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Klinische Neurologie
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Publiziert am: 23.06.2018

Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)

Verfasst von: Albert C. Ludolph
Bei der amyotrophen Lateralsklerose (ALS) kombinieren sich die Läsion der Betz-Zellen des motorischen Kortex und der Pyramidenbahn (des ersten Motoneurons), sowie der motorischen Vorderhornzellen (des zweiten Motoneurons). Dieses Degenerationsmuster erkannte der Erstbeschreiber der ALS, der französische Neurologe Jean-Martin Charcot, als pathognomonisch und stellte die bei seinen pathologisch-anatomischen Untersuchungen der ALS erhobenen Befunde zeichnerisch dar. Heute ist bekannt, dass die ALS dem Konzept einer Multisystemdegeneration unterzuordnen ist, die systematisch in neuroanatomisch definierten Stadien primär das zentrale Nervensystem erfasst. Die Ursachen der Erkrankungen der Motoneurone sind weitgehend unbekannt, und das Verständnis ihrer genetischen Grundlagen, der Pathogenese und die Entwicklung von Behandlungsansätzen stehen erst am Anfang.
Bei der amyotrophen Lateralsklerose (ALS) kombinieren sich die Läsion der Betz-Zellen des motorischen Kortex und der Pyramidenbahn (des ersten Motoneurons), sowie der motorischen Vorderhornzellen (des zweiten Motoneurons). Dieses Degenerationsmuster erkannte der Erstbeschreiber der ALS, der französische Neurologe Jean-Martin Charcot, als pathognomonisch und stellte die bei seinen pathologisch-anatomischen Untersuchungen der ALS erhobenen Befunde zeichnerisch dar (Abb. 1a). Heute ist bekannt, dass die ALS dem Konzept einer Multisystemdegeneration unterzuordnen ist, die systematisch in neuroanatomisch definierten Stadien primär das zentrale Nervensystem erfasst. Die Ursachen der Erkrankungen der Motoneurone sind weitgehend unbekannt, und das Verständnis ihrer genetischen Grundlagen, der Pathogenese und die Entwicklung von Behandlungsansätzen stehen erst am Anfang.
Die amyotrophe Lateralsklerose ist klinisch durch Zeichen der progredienten Degeneration der Betz-Zellen im motorischen Kortex sowie der motorischen Vorderhornzellen gekennzeichnet. Das Krankheitsbild führt zur respiratorischen Insuffizienz und unbehandelt meist über eine alveoläre Hypoventilation zum Tod. Die therapeutischen Optionen sind limitiert; ein von der individuellen Situation ausgehendes symptomorientiertes Behandlungskonzept, das sich vorausschauend der Symptomatik der Erkrankung anpasst, muss vom betreuenden Neurologen entwickelt werden.
Häufigkeit und Vorkommen
Die Inzidenz der amyotrophen Lateralsklerose (ALS) liegt weltweit zwischen 1,4 und 3/100.000. Die Inzidenz in Süddeutschland beträgt 3,1/1 Mio. (Rosenbohm et al. 2017), sie entspricht also etwa derjenigen der multiplen Sklerose in Südeuropa und entspricht den Beobachtungen in Norwegen (Seljeseth et al. 2000). Die Prävalenz der Erkrankung ist jedoch aufgrund der Lebenserwartung der Patienten von nur 2–4 Jahren nach Diagnosestellung niedrig und wird auf etwa 6–8/100.000 geschätzt. Insgesamt scheinen Inzidenz und Prävalenz weltweit, auch in Deutschland, anzusteigen, wobei die Hauptursache die veränderte demografische Struktur der Bevölkerung ist. Die epidemiologischen Zahlen sind weltweit unterschiedlich; so scheint die Krankheit in China früher zu beginnen, hat einen günstigeren Verlauf und der Anteil von Patienten mit primär bulbärer Symptomatik ist geringer als in Deutschland (Rosenbohm et al. 2018). Eine Ausnahme hat immer für Aufmerksamkeit gesorgt: der ALS-Parkinson-Demenz-Komplex unter den Chamorros auf Guam, unter den Auyu und Jakai in West-Neuguinea (Irian Jaya) und auf der Kii-Halbinsel in Japan, historisch mit Inzidenzen von bis zu 100, in Neuguinea sogar bis zu 1000/100.000. Interessanterweise haben sich diese Zahlen heute normalisiert; ein Hinweis darauf, dass die Ätiopathogenese der Erkrankung in diesen genetisch völlig unabhängigen Populationen nicht allein bei erblichen Faktoren zu suchen ist. Eine ähnliche Erkrankung ist Ende der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts auf Guadeloupe beschrieben worden (Caparros-Lefebvre et al. 2002). Aufgrund von Zwillingsstudien schätzt man den Beitrag von Umweltfaktoren bei der sporadischen Form der ALS in Europa auf etwa 30 % (Al- Chalabi et al. 2010). In Deutschland weisen nur knapp 5 % aller Patienten mit ALS eine positive Familienanamnese auf (Rosenbohm et al. 2017); sie leiden an der autosomal-dominant vererbten familiären Form (fALS), während etwa 95 % der Erkrankungen sporadisch auftreten (sALS). Die Penetranz der dominant vererbten fALS kann sehr variabel sein. In den zurückliegenden Jahren wurde eine zunehmende Zahl von familiären Erkrankungen durch genetische Faktoren erklärt (Abb. 2).
