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Pädiatrie
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Publiziert am: 12.03.2019

Posttraumatische Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen

Verfasst von: Meinolf Noeker, Ingo Franke und Bernd Herrmann
Mehr als 1 von 4 Kindern erlebt ein signifikantes traumatisches Ereignis vor Erreichen des Erwachsenenalters. Solche Erfahrungen umfassen Kindesmissbrauch, Gewalterfahrungen im häuslichen Umfeld, der Schule oder Gemeinde, Naturkatastrophen, Verkehrsunfälle oder sonstige Unfälle, Krieg, Flucht und nicht zuletzt auch Traumatisierung im medizinischen Behandlungskontext durch Hospitalisierung, invasive Behandlungen, Operationen oder Konfrontation mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung. Obwohl die meisten Kinder ein traumatisches Ereignis psychisch ohne Störungsentwicklung kompensieren können, entwickelt eine Subgruppe anhaltende, schwerwiegende, nicht spontan remittierende Beeinträchtigungen ihrer psychischen Funktionsfähigkeit in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) oder anderer Störungen. Kinderärzte sind häufig die ersten Fachpersonen, denen traumatische Erfahrungen mitgeteilt werden. Der Kinderarzt kann erste eigene Unterstützung anbieten sowie auch die Indikation für eine weitergehende psychotherapeutische bzw. psychiatrische Anschlussbehandlung stellen und in die Wege leiten.
Definition
Mehr als 1 von 4 Kindern erlebt ein signifikantes traumatisches Ereignis vor Erreichen des Erwachsenenalters. Solche Erfahrungen umfassen Kindesmissbrauch, Gewalterfahrungen im häuslichen Umfeld, der Schule oder Gemeinde, Naturkatastrophen, Verkehrsunfälle oder sonstige Unfälle, Krieg, Flucht und nicht zuletzt auch Traumatisierung im medizinischen Behandlungskontext durch Hospitalisierung, invasive Behandlungen, Operationen oder Konfrontation mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung. Obwohl viele Kinder ein traumatisches Ereignis psychisch ohne Störungsentwicklung kompensieren können, entwickeln einige anhaltende, schwerwiegende, nicht spontan remittierende Beeinträchtigungen ihrer psychischen Funktionsfähigkeit in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) oder anderer Störungen. Kinderärzte sind häufig die ersten Fachpersonen, denen traumatische Erfahrungen mitgeteilt werden. Der Kinderarzt kann erste eigene Unterstützung anbieten sowie auch die Indikation für weitergehende psychotherapeutische bzw. psychiatrische Anschlussbehandlung stellen und in die Wege leiten.
Der Begriff des Traumas beinhaltet sowohl Aspekte eines Ereignisses als auch des subjektiven Erlebens. Nicht jedes traumatische Ereignis führt zwangsläufig zu einer subjektiven Traumatisierung im Erleben des Patienten. Ob sich eine PTBS entwickelt, hängt wesentlich von den kognitiven und emotionalen Bewertungen des Traumaereignisses ab. Ein Trauma entfaltet seine entwicklungsbeeinträchtigende Wirkung wesentlich dadurch, dass es grundlegende Glaubenssysteme des Kindes bezüglich der eigenen Sicherheit und Geborgenheit, der Vorhersagbarkeit von Geschehensabläufen, der Vertrauenswürdigkeit, Loyalität und Wahrhaftigkeit anderer Menschen in Frage stellt bzw. erschüttert. Das traumatische Ereignis selbst ist nicht reversibel zu machen, veränderbar ist nur die Bedeutung, die das Kind aus dieser Erfahrung für seine Haltung gegenüber der Welt, den Menschen und sich selbst generiert. Interventionen nach erfolgter Traumatisierung zielen demnach vorrangig darauf ab, die kognitiven und emotionalen Bedeutungen zu modulieren und das Kind von belastenden Gefühlen wie Schuld, Scham, Ekel und ständig lauernder Bedrohung zu entlasten.
Klassifikation
Typ-1-Traumata beziehen sich auf ein kurz andauerndes Ereignis, wie z. B. einen schweren Verkehrsunfall, Überfall, eine Naturkatastrophe, Entführung, Vergewaltigung oder Operation. Das Kind verfügt häufig über eine klare, lebendige Erinnerung.
