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DGIM Innere Medizin
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Publiziert am: 30.12.2023

Alport-Syndrom

Verfasst von: Oliver Gross
Bei jeder glomerulärer Mikrohämaturie oder Mikroalbuminurie sollte in der Inneren Medizin das Alport-Syndrom als die häufigste monogenetische Nierenerkrankung in die Differenzialdiagnose mit eingeschlossen werden. Das Alport-Syndrom ist ursächlich für 3 bis 10 % aller chronischen Nierenerkrankungen. Varianten in den Typ-IV-Kollagen-Genen führen zur mechanischen Instabilität der glomerulären Basalmembran und Nierenversagen, teils auch zu Innenohrschwerhörigkeit und Augenveränderungen. 1 % der Gesamtbevölkerung trägt heterozygote Alport-Risiko-Varianten. ACE-Hemmer verzögern abhängig vom Therapiebeginn das Nierenversagen um Jahrzehnte und verbessern die Lebenserwartung. Die Prognose an Dialyse und nach Nierentransplantation ist besser als die von Gleichaltrigen mit anderen Nierenerkrankungen. In naher Zukunft sollen es SGLT2-Antagonisten und Gentherapie ermöglichen, dass – kombiniert mit früher Diagnose und internistischer Fürsorge – viele Betroffene gar nicht mehr dialysepflichtig werden.

Einleitung

Das Alport-Syndrom (AS) ist eine erbliche Typ-IV-Kollagen-Erkrankung. Zu den klassischen Symptomen gehören Hämaturie und Proteinurie als Zeichen der progressiven Nierenerkrankung, Innenohrschwerhörigkeit und typische Augenveränderungen. Die für das AS charakteristischen Verdünnung oder Aufsplitterung der glomerulären Basalmembran (GBM) der Niere werden durch Varianten in Typ-IV-Kollagen-Genen verursacht, die letztlich in eine – häufig mit einer fokal segmentalen Glomerulosklerose (FSGS) (Kap. „Fokal Segmentale Glomerulosklerose (FSGS)“) verwechselten – globale Vernarbung enden (Abb. 1) (Krügel et al. 2013).
Die Vererbung des AS erfolgt in 85 % der Fälle X-chromosomal (COL4A5-Gen), autosomal in 10–15 % (COL4A3- und COL4A4-Gene). Fast 1 % der Bevölkerung sind (autosomale) heterozygote Träger von Alport-Risiko-Gen-Varianten. Das 1. Symptom des AS ist die glomeruläre (Mikro-) Hämaturie. Die Mikrohämaturie ist den heterozygoten Risikogen-Trägern aufgrund der fehlenden klinischen Symptomatik oft nicht bewusst: da diese früher fälschlich als familiäre benigne Hämaturie oder thin basement membrane disease bezeichnete Erkrankung in 1 % bis zu 40 % im höheren Alter zur Nierenfunktionseinschränkung und Dialyse führt, wird die Erkrankung unter dem Oberbegriff „Alport-Syndrom“ zusammengefasst (Kashtan et al. 2018). Das schwere Vollbild des AS mit 100 % Dialyserisiko hingegen entwickeln die homozygoten/compound heterozygoten autosomalen und die hemizygoten X-chromosomalen Patienten (Häufigkeit 1:50.000 bzw. 1:5000) (Krügel et al. 2013).