Die häufigste genetische Ursache, das Auftreten von Verlängerungen eines charakteristischen Hexanukleotidrepeats auf Chromosom 9 (C9ORF72) wird in Deutschland in 24 % der Familien gefunden, während Mutationen im Gen der zytosolären Form der Kupfer/Zink-Superoxiddismutase (Cu-Zn-SOD) bei 13 % der familiären Patienten (Abb. 2) auftreten (Müller et al. 2018). Die Mutationen im Gen für TDP-43, das FUS-Protein und dem kürzlich entdeckten TBK1 sind zwar rar; sie haben aber deswegen eine weiterreichende, modellgebende Bedeutung, da sie im Gegensatz zu anderen, noch selteneren, Mutationen (Senataxin, Alsin) für den klassischen ALS-Phänotyp verantwortlich sind.
Haupterkrankungsalter
Das Haupterkrankungsalter liegt altersadjustiert in den Industriestaaten bei 70–75 Jahren (Rosenbohm et al. 2017; Seljeseth et al. 2000), wobei bei den Patienten, die im Alter von über 70 Jahren erkranken, das weibliche Geschlecht überwiegt (Rosenbohm et al. 2017). Die jüngsten Patienten erkranken im Alter von 20–30 Jahren. Das mittlere Erkrankungsalter liegt bei 65–70 Jahren, das Verhältnis von betroffenen Männern zu Frauen hat sich in den Industriestaaten weiter angeglichen (etwa 3:2) (Rosenbohm et al. 2017). Das mittlere Erkrankungsalter ist bei der fALS niedriger, das Geschlechterverhältnis ist ausgeglichen, die Erkrankungsdauer vergleichbar, aber variabler. Es treten in den betroffenen Familien auch Patienten mit der Verhaltensform der frontotemporalen Demenz (FTD) oder auch Mischformen (FTD/ALS) auf. Epidemiologische Studien haben eine Anzahl von Risikofaktoren beschrieben; in der Vergangenheit häufig diskutierte Faktoren wie Traumata, Blitzschlag oder Quecksilber-, Blei- und Cyanidexposition halten modernen Erkenntnissen zur Pathogenese nicht stand. Auch das von Patienten oft retrospektiv berichtete prämorbid hohe Niveau physischer Aktivität konnte bisher in epidemiologischen Untersuchungen nicht belegt werden.
Pathogenese
In den zurückliegenden Jahren konnte mithilfe des molekularen Markers TDP-43, der bei mehr als 95 % der Patienten die Neuropathologie der ALS charakterisiert, ein Stadienmodell und damit die formale Pathogenese der ALS beschrieben werden (Brettschneider et al. 2013; Braak et al. 2013). Dieses schließt Patienten mit C9orf72-Mutationen mit ein. Die Ergebnisse zeigen prinzipiell, dass es sich bei der ALS um eine Multisystemdegeneration handelt, die ihre Hauptsymptomatik aufgrund von Läsionen der Betz-Zellen im motorischen Kortex, des kortikospinalen Trakts und der bulbären Hirnnervenkerne sowie der spinalen Motoneurone entwickelt.
Die Erkrankung breitet sich – ausgehend vom motorischen Kortex entlang der Assoziationsfasern nach frontal, in geringerem Ausmaß auch nach parietal aus und erfasst dann in Stadien subkortikale Kerngebiete, die überwiegend monosynaptisch mit den kortikalen Neuronenpopulationen verbunden sind. Im Stadium I nach Braak sind dabei der kortikospinale Trakt und als Zielneurone bulbäre motorische Kerngebiete sowie die Vorderhornzellen erfasst, im Stadium II sind kortikoefferente Fasern, die zu den präzerebellären Kerngebieten ziehen, betroffen (wie die kortikoolivären, kortikopontinen und kortikorubralen Trakte), dabei degenerieren die subkortikalen Zielneurone ebenso. Im Stadium III degenerieren vorwiegend kortikostriatäre Fasern und angeschlossene Kerngebiete des Striatums, und im Stadium IV werden Bahnen betroffen, die vom Kortex zum Hippocampus ziehen (Abb. 3) (Braak et al. 2013; Eisen et al. 2017).