Typ-2-Traumata beziehen sich auf eine Serie miteinander verknüpfter Ereignisse. Vorherrschend sind durch Menschen intendierte Schädigungen, wie z. B. wiederholte sexuelle oder körperliche Misshandlungen, eine chronische Vernachlässigung, wiederkehrende und nicht zu kontrollierende Mobbingerfahrungen, chronische Kriegserfahrung oder Flucht. Bei dem Kind dominieren diffuse Erinnerungen, in denen sich die einzelnen Episoden überlagern. Das Kind fühlt sich nicht in der Lage, aus eigener Kraft heraus die Bedrohung abzuwenden. Die fehlende Kontrolle bzw. der fehlende Schutz durch wichtige Erwachsene erzeugen zusätzlich traumatisierende Erfahrungen von Ohnmacht und Hilflosigkeit, Schutzlosigkeit und Verrat.
In der ICD-10 bilden die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS; F43.1) und die akute Belastungsreaktion (F43.0) zusammen mit der Anpassungsstörung eine eigene Störungsgruppe. Die PTBS ist sowohl durch Merkmale des Traumaereignisses (objektive Parameter) als auch durch die Reaktionen der betroffenen Person (subjektive Parameter) während der Traumaexposition gekennzeichnet. Eine PTBS wird erst als erfüllt gesehen, wenn die spezifischen psychischen Symptome über einen Zeitraum von mindestens 1 Monat nach dem Ereignis persistieren. Das Auftreten von postakuten Paniksymptomen scheint ein Prädiktor für eine längerfristige Herausbildung einer PTBS zu sein. Paniksymptome im Rahmen der akuten Anpassungsreaktionen sollten daher diagnostisch als frühes Zeichen eines möglicherweise komplizierten Verlaufs bzw. einer Anbahnung einer PTBS weiter beobachtet werden.
Epidemiologie
In einer großen amerikanischen Kohorte ergab sich eine Punktprävalenz von 3,7 % bei männlichen und von 6,3 % bei weiblichen Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren, die die störungswertigen Kriterien einer PTBS erfüllen. Viele traumaexponierte Kinder entwickeln eine subklinische Symptomatik, die die Diagnosekriterien nicht vollständig erfüllt.
Ätiologie und Pathogenese
Eine prämorbide psychische Vulnerabilität bzw. schon manifeste psychische Störungen beeinträchtigen die adäquate Verarbeitung eines traumatischen Ereignisses. Innerfamiliär erzeugte Traumata (z. B. körperliche Misshandlung) sind regelhaft in Cluster weiterer assoziierter familiärer Risikofaktoren (unter anderem negativer Erziehungsstil, elterliche Psychopathologie, allgemeine Vernachlässigung) eingebettet. Die klinische Abgrenzung des Wirkungsanteils der Traumatisierung von der Exposition an weitere familiäre Risikobedingungen ist oft schwierig. Diese Abgrenzung wird relevant bei der Indikationsstellung für eine spezifische Traumatherapie bei isolierter Traumatisierung einerseits versus breiter angelegter Interventionen zum Schutz des Kindeswohls beim Vorliegen eines komplex gefährdeten Lebenskontexts.
Chronisches Bedrohungsgefühl
Bei vielen Kindern mit einer PTBS persistiert ein unterschwelliges Bedrohungsgefühl, auch wenn das traumatisierende Ereignis faktisch vergangen ist und keine relevante Wiederholungsgefahr besteht. Das Bedrohungsgefühl wird begleitet von intrusiven Wiedererinnerungen, einer Hypervigilanz und Schreckhaftigkeit, chronischer Übererregung und starken emotionalen und sensorischen Reaktionen bei Konfrontation mit traumaassoziierten Hinweisreizen. Das Kind „screent“ seine Umgebung nach Hinweisreizen ab, die eine erneute Gefährdung anzeigen könnten. Es extrapoliert beispielsweise übersensitiv von negativen Erfahrungen mit einzelnen auf prinzipiell alle (z. B. männliche) erwachsenen Personen. Solche übergeneralisierenden Schussfolgerungen von der traumatischen Erfahrung auf andere Beziehungen und Kontexte sowie eine stabile Verankerung des Ereignisses im Traumagedächtnis sind entscheidende Mechanismen einer Störungschronifizierung. Solche menschlich-empathisch zwar nachvollziehbare, letztlich aber falsche, verzerrte, übergeneralisierende und dysfunktionale kognitive Bewertungen und Schlussfolgerungen stellen einen zentralen Ansatzpunkt kognitiv-verhaltenstherapeutischer Interventionen bei PTBS dar.
