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Pädiatrie
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Publiziert am: 07.02.2019

Psychiatrische und psychologische Behandlung im Kindes- und Jugendalter

Verfasst von: Beate Herpertz-Dahlmann und Michael Simons
Es ist das Ziel kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung, Veränderungen im Erleben, Verhalten, in der Einstellung und ggf. körperlichen Verfassung des Patienten zu bewirken, die für den Patienten und seine Umwelt zu einer Verbesserung der Lebensqualität führen. Die moderne kinder- und jugendpsychiatrische Therapie ist störungsspezifisch und meist multidisziplinär und multimodal, d. h. umfasst unterschiedliche Berufsgruppen und Methoden (z. B. Elternberatung, individuelle Psychotherapie und medikamentöse Behandlung).

Allgemeine Gesichtspunkte

Es ist das Ziel kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung, Veränderungen im Erleben, Verhalten, in der Einstellung und gegebenenfalls in der körperlichen Verfassung des Patienten zu bewirken, die für den Patienten und seine Umwelt zu einer Verbesserung der Lebensqualität führen. Die moderne kinder- und jugendpsychiatrische Therapie ist störungsspezifisch und meist multidisziplinär und multimodal, d. h. sie umfasst unterschiedliche Berufsgruppen und Methoden (z. B. Elternberatung, individuelle Psychotherapie und medikamentöse Behandlung).

Behandlungsansätze

Der mehrdimensionale Ansatz lässt sich anhand folgender Aspekte belegen: Er ist
  • diagnosegeleitet und problemlösungsorientiert,
  • individuum- und familienorientiert,
  • mehrebenenorientiert (psychisch, somatisch, soziale Funktionen),
  • entwicklungs- und verlaufsadaptiert (Modifikation der Therapie in Bezug auf das Lebensalter und den Verlauf der Störung).
Eine Übersicht über mögliche Behandlungsansätze geht aus Tab. 1 hervor.
Tab. 1
Therapeutische Ansätze in der Kinder- und Jugendpsychiatrie (nach Herpertz-Dahlmann et al. 2008)
Störungsspezifisch
Patientenzentriert
Umweltzentriert
Somatisch
Individuell/intrapsychisch
Sozial-situativ
Medikation
Beratung
Milieutherapie: strukturelle, materielle, personelle, institutionelle, erzieherische, schulische, berufliche Maßnahmen
Ernährung
Individuelle Psychotherapie
Gruppentherapie
Körperbezogene Therapien: Krankengymnastik, Mototherapie, Entspannungsverfahren, Biofeedbackverfahren
Heilpädagogik
Familientherapie
Funktionelle Übungsbehandlungen
Erzieher-/Lehrerberatung
Weitere Verfahren: Musiktherapie, Kunsttherapie, Ergotherapie etc.
Supervision
Kooperation mit Jugendhilfe
Setting: stationär – teilstationär – ambulant – mobil – „home treatment“
Die Arzt/Patient- oder Therapeut/Patient-Interaktion sollte durch spezifische Merkmale gekennzeichnet sein:
  • Die Ziele der Diagnostik/Behandlung sollten mit dem Kind und mit den Eltern abgestimmt werden.
  • Der Arzt/Therapeut sollte Empathie, Verständnis, Akzeptanz und Wertschätzung gegenüber dem Patienten (und den Eltern) zeigen; sein Verhalten sollte authentisch sein.
  • Die Regeln der Kooperation sollten miteinander abgestimmt werden (z. B. Einwilligungsfähigkeit und Compliance des Patienten).
  • Das Behandlungsziel soll sich an den individuellen Möglichkeiten des Patienten orientieren, d. h. an seiner Begabung, seinem Durchhaltevermögen, umfeldabhängigen Ressourcen und der Veränderungsbereitschaft des Patienten und seiner Umwelt.
  • Einhaltung ethischer Prinzipien.
Die Behandlungsformen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie lassen sich bezüglich des Behandlungssettings und der Behandlungsmethoden unterscheiden. Die Behandlung hat sich an empirischen Wirksamkeitsnachweisen und/oder den Leitlinien für Diagnostik und Therapie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) zu orientieren.