Diese Stadieneinteilung ähnelt in ihrer Systematik den Braak-Stadien für den Morbus Parkinson und den Morbus Alzheimer und weist nach, dass die ALS den Charakter einer Multisystemdegeneration hat, die weit über die Motorik hinausgeht. Klinisch besonders relevant ist die – variable – Betroffenheit frontaler Funktionen sowie die Mitbeteiligung olivärer Kerngebiete. Auch das klassische Paresenmuster der ALS wird durch die bevorzugte Beteiligung monosynaptisch angebundener Motoneurone (kleine Handmuskulatur, Handextensoren, Fußheber) überzeugend erklärt (Ludolph et al. 2018). Da nach dem Braak‘schen Modell ganz überwiegend glutamaterge Fasern betroffen sind, könnte diese Stadieneinteilung auch Bedeutung für das Verständnis des therapeutischen Effekts des Glutamatfreisetzungsblockers Riluzol haben.
Bei etwa 25 % der deutschen Patienten mit fALS liegt eine Verlängerung eines Hexanukleotidrepeats im C9orf72-Gen vor (Müller et al. 2018). Untersuchungen der pathogenetischen Bedeutung dieses Gens haben bisher gezeigt, dass es für den RNA-Metabolismus verantwortlich ist. Die Mutationen im Gen der zytosolären Form der Kupfer-Zink-Superoxiddismutase (Cu-Zn-SOD) sind seit fast 25 Jahren bekannt (Rosen et al. 1993); auf ihrer Basis konnte bisher kein überzeugendes pathogenetisches Konzept entwickelt werden, das insbesondere auch für sporadische Formen Relevanz zu haben scheint (Abb. 4).
Klinik
Leitsymptome
Charakteristisches klinisches Leitsymptom der Erkrankung ist das Nebeneinander von Schädigungszeichen der Betz-Zellen (des „1. Motoneurons“) und der motorischen Vorderhornzellen (des „2. Motoneurons“). Meist nur retrospektiv kann der Patient typische Erstsymptome wie fokale – belastungsabhängige oder spontan auftretende – (Wadenmuskeln!) oder globale Muskelkrämpfe und Faszikulationen, manchmal auch eine vermehrte Erschöpfbarkeit, als Zeichen der Erkrankung erkennen. Eine große Anzahl der Erkrankten erinnern sich an Parästhesien, die in der Initialphase bemerkt wurden. Dann treten bereits Paresen und Atrophien auf, die bei der überwiegenden Mehrzahl der Betroffenen fokal beginnen, wobei im weiteren Verlauf eine kontinuierliche Ausbreitung auf benachbarte Körperregionen zu beobachten ist. Dies heißt beispielsweise praktisch, dass auf initiale Paresen der rechtsseitigen Fußmuskulatur sehr häufig Paresen der linksseitigen Fußmuskulatur oder der rechtsseitigen Handmuskulatur, aber nur sehr selten Paresen der linksseitigen oberen Extremität oder gar Zeichen der Bulbärparalyse folgen. Ausnahmen existieren, am häufigsten sind diese bei Patienten mit Bulbärparalyse, bei denen bei 25 % sekundär die unteren Extremitäten betroffen sind (Ludolph et al. 2018). Mit Auftreten der Paresen nehmen die Krämpfe und Faszikulationen ab oder verschwinden sogar. Ein häufiges Allgemeinsymptom zu Beginn oder auch vor Beginn der Erkrankung kann ein ungewollter Gewichtsverlust sein.
Armparesen
Bei Beginn an den Händen berichtet der Patient häufig, dass er den Autoschlüssel nicht mehr umdrehen kann, das Knöpfen oder das Öffnen einer Flasche schwerfalle oder der Kugelschreiber und andere kleinere Objekte nicht mehr ergriffen werden können (Abb. 5). Meist ist die Thenar- mehr betroffen als die Hypothenarmuskulatur („Split-hand-Phänomen“). Selten beginnt die Erkrankung mit asymmetrischen proximalen Paresen.