Risikofaktoren
Weibliches Geschlecht, vorangegangene Traumaexposition, multiple Traumata, Stärke des traumatischen Ereignisses, Vorliegen vorbestehender psychiatrischer Störung in der Eigen- und Familienanamnese (vor allem im Bereich der Angststörung, elterlicher Psychopathologie und Fehlen von sozialer Unterstützung) sind herausgehobene Risikofaktoren für die Entwicklung einer PTBS nach Traumaexposition.
Neurobiologie
Patienten nach PTBS zeigen eine Reihe radiologisch dokumentierbarer ZNS-Abweichungen. Hypertrophie und Überaktivierung der Amygdala sowie Minderaktivierung präfrontaler Strukturen sind zunächst funktionelle und zeitverzögert auch strukturell verankerte neurobiologische Korrelate. Die jüngere neurobiologische Forschung hat Hinweise geliefert, dass die psychische Reagibilität bei identischer Traumaexposition und damit Intensität der Ausbildung von PTBS-Symptomen auch von genetischen Faktoren moduliert wird.
Klinische Symptome
Drei Symptomcluster stehen im Vordergrund:
1.
Das Wiedererleben des traumatischen Ereignisses wird erkennbar in rekurrierenden und intrusiven Nachhallerinnerungen, Albträumen oder anderen sensorischen Erfahrungen des Wiedererlebens der traumatischen Erfahrung. Bei kleinen Kindern kann dies in Form eines repetitiven Spiels beobachtet werden, in dem Themen des Traumas inszeniert bzw. wiederholt werden.
 
2.
Dauerhafte Vermeidung von traumabezogenen Hinweisreizen und emotionales Taubheitsgefühl. Das Kind vermeidet Erinnerungsspuren sowie das Gespräch über das Ereignis. Sein Interesse an Spielen und Aktivitäten, für die es sich vorher interessiert hat, nimmt ab. Abgeflachter Affekt, Teilnahmslosigkeit oder Rückzug von anderen vorher nahestehenden Personen entwickeln sich.
 
3.
Persistierende Symptome einer Übererregung zeigen sich in Einschlaf- oder Durchschlafstörungen, erhöhter Irritabilität oder Wutausbrüchen, Konzentrationsstörungen und einer gesteigerten Orientierungsreaktion.
 
Verlauf und Komorbidität
Phobien, Zwangsstörungen, Essstörungen können sich zeitgleich oder nach einer PTBS entwickeln. Somatoforme und dissoziative Symptome in Form von Konversionsstörungen resultieren häufig als Folge dissoziativer Bewältigungsmechanismen. Gesteigerte Wachsamkeit und Hypervigilanz mit rekurrierenden Gedankenkreisläufen können einer generalisierten Angststörung Vorschub leisten.
Diagnose
Hierzu gehören die Anamnese und die klinisch-psychologische Beurteilung:
Anamnese und Exploration
Für die Diagnose einer PTBS sind im Kern zwei Befunde erforderlich:
  • Der glaubwürdige Bericht des Kindes oder eines Angehörigen über ein umschriebenes traumatisierendes Ereignis und
  • spezifische psychische Symptome, die sich im Nachgang zu dem traumatischen Ereignis entwickelt haben.
Eine sensitive, empathische, respektvolle Gesprächsführung ist nicht nur ethisch geboten, sondern entscheidende Voraussetzung valider und vollständiger Untersuchungs- und Befragungsbefunde. Es empfiehlt sich, so konkret und spezifisch wie möglich zu fragen, also z. B.: „Als du neulich wieder in das Haus gingst, in dem alles passiert ist, wie hast du dich da gefühlt? Warst du besonders aufgeregt? Erzähl mir davon, wie es dir ging.“
Klinisch-psychologische Beurteilung
  • Kognitive Verzerrungen: maladaptive Denkmuster über sich selbst, über andere und über Situationen einschließlich Verzerrungen oder unzutreffende Gedanken (z. B. Selbstbeschuldigung für traumatische Ereignisse).
  • Beziehungsschwierigkeiten: Schwierigkeiten mit Gleichaltrigen, schlechte sozial-kommunikative Fertigkeiten, Überempfindlichkeit und Reizbarkeit bei Interaktionen, fehlende Strategien zum Schließen von Freundschaften, gestörtes interpersonelles Vertrauen.
  • Situationsgerechte affektive Schwingungsfähigkeit: geringe Fähigkeit, negative affektive Zustände zu tolerieren oder zu regulieren, Unfähigkeit zur Selbstberuhigung.
  • Familienprobleme: Defizite in der elterlichen Erziehungskompetenz, entwertende, drohende, unangemessen strafende Interaktion, unsichere Eltern-Kind-Bindung.