Behandlungssetting

Ambulante Behandlung/Home treatment
Die ambulante Behandlung ist das häufigste und kostengünstigste Behandlungssetting. Ein weiterer Vorteil ist die Alltagsnähe. Patienten verbleiben in ihrem natürlichen Umfeld und riskieren weniger, ihre Integration in Familie, Schule und Freundeskreis zu verlieren als in der stationären Behandlung. Das Home treatment ist eine intensivere Form der ambulanten Behandlung, bei dem der Therapeut meistens mehrfach wöchentlich die Intervention im alltäglichen Umfeld des Patienten, meist mit intensiver Einbindung der Familie vornimmt.
Stationäre/teilstationäre Behandlung
Die stationäre Behandlung ist indiziert bei schweren und chronischen Störungen, wenn das Funktionsniveau des Patienten zu eingeschränkt ist, erhebliche körperliche Einschränkungen bestehen (z. B. ausgeprägte Kachexie bei der Anorexia nervosa) oder bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung (z. B. Suizidalität oder homizide Absichten). Nicht nur aus Kostengründen, sondern auch um die Integration des Patienten in seinem natürlichen Umfeld nicht zu sehr zu gefährden, sollten die stationären Liegezeiten möglichst kurz gehalten werden. Tagesklinische/teilstationäre Behandlungen bieten häufig einen guten Kompromiss zwischen ambulanter und vollstationärer Behandlung, dienen der Verkürzung des stationären Aufenthaltes oder der schrittweisen Wiedereingliederung bzw. Belastungserprobung im Anschluss an eine stationäre Behandlung.

Behandlungsformen

Primäre Behandlungsformen sind die psychotherapeutische und die pharmakologische Behandlung. Je nach Schweregrad empfiehlt sich eine Kombination dieser beiden Behandlungsformen. Die Annahme, dass eine Kombinationsbehandlung immer besser als eine Monotherapie ist, ist empirisch nicht belegt.
Neben diesen primären Behandlungsformen können mithilfe eines interdisziplinären Teams ergänzende übende, kreative oder aktivierende Therapieformen (Ergotherapie, Krankengymnastik, Sporttherapie, Kunsttherapie, Musiktherapie) indiziert und hilfreich sein. Insbesondere sehr junge und schwerkranke Patienten profitieren von diesen sog. nonverbalen Behandlungsformen. Bei der Behandlung von Essstörungen hat die Ernährungsberatung einen hohen Stellenwert. Zur Behandlung von Teilleistungsstörungen von Lesen, Schreiben und Rechnen empfehlen sich Lerntherapien (Tab. 1).

Psychotherapie

In der Psychotherapie werden störungsübergreifende unspezifische und störungsspezifische Behandlungsansätze unterschieden.

Störungsübergreifende unspezifische Therapieverfahren

In psychoanalytischen und tiefenpsychologischen Therapieverfahren stehen weniger das offene Verhalten und bewusste Gedanken im Fokus. Die Probleme der Patienten werden eher auf unbewusste Denkprozesse, die nach dem tiefenpsychologischen Konzept durch frühkindliche Interaktionsprozesse mit den primären Bezugspersonen geprägt sind, zurückgeführt. Diese werden im möglichst wenig vorstrukturierten Gespräch, im Spiel und dabei auch in der Interaktion mit dem Therapeuten deutlich. Das Kind überträgt nach diesem Konzept seine frühen Beziehungserfahrungen auf die Beziehung zum Therapeuten. In der Therapie kann das Kind dann korrigierende Beziehungserfahrungen machen.
In der systemischen Familientherapie wird davon ausgegangen, dass der Sinn der Symptome nur begreifbar wird, wenn die familiären Interaktionen, in die die Symptome eingebettet sind, verstanden werden. Allein die Einigung der Familienmitglieder darauf, was als Störung oder Problem betrachtet wird, wird hier als Anzeichen problematischer Interaktionsmuster betrachtet. Daher steht die Auflösung dieser pathologisierenden Zuschreibung im Fokus der Behandlung.
Die unspezifischen Therapieverfahren beschäftigen sich weniger mit offensichtlichen Verhaltensweisen oder gut zugänglichen Gedanken (psychoanalytische und tiefenpsychologische Therapie) oder möglichst objektiv festgestellten Diagnosen (systemische Therapie). Genau diese Faktoren sind jedoch wesentlich bei der empirischen Wirksamkeitsüberprüfung von Psychotherapie. Die unspezifischen Therapieverfahren sind daher nicht leicht zu überprüfen; entsprechend liegen weniger empirische Wirksamkeitsnachweise vor. Dennoch werden diese Therapieverfahren häufig verwandt.