Bulbärparalyse
Die bei bulbärem Beginn häufige initiale Artikulationsstörung (Abb. 6) wird eher von den Angehörigen der Patienten – auch nach Konsum von geringen Mengen Alkohols – wahrgenommen, während die Kau- oder Schluckstörungen – nicht selten zuerst bemerkt beim Versuch, ein größeres festes Speisenstück zu schlucken – ein Anlass für den Patienten selbst sind, den Rat des Arztes einzuholen.
Auch bei der progressiven Bulbärparalyse treten Faszikulationen auf, und es kommt zu einer weitreichenden Atrophie und Funktionsbeeinträchtigung der Zungen-, Schlund- und Gaumenmuskulatur, sodass Probleme bei Aufnahme von Flüssigkeiten auftreten, schließlich der Schluckakt komplett unterbrochen wird, eine Gewichtsabnahme sowie Aspirationsgefahr resultiert und die Sprechstörung in eine komplette Dys- und Anarthrie mündet. Das Entweichen des Speichels aus der Mundhöhle ist die Folge der Schluckstörung („Pseudohypersalivation“) und wird vom Patienten in der Regel als sehr belastend erlebt. Die Kau- und Gesichtsmuskulatur ist weniger deutlich betroffen, obwohl eine Schwäche der fazialisinnervierten Muskulatur mit zum ersten klinischen Eindruck beim Vorliegen einer Bulbärparalyse beiträgt. Die Zeichen der Bulbärparalyse sind meist mit den klassischen Zeichen der Pseudobulbärparalyse assoziiert, wie einer erhöhten Affektdurchlässigkeit, vermehrtem Gähnen, einer (gegenüber dem Grad der Atrophie) reduzierten Zungenmotilität, einem erhöhten perioralen Reflexniveau sowie einem lebhaften Palmomentalreflex.
Parallel zur Entwicklung der Bulbärparalyse kann häufig eine progrediente Parese der Nackenstreckmuskulatur und des M. sternocleidomastoideus beobachtet werden, während der obere Trapeziusanteil in der Regel intakt bleibt. Eine primäre Affektion der Atemmuskulatur ist selten, kann aber auch beobachtet werden (etwa 2 % der Patienten) und führt häufig zu diagnostischen und therapeutischen Fehlschlüssen und sogar Notfallintubationen bei bis dahin unbekannter Diagnose.
Beinparesen
Frühe Paresen an den Beinen führen zu Stürzen („Hängenbleiben“) aufgrund einer Fußheberparese oder bei den – selten auftretenden – initial proximalen Paresen zu Schwierigkeiten beim Aufstehen aus der Hocke oder beim Treppensteigen. In der Regel weisen also auch die Lähmungen an den unteren Extremitäten eine distale Betonung auf. Leider geschieht es immer wieder, dass bei fokalem Beginn der Erkrankung an den Beinen Bandscheibenoperationen vorgenommen werden, bei Beginn an den Armen kann aufgrund des Ausfallsmusters initial fälschlicherweise das Vorliegen der klinisch aber völlig anders verlaufenden zervikalen Myelopathie angenommen werden.
Faszikulationen
Faszikulationen treten in der Regel vor dem Auftreten von Lähmungen auf, sind bevorzugt an der proximalen oder rumpfnahen Muskulatur zu beobachten und können durch äußere Faktoren wie Kälte oder physische Anstrengung provoziert werden. Im Verlauf des Krankheitsprozesses scheinen die Faszikulationen gröber zu werden, was mit dem zunehmenden Territorium (Größe und Faserzahl) motorischer Einheiten erklärbar ist; im paretischen Muskel hingegen verschwinden sie fast völlig. Das Auftreten von Faszikulationen ist keineswegs auf Vorderhornerkrankungen beschränkt; ihre differenzialdiagnostische Zuordnung zu Neuro- oder Radikulopathien gelingt aufgrund des unterschiedlichen Schädigungsmusters in der Regel aber leicht. Auch die Unterscheidung der bei der ALS auftretenden malignen von den häufigeren benignen Faszikulationen gelingt meist ohne Schwierigkeiten; wegweisend sind das – zumindest initial – fokale Auftreten der Faszikulationen bei der ALS und ihre eindeutige Assoziation mit pathologischen Befunden bei der elektromyografischen Untersuchung der Potenziale motorischer Einheiten bzw. dem Nachweis von pathologischer Spontanaktivität in Form von Fibrillationspotenzialen und positiven scharfen Wellen. Benigne Faszikulationen bleiben häufig auf die Unterschenkelmuskulatur beschränkt. Das Auftreten von Faszikulationen allein begründet die Diagnose einer ALS nicht; das Kardinalsymptom ist die fokale paretische Amyotrophie.