  • Verhaltensprobleme: je nach traumatischen Erfahrungen sexualisierte, aggressive oder oppositionelle, die Verlässlichkeit von Bindungen und Beziehungen „testende“ Verhaltensmuster.
  • Funktionell-vegetative Störungen: Schlafstörungen, Übererregung, Hypervigilanz, erhöhter Muskeltonus.
  • Psychopathologischer Befund: äußeres Erscheinungsbild, Kontaktverhalten und Kooperation, Psychomotorik, Sprache, Antrieb, Aufmerksamkeit und Impulskontrolle, Merkfähigkeit, Orientierung, Bewusstsein, formales und inhaltliches Denkvermögen, akute/latente Suizidalität.
  • Hinweise auf eine spezifische psychische Störung: Ängste, Zwänge, Phobien, Depressionen, Essstörungen, funktionelle und somatoforme Störungen, dissoziative Zustände (Entfremdungserleben), selbstverletzendes Verhalten.
  • Bisherige Maßnahmen, Therapien, Hilfsversuche: vorausgehende Behandlungsversuche des Kindes, der Eltern? Hat das Kind sich schon einmal anvertraut? Wem? Positive oder negative Erfahrungen damit? Akuter kinder- und jugendhilferechtlicher, kinder- und jugendpsychotherapeutischer bzw. -psychiatrischer Behandlungsbedarf?
Differenzialdiagnose
Viele Symptome einer PTBS sind unspezifisch und können daher mit anderen psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters verwechselt werden: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ruheloses, desorganisiertes oder agitiertes Verhalten), oppositionelles Verhalten bei Kleinkindern (Wut- und Trotzanfälle bei Kleinkindern, Irritabilität), Panikstörung (akute, frei flottierende Angstgefühle), Angststörungen (generalisierte Angststörungen, soziale Phobien, spezifische Phobien), depressive Störungen (reduzierte affektive Schwingungsfähigkeit, Schlafstörungen, Interesselosigkeit), Persönlichkeitsstörungen (selbstverletzendes Verhalten bei Borderline-Typus), riskanter Alkohol- oder Drogenkonsum (Betäubung), bipolare Störungen (Wechsel zwischen Übererregungszuständen und ängstlich-depressivem Rückzugsverhalten).
Für die differenzialdiagnostische Abgrenzung ist eine Anamneseerhebung zentral, die den zeitlichen Zusammenhang zwischen traumatischem Ereignis und akutem Anstieg der psychischen Symptomatik sowie den Zusammenhang zwischen Stärke der psychischen Symptomatik und akuter Konfrontation mit traumabezogenen Hinweisreizen prüft.
Therapie
Therapiert werden kann durch Veränderung traumatisierender Lebensbedingungen, Aufklärung und Psychoedukation sowie durch kognitiv-behaviorale Psychotherapie:
Veränderung traumatisierender Lebensbedingungen
Vor allem bei Gefährdungen des Kindeswohls infolge sexuellen Missbrauchs, körperlicher Misshandlung oder Vernachlässigung konzentriert sich das kinderärztliche Handeln vorrangig auf die Wiederherstellung des Schutzes des Kindeswohls. Die erfolgreiche Wiederherstellung eines äußeren, sicheren Lebensumfeldes verändert nachhaltig die kognitiv-emotionalen Einschätzungen des Kindes über mögliche zukünftige Bedrohungen und wirkt damit implizit auch enorm psychotherapeutisch heilsam. Dringlichste Interventionen umfassen daher zunächst:
  • eingehende interdisziplinäre, unter anderem pädiatrische, rechtsmedizinische und psychologische Diagnostik mit Abschätzung fortbestehender akuter Gefährdung des Kindes;
  • interdisziplinär abgestimmtes Fallmanagement auf der Basis von vorliegenden Behandlungspfaden (siehe Kinderschutzleitfaden der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin; www.dgkim.de);
  • bei Bedarf Akutinterventionen in Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe und weiteren medizinischen wie psychosozialen Diensten (z. B. Inobhutnahme; Kap. „Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung von Kindern“ und Kap. „Prävention und Intervention bei Vernachlässigung und Deprivation“.
