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Die Ärztliche Begutachtung
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Publiziert am: 16.07.2022

Neurodegenerative Systemerkrankungen und extrapyramidale Syndrome – Begutachtung

Verfasst von: Dirk Woitalla
Die Diagnose neurodegenerativer Systemerkrankungen erfolgt in Abhängigkeit vom klinischen Phänotyp und verschiedenen apparativen und labortechnischen Untersuchungen. Die Begutachtung berücksichtigt neben den motorischen Defiziten auch die nicht-motorischen Symptome.
Bis auf wenige Ausnahmen lassen sich die meisten Erkrankungen in ihrer Ausprägung nur lindern, in ihrem Verlauf jedoch nicht beeinflussen.

Einleitung

Das Spektrum neurodegenerativer Systemerkrankungen umfasst eine Vielzahl von Krankheiten mit unterschiedlichen motorischen und kognitiven Symptomen in variabler Ausprägung. Die bisherige Einteilung dieser Erkrankungen folgt mit Ausnahme der genetisch determinierten Syndrome dem klinischen Phänotyp und berücksichtigt die Ergebnisse apparativer Zusatzuntersuchungen.
Bei der Begutachtung ist die Ausprägung der motorischen und kognitiven Symptome differenziert zu betrachten und zu würdigen.
In der Tab. 1 findet sich eine Übersicht von häufig auftretender neurodegenerativen Systemerkrankungen und extrapyramidalen Syndromen.
Tab. 1
Auswahl häufiger neurodegenerativer Systemerkrankungen/extrapyramidaler Syndrome
Krankheitsbezeichnung
Ätiologie
Zusatzdiagnostik
Extrapyramidale Systemerkrankungen
 
M. Wilson
Autosomal-rezessiv
MRT, Labor, Genetik
Autosomal-dominant
MRT, Genetik
M. Parkinson (idiopathisches Parkinson-Syndrom)
Sporadisch, selten hereditär
FP-CIT SPECT
Sporadisch, selten hereditär
Sporadisch
Dystonie-Syndrome
Hereditär, sporadisch
Demenz mit Lewy-Körpern
Sporadisch, selten hereditär
Multisystematrophie
Sporadisch, selten hereditär
MRT, IBZM-SPECT autonome Funktionsdiagnostik
Progressive supranukleäre Paralyse
Sporadisch, selten hereditär
MRT
Sporadisch, selten hereditär
MRT
Spinozerebelläre Heredoataxien
  
Autosomal-rezessiv oder -dominant;
MRT, Genetik
Autosomal-rezessiv
NLG, Genetik
Motoneurondegeneration
  
Sporadisch, selten hereditär
NLG, EMG, evtl. Genetik
Hereditär
EMG, ggf. Muskelbiopsie, Genetik
  
MRT zerebrale Magnetresonanztomographie, NLG Nervenleitgeschwindigkeiten, EMG Elektromyographie.