Weitere klinische Zeichen
Wesentlich seltener als gemeinhin vermutet und gelegentlich nur vorübergehend werden ein positives Babinski-Zeichen oder unerschöpfliche Kloni beobachtet. Auch eine Tonuserhöhung kann zum Bild gehören, diese weist meist sowohl eine spastische als auch eine rigide Komponente auf. Bei pseudobulbären Lähmungen findet sich regelmäßig ein häufiges Gähnen. Eine erhöhte Affektdurchlässigkeit bis hin zum pathologischen Lachen und Weinen, auch Mitbewegungen und Masseninnervationen des Gesichtes sowie ein gesteigerter Masseterreflex oder sogar ein Masseterklonus, eine Kiefersperre und ein positiver Palmomentalreflex werden beobachtet. Die ALS kann klinisch lange Zeit als reine Vorderhornerkrankung imponieren, seltener ist das initial isolierte Vorliegen einer Affektion der zentralen Motorik; hier ist dann das Auftreten von Faszikulationen im Verlauf häufig wegweisend für die Diagnose der Vorderhornbeteiligung.
Hinsichtlich der Bedeutung der Mutationen in den häufigsten Genen ist hervorzuheben, dass sich das klinische Bild der fALS praktisch nicht von der sALS unterscheidet; bemerkenswert ist aus pathogenetischer Sicht, dass in einigen Familien ein Nebeneinander von sehr langsam verlaufenden Formen (>10 Jahre) und sehr aggressiven Erkrankungen (<1 Jahr) auftritt. In Familien mit C9orf72-Mutationen finden sich häufig Patienten mit frontotemporalen Demenzen (FTD) oder Mischformen (ALS/FTD); bei dieser genetischen Ursache ist die Penetranz des verursachenden Gens nicht selten reduziert, sodass auch scheinbar sporadische Patienten beobachtet werden. Bei Patienten, die vor dem 35. Lebensjahr erkranken, sind De-novo-Fus-Mutationen häufig (Hübers et al. 2016).
Akzessorische Symptome
Seit den Untersuchungen von Braak et al. (2013) muss die ALS endgültig als Multisystemerkrankung angesehen werden. Dabei treten Störungen der exekutiven Funktionen am regelmäßigsten auf (Lule et al. 2018); eine Beeinträchtigung der Wortflüssigkeit – unabhängig von bulbären Defiziten – ist sehr häufig zu beobachten (Ludolph et al. 1992). Gesichert erscheint, dass bei einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Patienten schon in frühen Stadien der Erkrankung bei detaillierter neuropsychologischer Untersuchung meist gering ausgeprägte frontale Defizite nachzuweisen sind (Ludolph et al. 1992; Talbot et al. 1995). Diese Befunde sind komplementär zu klinischen Beobachtungen, die bei einigen Patienten – vorwiegend mit zentraler Symptomatik – Stimmungsschwankungen oder eine bemerkenswerte Ausgeglichenheit bis hin zur leichten Euphorie beschreiben. Ob die vergleichsweise geringe Suizidrate unter ALS-Patienten diesen Beobachtungen zugeordnet werden kann, muss offenbleiben. Mithilfe der Positronenemissionstomografie (PET) kann man bei vielen Patienten eine weitreichende, aber v. a. frontale Strukturen betreffende, verminderte Glukoseutilisation kortikaler Strukturen nachweisen. Neuere Untersuchungen zeigen, dass bei etwa 5 % der ALS-Patienten eine klinisch offensichtliche frontale Demenz nachzuweisen ist, während bei den übrigen Patienten leichte Defizite existieren, die interessanterweise kaum oder nicht progredient sind. Die bei diesen bis zu 50 % der Patienten existierenden leichten frontalen Defizite scheinen aber für medikolegal relevante Entscheidungsprozesse keine Rolle zu spielen (Böhm et al. 2016).
Nicht selten klagen die Patienten im Verlauf besonders an den unteren, aber auch an den oberen, Extremitäten über eine – am ehesten aufgrund fehlender Muskelpumpe sekundäre – Störung der Temperaturregulation. Sensibilitätsstörungen treten zu Beginn der Erkrankung recht regelmäßig und vorübergehend auf; sie beschränken sich häufig auf sensible Reizerscheinungen und Defizite der Tiefensensibilität. Wie schon vom Erstbeschreiber Charcot angemerkt, gehören Sphinkterstörungen ebenso wie Dekubitalulzera – auch bei schwer immobilisierten Patienten – nur sehr selten zum klinischen Bild. Zentrale Blasenstörungen sind bei Prädominanz von Defiziten des 1. Motoneurons (primäre Lateralsklerose) fast immer vorhanden.