Störungsspezifische Psychotherapie

Grundannahmen
Insbesondere innerhalb der Verhaltenstherapie (VT) und ihrer Weiterentwicklung zur kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) liegen gut überprüfte störungsspezifische Therapieprogramme vor. Der Behandlung geht eine umfassende und an objektiven Maßstäben orientierte Diagnostik voraus. Im Rahmen der Psychoedukation werden mit den Patienten und den Eltern möglichst transparent die Faktoren besprochen, die die Symptomatik aufrechterhalten und die zu einer Minderung und ggf. Remission der Symptome führen können. In der Verhaltenstherapie sind dies Lernerfahrungen, die den Regeln der klassischen und operanten Konditionierung oder des sozialen Lernens folgen. Lernen bedeutet hier, dass sich die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens verändert, d. h. sich bei unerwünschtem, krankhaftem Verhalten vermindert, bei erwünschtem Verhalten erhöht.
Klassische Konditionierung (Signallernen)
Eine Reaktion wird durch Assoziation mit einem unkonditionierten Reiz gelernt. Beispiel: Das Kind assoziiert den weißen Arztkittel mit einer schmerzhaften Punktion, die es erhalten hat, und beginnt, sich vor weißen Kitteln zu fürchten.
Operante Konditionierung (Lernen am Erfolg)
Ein Verhalten tritt deswegen häufiger auf, weil es mit positiven Konsequenzen assoziiert wird. Dabei werden positive und negative Verstärkung unterschieden. Positive Verstärkung meint das Hinzufügen eines positiven Reizes. Beispiel: Das Kind meistert die Punktion mutig, die Ärztin lobt das Kind. Außerdem darf es sich noch ein kleines Spielzeug aus der Geschenkebox aussuchen. Bei der negativen Verstärkung besteht die (indirekte) Belohnung in der Beendigung (oder des Wegfalls) eines negativen Reizes. Beispiel: Das Kind kooperiert sehr gut bei der Punktion, die deshalb fast schmerzfrei erfolgt. Bei der Löschung wird ein Verhalten abgebaut, indem es ignoriert wird. Dies kann gut mit positiver Verstärkung für angemessenes Verhalten kombiniert werden. Beispiel: Das Kind zeigt vor der Punktion störendes Verhalten. Die Ärztin wendet sich erst ab. Als das Kind sich beruhigt und angemessener verhält, wendet sich die Ärztin ihm wieder zu, lächelt und sagt: „Du machst das gut, wir kriegen das hin.“
Soziale Lerntheorie/Lernen am Modell
Ein Verhalten kann durch Berichte von anderen oder direkte Beobachtung gelernt werden. Beispiel: Ein Mädchen sieht zu, wie ihr großer Bruder große Angst bei einer Impfung hat, und entwickelt darauf selbst Angst vor der anstehenden Impfung.
Kognitive Therapie
In der kognitiven Therapie ist weniger die beobachtete Situation bzw. der Reiz für die Reaktion ausschlaggebend, als vielmehr die Interpretation dieses Reizes. Beispiel: Ein Kind wacht nachts von einem knackenden Geräusch auf. Es denkt, dass das Geräusch von einem Einbrecher stammt und bekommt Angst. Dann sieht es die Katze vorbeilaufen und denkt, dass sie die Ursache des Geräusches war. Das Kind beruhigt sich. Die kognitive Therapie zielt auf Veränderung problematischer Kognitionen (wie z. B. „Ich bin ein Versager“) ab, wodurch sich dann auch Erleben und Verhalten verändern können. Eine Weiterentwicklung der kognitiven Therapie ist die metakognitive Therapie, bei der nicht die problematischen Gedankeninhalte, sondern dysfunktionale Denkprozesse wie Grübeln und Sich-Sorgen-Machen abgebaut werden.
Familientherapie
Die Familientherapie als Behandlungssetting ist fester Bestandteil in störungsspezifischen/verhaltenstherapeutischen Verfahren. Als Faustregel gilt dabei: Je jünger das Kind ist, desto mehr werden die Eltern in die Behandlung mit einbezogen. Bei Vorschulkindern wird häufig schwerpunktmäßig mit den Eltern gearbeitet, während sie in die Behandlung mit älteren Jugendlichen nur noch reduziert mit einbezogen werden.