Idiopathisches Parkinson-Syndrom

Das idiopathische Parkinson-Syndrom ist – abgesehen von der Alzheimer-Demenz – die häufigste neurodegenerative Erkrankung.
Aktuelle epidemiologische Daten zeigen eine Inzidenz von 11 bis 19/100.000 Einwohner und Jahr (Campenhausen et al. 2005). Die Inzidenz steigt altersabhängig in höherem Alter an, Männer sind im Verhältnis 1,5fach häufiger betroffen als Frauen. Durch die Veränderung der Altersverteilung in den industrialisierten Ländern wird es nach Schätzungen von Dorsey (Dorsey et al. 2007) bis zum Jahr 2030 zu einer Verdopplung der Erkrankungen weltweit kommen.
Das Parkinson Syndrom ist eine Systemerkrankung mit der Beteiligung einer Vielzahl von Neurotransmittern. Die motorischen Symptome werden durch einen progredienten Untergang dopaminerger Neurone in der Substantia nigra pars compacta hervorgerufen. Der resultierende Dopaminmangel im Striatum führt zu den klinischen Kardinalsymptomen
  • Bradykinesie,
  • muskulärer Rigor,
  • Tremor (4–6, selten bis 9 Hz; Auftreten in Ruhe, Abnahme bei Bewegung) und
  • posturalen Störungen (mangelnde Stabilität der aufrechten Körperhaltung) über eine Störung der cholinergen Innervation.
Im Krankheitsverlauf tritt komplizierend eine Vielzahl nicht-motorischer Symptome auf.
Unspezifische nicht-motorische Frühsymptome umfassen affektive Störungen, Riechstörungen, REM-Schlafverhaltensstörungen und Schmerzsymptome.
Die Bedeutung nicht motorischer Symptome darf nicht unterschätzt werden. Etwa 13 % der Patienten leiden unter einer Demenz, 22 % unter einer Depression, bei 22 % der Patienten treten Funktionsstörungen der Blase auf.
Das idiopathisches Parkinson-Syndrom ist zu differenzieren von den monogenetischen Formen (PARK 1–16) des Parkinson-Syndroms.
Weiterhin finden sich Parkinson-Syndrome im Rahmen anderer neurodegenerativer Erkrankungen (als sogenannte atypische Parkinson Syndrome):
Zudem kann das Parkinson-Syndrom auch medikamenten- bzw. toxininduziert, tumorbedingt, bzw. entzündlich metabolisch sein oder in seltenen Fällen auch posttraumatisch auftreten.