Bei Patienten, die über eine lange Zeit aufgrund einer Beatmung über ein Tracheostoma die respiratorische Insuffizienz überlebt haben, sind verschiedene Störungen der Okulomotorik bis hin zur kompletten horizontalen und vertikalen Blickparese beobachtet worden. Diese Befunde, Verlust sensibler Axone, Störungen der Okulomotorik sowie die pathologisch-anatomisch konstant nachgewiesene Mitbeteiligung der spinozerebellären Trakte, der Hinterstränge sowie der Formatio reticularis des Hirnstamms spielen aber für die klinische Diagnose praktisch keine Rolle.
Mitbeteiligung anderer Organe
Das Vulnerabilitätsmuster der ALS geht aber auch über das Nervensystem hinaus. Bereits Charcot erwähnte Hautveränderungen, die wahrscheinlich v. a. durch eine veränderte Kollagenstruktur erklärt sind (Kolde et al. 1996). Es gibt Hinweise auf einen Funktionsdefekt des Hypothalamus, der ein wesentlicher pathogenetischer Faktor des Katabolismus, der sowohl im Vorfeld als auch während der Erkrankung beobachtet wird, ist (Vercruysse et al. 2016; Gorges et al. 2017). Dieser Katabolismus ist ein nicht zu unterschätzender negativer prognostischer Faktor.
Verlauf und Prognose
Die Erkrankung verläuft bei fast allen Patienten unaufhaltsam progredient. Dabei darf bei der klinischen Aufklärung jedoch nicht vergessen werden, dass immerhin mehr als 5 % der Erkrankten länger als 10 Jahre überleben. Daher ist insbesondere beim Erstkontakt von voreiligen prognostischen Aussagen abzuraten. Die mittlere Überlebensdauer wird mit 3,5 Jahren nach Beginn der Symptomatik – nicht nach Diagnosestellung – angenommen. Plötzliche „Stillstände“ des Erkrankungsprozesses sind so selten, dass sie genauso wie „Besserungen“ immer zu erneuten differenzialdiagnostischen Überlegungen Anlass geben sollten. Negative prognostische Faktoren sind bulbärer Beginn, ein niedriger Body-Mass-Index (BMI), ein höheres Alter und eine niedrige Vitalkapazität, während Patienten, die jung erkranken, eine vorwiegende Läsion des 1. Motoneurons oder eine hohe Vitalkapazität aufweisen, eher eine günstigere Prognose haben. Es ist von zwei unabhängigen Gruppen gezeigt worden, dass hohe Cholesterin- und Triglyceridspiegel, ja sogar ein erhöhtes LDL (Low-density Lipoprotein) positive prognostische Faktoren darstellen (Dupuis et al. 2008; Dorst et al. 2011). Die respiratorische Insuffizienz ist der limitierende Faktor für die Lebenserwartung der Patienten. Diese wird bei Patienten mit einer Bulbärparalyse häufiger durch eine Aspirationspneumonie verursacht, in der Regel kommt es aber aufgrund der zunehmenden Paresen der Atemmuskulatur nach einer initialen leichten Hyperventilationsphase zu einer langsam progredienten CO2-Narkose. Beide Komplikationen müssen unterschieden werden, da sie zu wichtigen differenzialtherapeutischen Konsequenzen Anlass geben. Die Exzitationsphase der CO2-Narkose verursachen häufig erhebliche Beschwerden: die Patienten klagen über morgendliche Kopfschmerzen, Schlaf- und Konzentrationsstörungen sowie eine innere Unruhe. Diese Beschwerden können und sollten mittels einer nichtinvasiven Beatmung wirksam behandelt werden. Falls die terminale respiratorische Insuffizienz durch eine invasive Beatmung über Jahre behandelt wird, kommt es zur Ausbildung einer kompletten Tetraparese unter Einschluss der Okulomotorik, sodass schließlich die Kommunikationsfähigkeit des Patienten völlig erlischt, wenn man ihn nicht versorgt.
Diagnose
Aus dem Gesagten geht hervor, dass sich die Diagnose einer ALS v. a. auf das hochgradig charakteristische klinische Bild von progredienten, primär fokalen, später generalisierten amyotrophen Paresen bei gleichzeitig lebhaften Eigenreflexen stützt. Die Unterscheidung der familiären Form (fALS) von der sporadischen Form (sALS) gelingt klinisch nicht und muss sich allein auf die Dokumentation der Familienanamnese stützen. Dabei muss sich die Anamneseerhebung auch auf frontotemporale Demenzen erstrecken; eine Koexistenz ist in einigen Familien nachgewiesen worden. Auch die Diagnose „Schizophrenie“ kommt in ALS-Familien vor.