Pathophysiologie

Typ-IV-Kollagen ist struktureller Hauptbestandteil der Basalmembranen der Gefäße. Dessen hohe Flexibilität wird durch den langen Kollagenschwanz in Triple-Helix-Struktur erreicht. Dessen enge Verdrillung wird durch Glycin ermöglicht, denn nur das kleine Glycin passt als jede 3. Aminosäure in die inneren Windungen. Beim AS führen daher Glycin-Varianten zum Abknicken der Tripel-Helix-Struktur, andere Genvarianten zum vorzeitigen Kettenabbruch und so zu Aufsplitterungen und Lamellierungen der GBM. Zusätzliche Disulfidbrücken des α3/α4/α5(IV)-Netzwerks führen im Gesunden in GBM, Innenohr und Augenlinse zur notwendigen erhöhten mechanischen Stabilität, die beim AS durch den Gendefekt nicht mehr möglich ist: Die vulnerable Basalmembran führt beim klassischen AS zum terminalen Nierenversagen. Der Verlauf ist vom Gendefekt abhängig: Varianten, die ein verkürztes Kollagenprotein bewirken, sprechen schlechter auf die Therapie an und führen – unbehandelt – im Mittel schon im Jugendalter und damit signifikant früher zum Nierenversagen als Varianten, die „nur“ die Proteinstruktur verändern (wie Missense- und In-frame-Varianten) (Boeckhaus et al. 2022). Der Podozyt ist bei der Pathogenese des AS die zu schützende Schlüsselzelle: Nur der Podozyt kann das α3/α4/α5(IV)-Netzwerk exprimieren. So reagiert er beim AS auf den GBM-Defekt mit einer Defektheilung, die im Zelluntergang und Fibrose mündet. Die nachfolgende Hyperfiltration der restlichen Nierenkörperchen und eine sekundäre tubulointerstitielle Fibrose sind weitere wichtige therapeutische Targets.

Epidemiologie/Alter/Gender

Die Häufigkeit des X-chromosomalen AS wird auf 1:5000 geschätzt. Die hemizygoten männlichen Patienten haben einen schweren Verlauf mit 100 % Dialyserisiko. Die zufällige X-Inaktivierung bedingt auch bei heterozygoten Patientinnen ein – unbehandelt – sehr hohes 30 bis 40 %-iges Dialyserisiko. Das autosomal-rezessive AS (homozygot order compound heterozygot) hat – weitestgehend unabhängig vom Geschlecht – einen schweren Verlauf mit 100 % Dialyserisiko. Die Häufigkeit des autosomal-rezessiven AS liegt bei 1:50.000. Hier ist Vorsicht geboten, denn damit beträgt die Heterozygotenhäufigkeit in der Gesamtbevölkerung 1:100. Fast 1 % sind also (autosomal) heterozygote Träger von Alport-Risiko-Gen-Varianten.
Die Zahl an behandelbaren Kindern mit AS im deutschsprachigen Raum übertrifft damit 1000 und die der Erwachsenen liegt bei weit über 10.000. Leider werden mehr als 1/3 aller Betroffenen – trotz jahrelanger Mikrohämaturie als Frühwarnzeichen – erst im Erwachsenenalter mit schon stark eingeschränkter Nierenfunktion (und kaum noch behandelbar) diagnostiziert.

Klinik

Der Gendefekt beim AS ist zwar angeboren, entwickelt sich aber durch die „Reifung“ der Basalmembranen in den 1. Lebensjahren. Bei nicht so schweren Gendefekten, insbesondere bei heterozygoten Fällen, treten die ersten Symptome erst im Erwachsenenalter auf.
Das typische Erstsymptom des AS ist die Mikrohämaturie, seltener die Mikro-Albuminurie. Leitsymptome des klassischen (100 % Dialyserisiko, X-chromosomal hemizygot oder autosomal-rezessiv) Alport-Syndroms sind
(1)
zu 100 % eine Mikrohämaturie (später einhergehend mit Proteinurie und Niereninsuffizienz);
 
(2)
in 60–80 % eine Innenohrschwerhörigkeit und
 
(3)
in 20–40 % Augenveränderungen.
 