Amyotrophe Lateralsklerose

Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist die häufigste degenerative Erkrankung des motorischen Systems. Das Alter bei Erstmanifestation liegt bei der sporadisch auftretenden ALS zwischen 60 und 65 Jahren. Die Erkrankung kann aber auch schon im frühen Erwachsenenalter oder erst im hohen Lebensalter auftreten. Männer sind etwas häufiger betroffen als Frauen. Die Überlebensdauer liegt durchschnittlich bei 3–5 Jahren, einige Subformen weisen deutlich langsamere Krankheitsverläufe auf. Die Inzidenz liegt in Deutschland bei ca. 3/100.000 (Rosenbohm et al. 2017).
Gekennzeichnet ist die Erkrankung durch Zelluntergänge der Pyramidenzellen (Betzsche Riesenzellen) im motorischen Kortex (sog. 1. Motoneuron) sowie der α-Motoneurone im unteren Hirnstamm und im Vorderhorn des Rückenmarks (sog. 2. Motoneuron).
Daher wird das klinische Bild der ALS geprägt durch einer Kombination aus atrophischen Paresen mit Faszikulationen und gesteigerten Muskeldehnungsreflexen. Die Krankheit kann einseitig beginnen und zunächst Symptome des 2. Motoneurons (atrophische Paresen, Faszikulationen) oder des 1. Motoneurons (Spastik) oder auch der motorischen bulbären Hirnnervenkerne (Bulbärparalyse) aufweisen.
Nach wie vor handelt es sich bei der ALS um eine klinische Diagnose, die maßgeblich von der Expertise und Erfahrung des Untersuchers abhängt. Unter anderem deshalb werden valide Biomarker zur Unterstützung der Diagnose, Vorhersage des Krankheitsverlaufs und Evaluation eines Therapieansprechens gesucht (siehe zusatzdiagnostische Verfahren).
Die ALS tritt meist sporadisch auf (95 % der Fälle), selten wird sie vererbt (5 %). Bei der Begutachtung sind besonders die motorischen Defizite und Restfunktionen im Kontext der progredienten Symptomatik und schlechten Prognose zu würdigen.
Störungen der Atemmuskulatur begleiten die motorischen Symptome insbesondere in fortgeschrittenen Stadien, können jedoch in Ausnahmefällen schon zu Beginn die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen.
Zusatzdiagnostische Verfahren
Die Zusatzdiagnostik neurodegenerativer Erkrankungen umfasst spezielle Laboruntersuchungen (z. B. Kupfer-, Caeruloplasminbestimmungen bei M. Wilson), neurophysiologische Verfahren (sensible und motorische Neurografie sowie EMG bei Motoneuronerkrankungen, Friedreich-Ataxie oder den spinozerebellären Ataxien), die zerebrale Kernspintomografie, nuklearmedizinische Verfahren sowie die transkranielle Hirnparenchymsonografie (beim idiopathischen Parkinson-Syndrom); ggf. auch genetische Untersuchungen (z. B. Chorea Huntington, M. Wilson, M. Parkinson).
In den letzten Jahren hat sich vor allem die Bestimmung von Neurofilamenten (Nf) bei der ALS etabliert. Nf sind Intermediärfilamente in Neuronen und gehören neben Aktinfilamenten und Mikrotubuli zur Klasse der Zytoskelettproteine. Sie determinieren Axonkaliber und Leitungsgeschwindigkeit von Neuronen. Mutationen in den für Nf codierenden Genen können neben hereditären Neuropathien (vor allem Charcot-Marie-Tooth) ebenfalls zur ALS führen. Dies macht Nf für die Diagnostik der ALS besonders interessant. Es konnte gezeigt werden (Lu et al. 2015; Feneberg et al. 2018), dass bestimmte Nf-Gruppen bei ALS-Patienten im Liquor und im Serum bereits in der Frühphase der Erkrankung massiv erhöht sind und im weiteren Krankheitsverlauf weitestgehend konstant bleiben. Hierdurch können sie zur wichtigen Diagnostik in der Frühphase der Erkrankung beitragen. Zudem korreliert die Höhe der einzelner Nf mit der Progressionsgeschwindigkeit der ALS (Steinacker et al. 2016).
Gutachtliche Bewertung
Neurodegenerative Systemerkrankungen/extrapyramidale Syndrome sind nur in besonders begründeten Einzelfällen mit Beruf, Unfall oder z. B. Wehrdienst in einen ursächlichen Zusammenhang zu bringen. Dies ist nur dann der Fall, wenn gerade diese Umstände bzw. Faktoren wesentliche Voraussetzungen für die Entstehung oder Verschlimmerung der zugrundeliegenden Systemdegeneration geschaffen haben. Parkinson-Syndrome können durch Vergiftungen mit Erstickungsgasen oder durch (wiederholte) Hirnstammkontusionen ausgelöst werden.
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE %) bzw. der Grad der Behinderung/Grad der Schädigungsfolge (GdB/GdS) richten sich generell nach der Ausprägung der motorischen, kognitiven und vegetativen Funktionseinbußen und liegen zwischen 10–100.
Die neurodegenerativen Erkrankungen zeichnen sich durch die fehlende medikamentöse Beeinflussbarkeit des Krankheitsverlaufes aus. Bis auf die Parkinson-Erkrankung sind auch die symptomatischen Therapien nur selten effektiv.
Literatur
Campenhausen S, Bornschein B, Wick R, Bötzel K, Sampaio C, Poewe W, Oertel W, Siebert U, Berger K, Dodel R (2005) Prevalence and incidence of Parkinson’s disease in Europe. Eur Neuropsychopharmacol 15(4):473–490CrossRef
Dorsey ER, Constantinescu R, Thompson JP, Biglan KM, Holloway RG, Kieburtz K, Marshall FJ, Ravina BM, Schifitto G, Siderowf A, Tanner CM (2007) Projected number of people with Parkinson disease in the most populous nations, 2005 through 2030. Neurology 68(5):384–386CrossRef
Feneberg E, Oeckl P, Steinacker P et al (2018) Multicenter evaluation of neurofilaments in early symptom onset amyotrophic lateral sclerosis. Neurology 90:e22–e30CrossRef
Lu C, Macdonald-Wallis C, Gray E et al (2015) Neurofilament light chain: a prognostic biomarker in amyotrophic lateral sclerosis. Neurology 84:2247–2257CrossRef
Rosenbohm A, Peter RS, Erhardt S et al (2017) Epidemiology of amyotrophic lateral sclerosis in Southern Germany. J Neurol 264:749–757CrossRef
Steinacker P, Feneberg E, Weishaupt J et al (2016) Neurofilaments in the diagnosis of motoneuron diseases: a prospective study on 455 patients. J Neurol Neurosurg Psychiatry 87:12–20PubMed