Operation unterzogen, da alles andere (Chromosomen, innere Geschlechtsorgane) weiblich waren. Nicht berücksichtigt bei letztem Beispiel wurde der pränatal bestehende mentale Androgeneinfluss. Man weiß heute, dass AGS-Mädchen ein oftmals männliches Verhalten zeigen. Ein weiteres Beispiel für eine vorschnelle Entscheidung zur Angleichung an das weibliche Geschlecht ist das Vorliegen eines 5α-Reduktase-Mangels, bei dem es in der Pubertät zu einer massiven Virilisierung kommen kann. Es wird von einer Familie in der Dominikanischen Republik berichtet, in der 16 von 18 Betroffenen, die als Mädchen aufgezogen wurden, in der Pubertät ihre Geschlechtsrolle wechselten (Imperato-McGinley et al. 1974)
Dieser Denk- und Vorgehensweise liegt eine Theorie von Money aus den 1960er-Jahren zugrunde, wonach operative Maßnahmen, Erziehung und Sozialisation für die Geschlechtsidentität entscheidend sind (Money und Ehrhardt 1972). Daraus resultierte die Vorstellung, dass frühe operative Maßnahmen eine stabile Geschlechtsidentität und entsprechendes Geschlechtsrollenverhalten garantieren („optimal gender policy“). Dabei wurden allerdings genetische, hormonelle und psychologische Faktoren vernachlässigt.
Vor einigen Jahren wurde von inzwischen erwachsenen Betroffenen eine Diskussion in Gang gesetzt, in der sie beklagten, dass andere Menschen über ihr Geschlecht bestimmt hätten. Sie forderten eine „full content policy“, wonach operative Maßnahmen verschoben werden sollen, bis die Kinder selbst entscheiden können, was sie wollen: Inzwischen liegt ein Gesetzesentwurf vor, der geschlechtsangleichende operative Maßnahmen beim nicht-einwilligungsfähigen Kind mit einer Form von DSD verbieten wird. Ausgenommen sind Maßnahmen, die bei gesundheitsbedrohlichen Situationen erforderlich sind, wie die Kortisonsubstitution bei AGS oder eine Weitung der Harnröhrenmündung bzw. Mündung des Sinus urogenitalis bei Harnverhalt oder rezidivierenden Infekten. Ansonsten dürfen auf Wunsch der Eltern keine geschlechtsmodifizierenden Eingriffe vorgenommen werden. Konfliktfälle sollen in einem Kompetenzzentrum mit einem interdisziplinären Team von Experten zur Thematik diskutiert werden. Ansonsten wird ein Familiengericht die Entscheidung treffen.
Zu operativen feminisierenden/maskulinisierenden Maßnahmen siehe Kap. „Operative Therapie bei Störungen der sexuellen Differenzierung“.

Zusammenfassung

  • Sind Geschlechtschromosomen, Keimdrüsen und/oder deren Hormonproduktion nicht kongruent, können Differenzierungsstörungen des äußeren Genitales resultieren.
  • Sexuelle Differenzierungsstörungen (DSD) werden nach der Konsensuskonferenz von 2005 eingeteilt in 46,XY-DSD (partielle/komplette Gonadendysgenesie, Testosteronbiosynthesedefekte, Leydig-Zell-Hypoplasie, 5α-Reduktase-Mangel, partielle/komplette Androgenresistenz), 46,XX-DSD (adrenogenitales Syndrom, Maskulinisierung durch exogene/endogene Androgene während der Schwangerschaft) und ovotestikuläre DSD.
  • Die meisten Formen sind für die Betroffenen ohne unmittelbaren Krankheitswert. Medikamentöse/operative Interventionen sollen, wenn überhaupt, erst wenn der Wille der Betroffenen mitberücksichtigt werden kann, durchgeführt werden. Oftmals ist die Entwicklung eine andere als primär eingeschätzt.
  • Einige Ursachen, wie Enzymdefekte der Nebenniere beim adrenogenitalen Syndrom, können neben dem inkongruenten äußeren Genitale lebensbedrohliche Komplikationen mit sich bringen, hier die fehlende Kortisonproduktion. In diesen Fällen sofortige Diagnose und Therapie.
Literatur
Grumbach MM, Conte FA et al (1998) Disorders of sex differentiation. In: Wilson JD et al (Hrsg) Williams textbook of endocrinology, 9. Aufl. WB Saunders Co, Philadelphia/London/Toronto, S 1303–1425
Hughes IA et al (2006) Consensus statement on management of intersex disorders. J Pediatr Urol 2:148–162CrossRef
Imperato-McGinley J et al (1974) Steroid 5-alpha-reductase deficiency in man: an inherited ferm of male pseudohermaphroditism. Science 186:1213–1215CrossRef
Money J, Ehrhardt AA (1972) Man and woman. Boy and girl. The John Hopkins University Press, Baltimore/London
Sinnecker GHG (1999) Störungen der Keimdrüsen und der sexuellen Entwicklung. In: Kruse K (Hrsg) Pädiatrische Endokrinologie, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart/New York, S 132–187