Spezielle Fälle des X-chromosomalen AS (große Deletionen im gemeinsamen Promotorbereich der COL4A5- und COL4A6-Gene) gehen mit einer Leiomyomatose insbesondere des Ösophagus (selten auch Colon und Uterus) einher.
Das klassische AS ist durch den Gendefekt immer progredient und führt immer zur Dialyse. Das Fortschreiten der Nierenerkrankung kann aber durch eine Therapie deutlich verlangsamt werden. Mit voranschreitender Niereninsuffizienz wird die Klinik geprägt durch Komplikationen der chronischen Nierenerkrankung, wie dem nephrotischen Syndrom, einem deutlich erhöhten kardiovaskulären Risiko, einem renalen Hypertonus, einer renalen Anämie, Wachstumsstörungen, Infektanfälligkeit. Die Lebensqualität der Heranwachsenden und jungen Erwachsenen sind deutlich reduziert, dies erklärt auch die erhöhte Rate an Depressionen als Begleiterkrankung.
Das klassische AS führt unbehandelt im 2. bis 3. Lebensjahrzehnt zur Nierenersatztherapie. Dies bedingt eine reduzierte Lebenserwartung. Durch eine gute internistische Betreuung und frühe Therapie kann das terminale Nierenversagen um Jahrzehnte, teils sogar bis ins Rentenalter und darüber hinaus verzögert werden (Boeckhaus et al. 2022).
Das heterozygote AS bedingt ein Dialyserisiko von „nur“ 1 % (autosomal-heterozygot) bis 40 % (X-chromosomal heterozygot). Durch die hohe Heterozygotenzahl sind zahlenmäßig aber wahrscheinlich mehr Heterozygote im Rentenalter an der Dialyse als Betroffene mit klassischem AS. Durch gute internistische Betreuung und frühe Therapie kann das Dialyserisiko bei Heterozygoten wahrscheinlich von bis zu 40 % auf unter 1 % gesenkt werden (Stock et al. 2017).

Diagnostik (klinisch, Labor, Bildgebung)

Die Diagnose Alport-Syndrom folgt den Grundregeln der Inneren Medizin: Die (Verdachts-)Diagnose wird zuallererst klinisch gestellt und dann durch genetische Untersuchung oder Nierenbiopsie bestätigt.

Diagnosekriterien

Die klinischen Diagnosekriterien sind:
(1)
persistierende Mikrohämaturie (und/oder Mikro-Albuminurie);
 
(2)
positive Familienanamnese bezüglich Mikro-Hämaturie (oder generell Nierenerkrankung);
 
(3)
Innenohrschwerhörigkeit;
 
(4)
Augenveränderungen (Lenticonus anterior oder posterior; Makulaflecken).
 
Sind 2 von 4 klinischen Diagnosekriterien erfüllt, liegt die Wahrscheinlichkeit für einen positiven genetischen Befund bei über 50 %, bei 3 von 4 Diagnosekriterien ist die Genetik zu über 80 % positiv.
In der Frühdiagnostik hat die persistierende Mikrohämaturie eine überragende Bedeutung. Die S3-Leitlinie „Abklärung der Mikrohämaturie bei Kindern und jungen Erwachsenen zur Früherkennung von Nierenerkrankungen“ ist derzeit in Entstehung. In naher Zukunft auch denkbar ist die Bestimmung von Frühmarkern im Urin mittels ELISA.

Niere

Die über mehrere Tage persistierende Mikrohämaturie (und/oder Mikro-Albuminurie) wird durch mehrere Spontanurin-Untersuchungen diagnostiziert. Die Akanthozyten im Urinsediment sind das erste sehr wichtige Zeichen von GBM-Rupturen beim AS. Der Urin muss hierzu vom erfahrenen Personal im Phasenkontrast eigenhändig (nach-)untersucht werden, weil viele Laborstraßen nicht darauf programmiert sind, Akanthozyten zu erkennen. Die positive Familienanamnese ist den (heterozygoten) Betroffenen in der Familie oft nicht bewusst, daher sollten alle Familienmitglieder mittels Urinstix untersucht werden.

Innenohr

Die Innenohrschwerhörigkeit wird im 4-pure-tone-average (4PTA)-Audiogramm evaluiert. Charakteristisch ist die Schwerhörigkeit im Sprachbereich (Maximum bei 1–3 kHz). Sie beginnt ab dem Kindergartenalter, aber häufig auch erst später, daher sind alle 3 Jahre Kontrolluntersuchungen sinnvoll.

Auge

Die Augenveränderungen als mechanische Ausbuchtungen der Augenlinse (Lenticonus anterior oder posterior) finden sich frühestens ab dem Grundschulalter. Sie werden ohne Spaltlampenuntersuchung gerne als Fehlsichtigkeit oder Astigmatismus fehlgedeutet. Daher sollten sie immer speziell eine Spaltlampenuntersuchung anfordern. Ebenfalls charakteristisch sind Makulaflecken und eine (temporale) Netzhautverdünnung, die mittels Optischer Kohärenztomografie (optical coherence tomography, OCT) gefunden wird.