Anwendung auf einzelne Störungsbilder

Angststörungen

Angststörungen wie die Trennungsangst werden aufrechterhalten durch Denkfehler (z. B. „Es ist gefährlich, von meinen Eltern getrennt zu sein“), perseverierende Denkprozesse (übermäßiges Sich-Sorgen-Machen), Vermeidungsverhalten (z. B. nicht in die Schule gehen) und übermäßiges Einholen von Rückversicherungen bei den Eltern („Versprich mir, dass du nicht weggehst!“). Die Eltern regulieren die kindlichen Ängste viel mehr als das Kind selbst, sodass dieses nicht lernt, die Trennung von den Eltern einzuüben. Ungewollt verstärken die Eltern das Angstverhalten des Kindes positiv (mit vermehrter Zuwendung) und negativ (durch Erlassen des Schulbesuchs und Einholen einer Krankschreibung beim Kinderarzt). In der Behandlung werden die Eltern über die ungewollten Konsequenzen ihres Verhaltens aufgeklärt. Mit dem Kind wird ein Plan entwickelt, den Schulbesuch stundenweise aufzubauen und die dabei aufkommenden Ängste zu ertragen (gestufte Konfrontations- oder Expositionstherapie). Die Erfolge des Kindes werden mittels eines Punkteplanes festgehalten und belohnt. Das Kind lernt, seine fehlerhafte Annahme („Es ist gefährlich, von meinen Eltern getrennt zu sein“) zu revidieren: „Es ist nicht gefährlich, ich kann die Angst ertragen, die Angst ist nur vorübergehend.“

Zwangsstörungen

Bei Zwangsstörungen – hier am Beispiel des Waschzwangs erklärt – bestehen Zwangsgedanken, durch Kontakt mit Türklinken, Geldstücken, anderen Menschen etc. kontaminiert worden zu sein. Diese Gedanken lösen große Angst aus, die durch übermäßiges und ritualisiertes Händewaschen reduziert werden können (negative Verstärkung). Die Hände werden zunehmend trocken und gerötet, was zu vermehrtem Juckreiz führt, der wiederum die Befürchtung, kontaminiert zu sein, befördert. Zudem wird im Rahmen der Zwangsstörung die Bedeutung der Gedanken überschätzt, sie signalisieren dem Kind Gefahr. Versuche, diese Gedanken zu unterdrücken, bewirken paradoxerweise eher eine Zunahme der Gedanken („Reboundeffekt“). Die Behandlung der Wahl ist die Exposition mit Reaktions- bzw. Ritualverhinderung. Das Kind lernt zunehmend, vermeintlich kontaminierte Gegenstände anzufassen und aufkommende Ängste zu ertragen, ohne sich die Hände zu waschen. Kognitive oder metakognitive Interventionen zielen auf die Veränderung der Bewertung der Gedanken ab: Sie sind „falscher Alarm“ oder eben „einfach nur Gedanken“. Eine erfolgreiche Therapie beinhaltet ein Zulassen und „Vorbeilaufenlassen“ der Gedanken.