Aufklärung und Psychoedukation
Kinder erleben über die direkte Traumatisierungswirkung hinaus eine zusätzliche Verunsicherung bezüglich ihrer eigenen psychischen und funktionell-vegetativen Reaktionen, die ihnen fremd erscheinen und die sie nicht stimmig einordnen können. Zustände wie Übererregbarkeit, emotionale Taubheit, Schlafstörungen, Gereiztheit erleben sie als irritierend und beschämend. Eine Schlüsselintervention liegt in der Normalisierung dieser Reaktionsweisen („eine normale Reaktion auf ein extrem unnormales Ereignis“; „nicht Du bist verrückt, sondern die Situation, der Du ausgesetzt warst“). Eine solche Konnotation erleichtert auch die Annahme einer psychotherapeutischen Intervention, die ansonsten als zusätzlich kränkender Beleg gewertet werden könnte, dass der Kinderarzt das Kind für „gestört und verrückt“ halten könnte. Ebenso stützend ist die Bezeichnung „Überlebender eines Traumas“ anstelle von „traumatisiertes Kind“.
Kognitiv-behaviorale Psychotherapie
Metaanalysen haben überzeugend eine deutlich höhere Wirksamkeit kognitiv-behavioraler Psychotherapie gegenüber Spieltherapie, Kunsttherapie, psychodynamischer Therapie oder pharmakologischer Therapie nachweisen können. Die traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie nach Cohen (Trauma-Focused Cognitive-Behavoioral Therapy, TF-CBT) ist empirisch besonders gut evaluiert, hat eine besondere Verbreitung gefunden und liegt in deutscher Übersetzung vor. Die TF-CBT umfasst regulär 12–20 Sitzungen und ist für Kinder und Jugendliche im Alter von 3–18 Jahren geeignet. Das Konzept sieht vor, dass der Kliniker sowohl mit dem Kind als auch mit demjenigen Elternteil arbeitet, der keine Übergriffe begangen hat.
Es enthält folgende Module: Psychoedukation, Stärkung von Elternfertigkeiten, Vermittlung von Entspannungstechniken, Ausdruck und Modulation von Affekten, kognitive Verarbeitung und Bewältigung des Traumas, Erstellung eines Traumanarrativs, In-vivo-Bewältigung von traumatischen Erinnerungen, gemeinsame Eltern-Kind-Sitzungen, Verbesserung von künftiger Sicherheit. Die Erstellung eines Traumanarrativs verdeutlicht exemplarisch das Rationale dieses Therapieansatzes:
Über mehrere Sitzungen hinweg wird das Kind ermutigt, mit immer differenzierteren Details zu beschreiben, was vor, während und nach dem traumatischen Ereignis passiert ist und welche Gedanken und Gefühle ihm dabei durch den Sinn gehen. Die Herausarbeitung der situativen Details und der dazugehörigen kognitiven, emotionalen und körperlichen Begleitreaktionen bemisst sich kontinuierlich am Erhalt der psychischen Stabilität des Kindes. Der Therapeut registriert genau, welche Aspekte innerhalb des Traumanarrativs besonders starke und bedrohliche Affekte auslösen. In den ersten Durchgängen wird das Ereignis aus der retrospektiven Sicht der Gegenwart heraus beschrieben. Dies erlaubt eine mentale Distanzierung und damit Stabilisierung des Kindes. In einem zweiten Schritt kann das Kind sich in die damalige Situation zurückversetzen und die Sequenz des traumatischen Ereignisses aus der Perspektive seines damaligen Empfindens heraus beschreiben. Wie bei der Betrachtung eines Videos kann vor- und zurückgespult werden, die Pausentaste bei kritischen Situationen genutzt werden. Zur Reorientierung kann das Kind sich immer wieder in den Therapieraum zurückversetzen, um sich zu vergegenwärtigen, dass das Geschehen jetzt Vergangenheit und es nun in Sicherheit in diesem Zimmer ist. Der wiederholte Prozess der Erzählung der traumatischen Episode trägt dazu bei, diese als eine singuläre Erfahrung in den gesamten Lebensablauf des Kindes zu integrieren. Es wird erkennbar, dass diese Erfahrung nicht den gesamten Erfahrungsschatz des Kindes ausmacht, sondern „nur“ eine sehr bedrohliche Episode und strapaziöse Facette ist. Dieser Erfahrung steht aber ein Universum positiver Lebenserfahrungen mit anderen Menschen und Kontexten gegenüber.
In einer Multicenter-Studie wurde die TF-CBT bei 229 Kindern im Alter von 8–14 Jahren zum Einsatz gebracht, von denen 90 % im Durchschnitt 3,7 verschiedene Traumaarten erlitten hatten (unter anderem sexueller Missbrauch). Patienten aus der TF-CBT-Gruppe profitierten deutlich mehr von der Intervention als Patienten aus der Kontrollgruppe, die eine klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie erhalten hatten.
Weiterführende Literatur
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