Genetik

Goldstandard für die Diagnosebestätigung ist die genetische Untersuchung, insbesondere mittels next-generation-sequencing (NGS) panel. Diese hochqualitative Multi-Gen-Panel-Diagnostik wird von mehreren Laboren angeboten und ist ambulanten Bereich zumeist extrabudgetär (Überweisungsschein Labor, Muster 10). Noch besser ist die Überweisung der Familie mit der Verdachtsdiagnose AS in die Humangenetik zur Beratung und Diagnosesicherung. Jeder positive genetische Befund muss eine breite Umfelddiagnostik der gesamten Familie nach sich ziehen.

Nierenbiopsie

Die Nierenbiopsie kann die klinische Diagnose nur dann ergänzen, wenn die Biopsie elektronenmikroskopisch aufgearbeitet wird. Pathognomonisch für das AS sind eine Verdünnung, Aufsplitterung oder Lamellierung der GBM. Die klassische lichtmikroskopische Fehldiagnose beim AS ist die FSGS (Kap. „Fokal Segmentale Glomerulosklerose (FSGS)“). 30–40 % aller FSGS-Fälle werden eigentlich durch das AS verursacht und als FSGS fehlgedeutet, da das AS auch eine Podozytopathie ist. Daher sollte jeder FSGS-Befund dahingehend hinterfragt werden, ob nicht doch ein AS vorliegt. Im Zweifel sollte die Genetik angefordert werden. Die Therapien von AS und FSGS unterscheiden sich grundlegend und ebenso unterscheidet sich die Rekurrenzrate im Nierentransplantat.

Differenzialdiagnostik

Die Zahl der Differenzialdiagnosen ist groß (Kap. „Erbliche und kongenitale Erkrankungen der Nieren und des UGT“). Oft hilft die genetische Paneldiagnostik weiter: Ohne die genetische Untersuchung werden nur 1/3 der Fälle von chronischer Niereninsuffizienz aufgrund von AS auch wirklich als AS eingeordnet. Mit anderen Worten: Über 2/3 der Erwachsenen mit einer Niereninsuffizienz aufgrund von AS laufen u. a. Diagnosen wie FSGS (25 %), andere Glomerulonephritis (20 %), Hypertonie (5 %), kongenitale Fehlbildung (5 %) oder unbekannt (15 %) (Groopman et al. 2019). Die Therapien anderer Nierenerkrankungen unterscheiden sich z. T. erheblich von der Therapie des AS und auch die Prognose kann sehr unterschiedlich sein.
Jede Differenzialdiagnostik muss daher eine breite Familienanamnese und ggf. Umfelddiagnostik der gesamten Familie umfassen. Die Veränderungen an Innenohr und Auge sind größtenteils so pathognomonisch für das AS, dass die genaue HNO- und augenärztliche Untersuchung eine hohe Bedeutung haben.
Die Nephrologie sollte letztendlich den weiteren Bereich der Differenzialdiagnose abdecken, der über den generellen Bereich der Inneren Medizin hinausgeht. Da sich die Phänotypen vieler Nierenerkrankungen sehr überlappen können, hilft auch in der speziellen Nephrologie oft die ergänzende genetische Paneldiagnostik.
Bei allen chronischen Nierenerkrankungen ist ohnehin eine lebenslange fachärztliche internistische bzw. nephrologische Betreuung notwendig, unabhängig davon, um welche proteinurische Nierenerkrankung es sich letztlich handelt.