Depressive Störungen

Depressive Störungen gehen häufig mit sozialem Rückzug einher. Dadurch hat das Kind weniger Gelegenheit, positive Erfahrungen mit anderen Kindern zu machen (Verstärkerverlust). Es grübelt stundenlang darüber nach, warum alles so schwierig ist, und kommt zu dem Schluss: „Ich bin nicht normal, deswegen mag mich niemand. Damit ich nicht immer wieder auf Ablehnung stoße, ziehe ich mich lieber noch mehr zurück.“ Es wird zunehmend lustlos. Die Eltern reagieren besorgt und machen Vorschläge, was das Kind Schönes unternehmen könnte. Das Kind fühlt sich dazu jedoch nicht in der Lage, weil es sich nicht so gut fühlt und demotiviert ist. In der Therapie lernt das Kind, dass übermäßiges Grübeln die Stimmung nur noch weiter verschlechtert. Es lernt Techniken, das Grübeln zu reduzieren („Das sind nur Gedanken, ich kümmere mich später darum“) und seinen Gefühlen entgegenzuhandeln: Anstatt – den Gefühlen folgend – sich zurückzuziehen, aufs Bett zu legen und traurige Musik zu hören, soll es schrittweise sein Aktivitätsniveau erhöhen (Verhaltensaktivierung) und darüber mehr Gelegenheit erhalten, positive (belohnende) Interaktionserfahrungen zu machen. Es lernt, die Bedeutung der Gefühle zu modifizieren („Warte nicht auf das richtige Gefühl, um aktiv zu werden, sondern verändere deine Gefühle dadurch, dass du aktiv wirst“). In der kognitiven Umstrukturierung wird deutlich, dass die Gedanken, nicht normal zu sein, Folge des übermäßigen Grübelns sind. Ferner kann das Kind seine Überzeugungen dadurch revidieren, dass es sich in neu geknüpften Beziehungen als wertgeschätzt erlebt.