Elektromyografie (EMG)
Die Elektromyografie ist die wichtigste Hilfsuntersuchung, um die – sekundäre – Beteiligung subkortikaler Kerngebiete nachzuweisen; charakteristischerweise weist sie in den untersuchten Muskeln – häufig auch in nichtparetischen Muskelgruppen – pathologische Spontanaktivität vom Typ der Fibrillationspotenziale und positiven scharfen Wellen sowie – gelegentlich – klinisch nicht auffallende Faszikulationen nach. Die Untersuchung bei leichter Willküraktivität zeigt als Ausdruck eines massiven peripheren „sprouting“ verlängerte und polyphasische Potenziale motorischer Einheiten hoher Amplitude. Dieser Umbau motorischer Einheiten geht in klinisch nicht oder kaum befallenen Muskeln dem Auftreten von Denervierungsaktivität voraus. Bei der Untersuchung unter maximaler Willkürinnervation findet sich eine deutliche neurogene Lichtung. Stimulationsuntersuchungen können bei manchen Patienten eine sekundäre myasthene Reaktion nachweisen, die aber therapeutisch irrelevant ist.
Nervenleitgeschwindigkeit
Die Nervenleitgeschwindigkeiten sind nur minimal reduziert. Treten in frühen und mittleren Stadien der Erkrankungen um mehr als 25 % reduzierte Nervenleitgeschwindigkeiten auf, ist eine differenzialdiagnostische Abgrenzung gegenüber – häufig behandelbaren – demyelinisierenden Erkrankungen vorzunehmen. In späten Stadien und bei Vorliegen massiver Atrophien führt der Verlust der spinalen Motoneurone allerdings auch zu einem ausgeprägten Verlust höherkalibriger Axone, sodass deutliche Reduktionen von Nervenleitgeschwindigkeiten gemessen werden können, ohne dass dieser Befund eine differenzialdiagnostische Bedeutung hat.
Genmutationen
Bei etwa 45 % der Patienten mit fALS in Deutschland können Mutationen in den häufigsten Genen, dem C9orf72-Gen (24 %) und im Gen der Cu-Zn-SOD (13 %), nachgewiesen werden. Es folgen Mutationen im TDP-43-, im Fus- und im TBK1-Gen (jeweils 4 %) (Müller et al. 2018). In den letzten Jahren sind Zweifel aufgetreten, ob alle bekannten (über 50) Mutationen krankheitsverursachend sind oder ob eine Anzahl weniger relevante Polymorphismen darstellen. Dies sollte bei der genetischen Beratung berücksichtigt werden.
Formale wissenschaftliche Kriterien
Im Rahmen einer Konsensuskonferenz der World Federation of Neurology wurden vor 20 Jahren formale wissenschaftliche Kriterien für die Diagnose einer ALS entwickelt (Brooks et al. 2000). Ausgangspunkt der diagnostischen Kriterien waren die 1994 veröffentlichten „El-Escorial-Kriterien“, die 1998 revidiert wurden. Prinzipiell spiegeln diese Kriterien das charakteristische klinische Bild einer Affektion des 1. und 2. Motoneurons wider, ohne dass zusätzlich andere Systeme betroffen sind. Die Wahrscheinlichkeit der Diagnose wird über die Anzahl der betroffenen Körperregionen definiert.
Diagnosekriterien für die amyotrophe Lateralsklerose nach der World Federation of Neurology (El Escorial, modifiziert in Airlie House)
  • Die Diagnose einer ALS erfordert das Vorhandensein von:
    • Zeichen der Läsion des 2. Motoneurons (auch EMG-Befunde in klinisch normalen Muskeln)
    • Zeichen der Läsion des 1. Motoneurons
    • Progredienz
  • Diagnostische Kategorien:
    • Sichere ALS: Zeichen der Läsion des 1. und des 2. Motoneurons in drei Regionen (Regionen sind: Hirnstamm, Arme, Thorax und Rumpf, Beine)
    • Wahrscheinliche ALS: Zeichen der Läsion des 1 und des 2. Motoneurons in zwei Regionen (Zeichen des 1. Motoneurons rostral zu den Zeichen des 2. Motoneurons)
    • Mögliche ALS: Zeichen der Läsion des 1. und 2. Motoneurons in einer Region (z. B. bei monomelischer ALS oder progressiver Bulbärparalyse) oder Zeichen der Läsion des 1. Motoneurons in zwei oder drei Regionen (z. B. primäre Lateralsklerose)
    • ALS-Verdacht: Zeichen der Läsion des 2. Motoneurons in zwei oder drei Regionen, keine Zeichen der Läsion des 1. Motoneurons (z. B. bei spinaler Muskelatrophie)
  • Die Diagnose einer ALS erfordert das Fehlen von
    • Gefühlsstörungen,
    • Sphinkterstörungen,
    • autonomer Dysfunktion,
    • Parkinsonsyndrom,
    • Syndromen, die der ALS ähneln.