Therapie

Rationale der Therapie

Die Nierenkörperchen filtrieren pro Tag ca. 170 L Primärharn durch die GBM. Die Natur hat dafür in der Evolution vom Wasser ans Land bei allen Säugetieren das mechanisch besonders stabilen α3/α4/α5(IV)-Netzwerk geschaffen, das beim AS defekt ist. Bei der Therapie des AS steht daher der Schutz der vulnerablen GBM vor übermäßigem Filtrationsdruck im Fokus. Statt 100 % Leistung (oder gar 120 % bei Hyperfiltration) soll die Niere beim AS lebenslang in einen 80 % Leistung Schonwaschgang versetzt werden. Dabei steht das Überleben der Podozyten im Vordergrund: als post-mitotische Zelle reagiert der Podozyt bei Überlastung auf die schadhaft aufgebaute GBM mit einer frustranen Defektheilung, die im Zelluntergang (konsekutive FSGS) und generelle Fibrose mündet. Die nachfolgende Hyperfiltration der restlichen Nierenkörperchen und eine sekundäre tubulointerstitielle Fibrose sind weitere wichtige therapeutische Targets. Unterschätzen Sie daher beim AS nicht die Bedeutung der nicht-medikamentösen Maßnahmen bei der lebenslangen Betreuung Ihrer Patientinnen und Patienten.

Supportive Maßnahmen

Die supportiven Maßnahmen verzögern nicht nur das Fortschreiten der Nierenerkrankung, sondern adressieren auch das hohe kardiovaskuläre Risiko und verbessern so auch die Lebenserwartung (Abb. 2):
  • Zielblutdruck unter 125/75 mmHg in der 24-Stunden-Messung: Die strenge Blutdruckeinstellung soll die Eiweißausscheidung der Niere maximal senken, die schädliche Hyperfiltration der Glomeruli vermeiden und das kardiovaskuläre Risiko adressieren;
  • ausreichend Sport, insbesondere Ausdauersportarten; wegen der Blutdruckspitzen und proteinreichen Nahrungsergänzungsmittel kein Maximalkraftsport oder Bodybuilding;
  • salz- und fleischreduzierte Kost, um die blutdrucksenkende Therapie nicht zu konterkarieren und die Menge an schädlichen pro-inflammatorischen, pro-fibrotischen Chemokinen im Primärharn zu senken und so den sekundären tubulointerstitiellen Schaden zu verlangsamen;
  • Meiden von nephrotoxischen Medikamenten wie Schmerzmitteln;
  • gesunder Zahnstatus ohne chronische Entzündungsherde;
  • Meiden rezidivierender oder chronischer bakterieller Infekte;
  • kein Rauchen;
  • kein Übergewicht, um die schädliche Hyperfiltration der Glomeruli zu vermeiden.

Medikamentöse Therapie

ACE-Hemmer verzögern abhängig vom Therapiebeginn die terminale Niereninsuffizienz und verbessern die Lebenserwartung (Abb. 2) (Gross et al. 2012). Der sehr späte Therapiebeginn (geschätzte glomeruläre Filtrationsrate eGFR < 60 ml/min) verzögert die Dialyse im Median um 3 Jahre und der späte Therapiebeginn (eGFR > 60 ml/min, Proteinurie über 0,5 g/Tag) im Median um 18 Jahre. In einer randomisierten, Placebo-kontrollierten, doppelblinden Interventionsstudie mit dem ACE-Hemmer Ramipril mit oligosymptomatischen Kindern in Frühformen des AS konnte gezeigt werden, dass der frühe Therapiebeginn (normale eGFR mit isolierter Mikrohämaturie oder Mikro-Albuminurie unter 300 mg Albumin/g Kreatinin) sicher ist und das Fortschreiten der Erkrankung scheinbar sogar noch effektiver verzögert (Gross et al. 2020) (siehe auch Videoportrait des Bundesministeriums für Bildung und Forschung https://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/videoportrait-hilfe-fur-nierenkranke-kinder-14890.php).
Neue Beobachtungsstudien weisen auf eine Korrelation zwischen Schwere des Genotyps und Therapieansprechen auf ACE-Hemmer hin. Je weniger schwer der Gendefekt, desto besser das Therapieansprechen mit dem Anspruch, das früher als schicksalhaft angesehene Nierenversagen bei vielen Patienten komplett zu verhindern (Yamamura et al. 2020; Boeckhaus et al. 2022). Wichtigstes Element der Therapie ist die präemptive nierenschützende Intervention, idealerweise, bevor der 1. Nierenschaden im Sinne einer Albuminurie aufgetreten ist (Abb. 3).