Pharmakotherapie

In diesem Abschnitt soll weniger auf einzelne Medikamente als auf allgemeine Behandlungsprinzipien der Psychopharmakologie eingegangen werden, da die unterschiedlichen Substanzen in den Kapiteln zu den jeweiligen Störungen dargestellt werden.
In der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist Pharmakotherapie fast nie die einzige Therapieoption. Sie ist – wie bereits oben beschrieben – in ein multimodales Therapiekonzept eingebunden und wird in fast allen Fällen mit psychotherapeutischen Verfahren, Psychoedukation oder einer Übungsbehandlung bzw. Lerntherapie kombiniert. Bei einigen Krankheitsbildern wie der Depression ist es sogar obsolet, eine Pharmakotherapie ohne Psychotherapie durchzuführen. Bei leichteren oder mittelschweren Erkrankungen (z. B. Depression, Zwangsstörung oder Bulimie) empfehlen die meisten Leitlinien, primär mit einer psychotherapeutischen Behandlung zu beginnen und erst bei Nichtansprechen auf diese Therapie nach 6–8 Terminen eine medikamentöse Therapie zu initiieren. In manchen Fällen – z. B. bei einer schweren Depression – kann aber auch eine medikamentöse Behandlung den psychotherapeutischen Zugang erst ermöglichen.
Behandlungsindikation
Es gibt absolute und relative Behandlungsindikationen. Beispiele für absolute Behandlungsindikationen sind psychotische Erkrankungen aus dem schizophrenen oder bipolaren Formenkreis sowie Zustände mit ausgeprägter Eigen- oder Fremdgefährdung, wobei es sich bei Letzterem in den meisten Fällen nicht um eine Dauermedikation handelt. Für eine relative Behandlungsindikation, die bei der Mehrzahl der psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters zutrifft, sind verschiedene Gesichtspunkte zu berücksichtigen:
  • Schweregrad der Störung,
  • Alter des Patienten (z. B. keine Psychostimulanzien bei Kleinkindern),
  • Compliance des Patienten (z. B. regelmäßige Einnahme, zusätzlicher Alkohol- oder Drogenmissbrauch, Missbrauch von Psychostimulanzien zur Gewichtsabnahme),
  • subjektive Betroffenheit und Leid des Patienten (z. B. bei der Tic-Störung),
  • Einschränkung der sozialen Integration und daraus resultierende Sekundärsymptome (z. B. depressive Entwicklung bei einem Kind mit ADHS),
  • Verlauf der Erkrankung (z. B. Rückfallrisiko, Entwicklung komorbider Erkrankungen),
  • Selbst- und Fremdgefährdung (z. B. Suizidgefahr bei trizyklischen Antidepressiva oder Lithiumtherapie).
Rechtliche Besonderheiten
In der Regel müssen beide Sorgeberechtigte bis zur Vollendung des 17. Lebensjahres in die Behandlung ihres Kindes einwilligen, da eine Therapie mit Psychopharmaka nicht als Angelegenheit des alltäglichen Lebens anzusehen ist. Bei entsprechender Reife muss der Jugendliche auch selbst einer Behandlung zustimmen, in bestimmten Fällen kann er gegen den Willen seiner Eltern in eine Behandlung einwilligen. In diesen Fällen sollte die kognitive und emotionale Reife des Patienten genau überprüft und dokumentiert werden. Die Aufklärung des Patienten sollte entsprechend seiner Entwicklung erfolgen, sie ist unabhängig von seiner Einwilligungsfähigkeit. Dem Patienten sollte immer auch die Möglichkeit eingeräumt werden, allein mit dem Arzt zu sprechen und seine Bedenken bezüglich einer Medikation vorzutragen.
Nicht zugelassene Medikamente (sog. Off-label-Gebrauch)
Ähnlich wie in der Pädiatrie sind viele Psychopharmaka nicht für das Kindes- (und manchmal Jugendalter) zugelassen, sodass sich bei der Verordnung Probleme stellen. Bei unzureichender Prüfung besteht für das entsprechende Lebensalter ein erhöhtes Risiko für Nebenwirkungen bzw. für eine unwirksame Therapie. Da auch Kindern und Jugendlichen bei entsprechender Indikation eine Pharmakotherapie nicht vorenthalten werden kann, werden Medikamente im Rahmen eines „individuellen Heilversuchs“ verabreicht, wenn z. B. eine Wirksamkeit bei dem entsprechenden Störungsbild bei Erwachsenen bekannt ist. Dabei ist eine Aufklärung des Patienten und seiner Sorgeberechtigten über das Medikament mit Vorteilen und Risiken sowie die Information über Alternativbehandlungen besonders wichtig und dokumentationspflichtig.

Freiheitsentziehende Behandlungsmaßnahmen

Entgegen landläufiger Vorurteile sind freiheitsentziehende Maßnahmen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie nur sehr selten erforderlich. Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die von Deutschland 1992 unterschrieben wurde, stellt fest, dass „keinem Kind die Freiheit rechtswidrig oder willkürlich“ entzogen werden darf. „Festhalten, Freiheitsentzug oder Freiheitsstrafe darf bei einem Kind in Einklang mit dem Gesetz nur als letztes Mittel und für die kürzeste angemessene Zeit angewendet werden“ (Art. 37, UN-Kinderrechtskonvention). Gründe für eine Einweisung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie gegen den Willen eines Kindes können nur erhebliche Eigen- oder Fremdgefährdung bei Vorliegen einer psychischen Störung sein. Aggressives Verhalten, das nicht durch eine psychische Störung bedingt ist, ist kein hinreichender Grund für eine Aufnahme in die Kinder- und Jugendpsychiatrie, obwohl diese Vorstellung weit – auch bei ärztlichen Kollegen – verbreitet ist. Die Rechtsgrundlage für den Freiheitsentzug bei Kindern und Jugendlichen stellt im Allgemeinen ein Antrag der Personensorgeberechtigten nach § 1631 b BGB dar, über den das Familiengericht seit 1998 entscheidet: „Eine Unterbringung des Kindes, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, bedarf der Genehmigung des Familiengerichts. Die Unterbringung ist zulässig, wenn sie zum Wohl des Kindes, insbesondere zur Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung, erforderlich ist und der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch andere öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist; die Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen.“
Das Gericht hat die Genehmigung zurückzunehmen, wenn das Wohl des Kindes die Unterbringung nicht mehr erfordert. Der Richter muss selbst den Betroffenen befragen.
2017 ist vom Gesetzgeber der § 1631 b BGB dahingehend erweitert worden, dass jetzt auch eine Genehmigung des Familiengerichts eingeholt werden muss, wenn einem Kind während des Aufenthalts im Krankenhaus, Heim oder in einer sonstigen Einrichtung „durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig in nicht altersgerechter Weise die Freiheit entzogen werden soll.“ Diese Änderung war erforderlich, nachdem der Bundesgerichtshof 2013 (XII ZB 559/11) vor dem Hintergrund der damaligen Gesetzeslage eine Notwendigkeit zur Genehmigung unterbringungsähnlicher Maßnahmen (in diesem Fall: durchgängige nächtliche Fixierung eines 10-jährigen Kindes mit frühkindlichen Autismus und geistiger Behinderung in einer offenen Heimeinrichtung) verneint hatte. Für Volljährige müssen solche Maßnahmen nach § 1906, Abs. 4 durch das Betreuungsgericht genehmigt werden. Dagegen hatte der BGH im genannten Fall keine Genehmigungserfordernis nach § 1631 b BGB gesehen und die Genehmigung für die durchgeführten Fixierungsmaßnahmen in den Entscheidungsrahmen der elterlichen Sorge gelegt. Auch wenn durch die in der Novellierung verwendete Wortwahl („über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig“) kurzfristig durchgeführte unterbringungsähnliche Maßnahmen in der Akutbehandlung (z. B. die Fixierung eines deliranten Kindes im Rahmen einer Enzephalitis) von der Novellierung des § 1631 b BGB nicht tangiert scheinen, ist davon auszugehen, dass vor dem Hintergrund der Novellierung des § 1631 b BGB auch in Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin, ähnlich wie in offenen Heimeinrichtungen in stärkerem Maß als in der Vergangenheit überprüft werden muss, ob in der Behandlung notwendige Zwangsmaßnahmen genehmigungspflichtig sind.
Der Fokus des Gesetzes liegt eindeutig auf dem Kindeswohl, während das sog. Unterbringungsgesetz der Länder eine allgemein-öffentliche Gefahrenabwehr zum Ziel hat (z. B. § 11 PsychKG NRW).
Stimmen die Eltern einer freiheitsentziehenden Maßnahme nicht zu, die aber durch den behandelnden Arzt als notwendig erachtet wird (z. B. bei Vorliegen einer Schizophrenie), kann eine Inobhutnahme durch das Jugendamt nach § 42 SGB VIII für die Begleitung zur Untersuchung/Einleitung einer Behandlung erfolgen.
Freiheitsentziehende Maßnahmen können lebensrettend sein; sie sollten aber nur als Ultima Ratio bei akuter Suizidalität und/oder schweren psychischen Störungen wie Schizophrenie oder bipolaren Erkrankungen, lebensgefährlichem Untergewicht bei Anorexia nervosa oder Intoxikationen mit deutlich herabgesetzter Steuerungsfähigkeit oder vitaler Gefährdung eingesetzt werden.
Weiterführende Literatur
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