Therapeutisches Vorgehen bei Kindern (EARLY PRO-TECT Alport-Studie; Evidenzstufe IIa bis Ib)

Die Therapie mit Ramipril (beginnend mit 1 mg/m2, steigern bis 6 mg/m2 Maximaldosierung) bei Kindern wird empfohlen, ist aber off-label (Kashtan und Gross 2021). Die Behandlung durch den erfahrenen Kindernephrologen mit Ramipril wird beim klassischen AS ab Diagnosestellung ab dem 2. Lebensjahr schon im präemptiven Stadium der Mikrohämaturie empfohlen. Bei heterozygoten Kindern beginnt die Therapie erst ab dem Stadium der Mikro-Albuminurie (30–300 mg Albumin/g Kreatinin).

Therapeutisches Vorgehen bei Erwachsenen (auch heterozygoten Betroffenen)

Beginn der nephroprotektiven Therapie mit ACE-Hemmer spätestens ab dem Auftreten einer Mikro-Albuminurie (Evidenz Stufe IIa bis Ib). Empfohlen wird Ramipril bis 10 mg/Tag. AT1-Antagonisten sind second-line und sollten aufgrund ihrer geringeren Wirksamkeit nur eingesetzt werden, wenn unter ACE-Hemmer ein trockener Reishusten auftritt. Heterozygote Anlageträger werden nicht mehr vom klassischem AS unterschieden, denn beide haben ein – therapierbares – erhöhtes renales Risiko! Bitte bedenken Sie, dass doppelt so viele Frauen vom X-chromosomalen AS betroffen sind als Männer. Mutmaßlich sind im Rentenalter mehr heterozygote AS-Anlageträger an der (oft vermeidbaren!) Dialyse als  Betroffene mit klassischem AS.
Auch wenn die ACE-Hemmer insbesondere bei heterozygoten Betroffenen den Krankheitsverlauf um Jahre verzögern und teils nahezu aufhalten können, schreitet doch jeder Patient und jede Patientin potenziell über den jahrzehntelangen Krankheitsverlauf fort. Schon in wenigen Jahren werden Gen-modifizierende Techniken wie z. B. exon-skipping und Chaperon-Therapien bei Nonsense-Varianten unsere Behandlungsoptionen bei AS wesentlich bereichern. Aktuell (Stand 1/2024) kann Kindern ab 10 Jahren und jungen Erwachsenen unter 40 Jahren mit AS mit fortschreitender Albuminuire eine deutschlandweite Interventionsstudie DOUBLE PRO-TECT Alport, EU Trial No. 2023-508502-18-00, mit dem Sodium-Glucose-Co-Transporter-2 Inhibitor Dapaglifozin angeboten werden (Kontakt: studie@alport.de).
Bei Progress des AS im Sinne einer Zunahme der Proteinurie wird als Add-on-Therapie empfohlen (Gross 2017):
1.
Zunehmende Proteinurie: Bei Erwachsenen mit eGFR unter 60 ml/min additiv zur ACE-Hemmer-Gabe einen Sodium-Glucose-Co-Transporter-2 (SGLT2)-Inhibitor. Aktuell zugelassen (Stand 1/2024) bei Erwachsenen mit chronischer Nierenerkrankung: Dapagliflozin und Empagliflozin 10 mg pro Tag.
 
2.
Bei steigendem Blutdruck (Zielblutdruck unter 125/75 mmHg): additiv zum ACE-Hemmer zusätzlich langwirksame Ca-Antagonisten, AT1-Antagonisten, Diuretika, ggf. Spironolacton oder andere Aldosteron-Antagonisten.
 
3.
Bei großer Proteinurie mit Dyslipoproteinämie: hier werden bei Erwachsenen aufgrund der antifibrotischen Eigenschaften Statine (HMG-CoA-Reductase-Inhibitor) eingesetzt.
 
4.
Bei (sekundärem) Hyperparathyreoidismus: hier sollte frühzeitig Paricalcitol zur Vitamin-D-Substitution als Therapieoption bedacht werden.
 

Verlauf und Prognose

Alle Betroffenen, auch die mit isolierter Mikrohämaturie, sollten jährlich fachärztlich internistisch bzw. nephrologisch untersucht werden, insbesondere auf Risikofaktoren (Abb. 3). Das klassische AS führt unbehandelt im 2. bis 3. Lebensjahrzehnt zur Nierenersatztherapie. Dies bedingt eine reduzierte Lebenserwartung. Durch eine gute internistische Betreuung und frühe Therapie kann das terminale Nierenversagen um Jahrzehnte, teils sogar bis ins Rentenalter und darüber hinaus verzögert werden (Boeckhaus et al. 2022).
Das heterozygote AS bedingt ein Dialyserisiko von „nur“ 1 % (autosomal-heterozygot) bis 40 % (X-chromosomal heterozygot). Durch die hohe Heterozygotenzahl sind zahlenmäßig aber wahrscheinlich mehr Heterozygote im Rentenalter an der Dialyse als Betroffene mit klassischem AS. Durch gute internistische Betreuung und frühe Therapie kann das Dialyserisiko bei Heterozygoten wahrscheinlich von bis zu 40 % auf unter 1 % gesenkt werden (Stock et al. 2017).
Die Lebenserwartung beim AS unter verschiedenen Nierenersatzverfahren wie Hämodialyse, besonders aber unter Bauchfelldialyse, ist besser als von gleichaltrigen Dialysepatienten mit anderen Nierenerkrankungen (Temme et al. 2012).
Bei einer Nierentransplantation ist das Nierentransplantatüberleben und die Lebenserwartung der Transplantierten mit AS besser als das von gleichaltrigen Patienten mit anderen Nierenerkrankungen (Temme et al. 2012). Dies liegt zum einen an der fehlenden Rekurrenz der Erkrankung im Nierentransplantat und zum anderen an den weniger vorhandenen Komorbiditäten als Gleichaltrige mit anderen Nierenerkrankungen.

Besondere Aspekte

Vor der Schwangerschaft bei AS-Patientinnen müssen Medikamente wie ACE-Hemmer und SGLT2-Antagonisten abgesetzt werden. Durch die physiologische Hyperfiltration nimmt die Eiweißausscheidung der werdenden Mutter zu. Jede Schwangerschaft gilt daher beim AS als Risikoschwangerschaft, die eine zusätzliche internistische bzw. nephrologische Mitbetreuung erfordert. Ab einer eGFR von unter 40 ml/min sollte den Eltern ggf. von einer Schwangerschaft abgeraten werden, da durch die Hyperfiltration und das drohende nephrotische Syndrom mit Überwässerung die Rate an schweren Komplikationen deutlich erhöht scheint. Zusätzlich zu der internistischen bzw. nephrologischen Beratung vor Schwangerschaft sollte den Eltern eine genetische Beratung angeboten werden über das Erkrankungsrisiko des Kindes.
Nach Nierentransplantation müssen über mindestens ein Jahr engmaschig die Anti-GBM-Titer bestimmt werden, um eine Anti-GBM-Nephritis frühzeitig zu erkennen (Kap. „Anti-GBM-Nephritis und Goodpasture“). Lebendspenden von heterozygoten Verwandten sind nur eingeschränkt möglich, wenn keine Mikroalbuminurie oder Hypertonie vorliegt und mittels Nierenbiopsie vor der Spende ein stärkerer subklinischer Nierenschaden (größer 10–20 % FSGS bzw. Fibrose) ausgeschlossen wurde.
Addendum
Die Arbeiten wurden unterstützt durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft GR 1852/4-1, 4-2 und 6-1, die Deutsche Nierenstiftung, die KfH-Stiftung Präventivmedizin und die Alport Selbsthilfe e.V. Die GPN-gestützte EARLY PRO-TECT Alport-Studie wurde gefördert durch das BMBF/DFG-Programm „Klinische Studien“ (01KG1104). Die GPN-gestützte DOUBLE PRO-TECT Alport-Studie wird gefördert durch die DFG (GR 1852/7-1, Projektnummer 508779211). Die Erstellung der S3k-Leitlinie „Hämaturie Kind – Abklärung der Mikro-Hämaturie bei Kindern und jungen Erwachsenen zur Früherkennung von Nierenerkrankungen“ (MEDLL1_2021-013) wird durch den Gemeinsamen Bundesausschuss gefördert.
Literatur
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