  • Die Diagnose einer ALS wird gestützt durch
    • Faszikulationen in einer oder mehreren Regionen,
    • neurogene Veränderung bei EMG-Untersuchungen,
    • normale motorische und sensible Nervenleitgeschwindigkeiten (distale motorische Latenzen dürfen erhöht sein),
    • Fehlen von Leitungsblöcken.
Es ist aus Sicht des Klinikers wichtig zu betonen, dass diese Kriterien (s. Übersicht) entwickelt worden sind, um für Therapie- oder andere wissenschaftliche Studien ein ausreichendes Maß an Einheitlichkeit und Sicherheit zu schaffen; die El-Escorial-Kriterien tragen daher keineswegs der potenziellen Komplexität der klinischen Situation Rechnung, und ein rigides Übertragen der Ausschlusskriterien auf die klinische Diagnose ist nicht ihr Sinn. Vielmehr sollte es so sein, dass bei einem Auftauchen der Ausschlusskriterien in der klinischen Situation intensive differenzialdiagnostische Überlegungen angestellt werden. So kann die ALS sehr wohl von zentralen Spinkterstörungen und einer (frontalen) Demenz begleitet sein.
Im Jahr 2014 wurden die Kritikpunkte an den Airlie-House-Kriterien systematisiert (Agosta et al. 2015; Ludolph et al. 2015), diese in neue, stark vereinfachte Kriterien eingebracht, die auch den inzwischen überall in der Welt vorhandenen diagnostischen Möglichkeiten (insbesondere des MRTs) und teilweise auch den neuroanatomischen Studien von Braak und Mitarbeitern Rechnung tragen (Ludolph et al. 2015). Prinzipiell kann nach den neuen Kriterien die Diagnose einer ALS gestellt werden, falls die Airlie-House-Kriterien für die mögliche ALS erfüllt sind; vorausgesetzt ist eine sorgfältige Differenzialdiagnose mit modernen Untersuchungsmethoden (einschließlich MRT). Das Vorliegen einer Demenz ist kein Ausschlusskriterium.
Differenzialdiagnose
Es ist es wichtig, andere Erkrankungen differenzialdiagnostisch auszuschließen. Zur Basisdiagnostik (s. folgende Übersicht), die den Zweck der optimalen medizinischen Versorgung des ALS-Patienten hat, gehören die Bestimmung der Blutsenkungsgeschwindigkeit sowie der routinemäßig erhobenen blutchemischen Parameter, die Durchführung einer Röntgenaufnahme der Lunge sowie eines Elektrokardiogramms.
Routineuntersuchungen bei der amyotrophen Lateralsklerose
  • Laboruntersuchungen
    • Routineblutuntersuchungen
    • Röntgenthorax
    • Vitamin B12-, Methylmalonsäure-, Homocystein- und Folsäurespiegel, Schilddrüsenfunktion, Immunelektrophorese
    • Neuropsychologische Untersuchung
  • Mögliche Untersuchungen
    • Magnetresonanztomografie (spinal und kranial)
    • Lumbalpunktion mit Bestimmung der Degenerationsmarker (NfL, NfH)
    • Detailliertere neuropsychologische Untersuchung
Eine weitergehende differenzialdiagnostische Bedeutung, um mögliche Kofaktoren auszuschließen, hat die Untersuchung der Schilddrüsenfunktion, der Vitamine B1, der Vitamin-B12- (Methylmalonsäure, Homocystein) und Folatspiegel und die Durchführung der Luesdiagnostik. Zu den differenzialdiagnostisch bedeutsamen Hilfsuntersuchungen gehören die Untersuchungen der Nervenleitgeschwindigkeiten, die Elektromyografie, laborchemische Untersuchungen des Blutes und des Liquor cerebrospinalis, in Ausnahmefällen auch MRT oder CT und – sehr selten – die Muskelbiopsie. Der Neurologe sollte sich ein klinisches Bild der neuropsychologischen Defizite machen; bei nur 5 % der Patienten sind medikolegal relevante frontale Defizite zu erwarten. Krankheitsbilder, die in der Differenzialdiagnose der ALS eine Rolle spielen können, sind in der folgenden Übersicht zusammengefasst.
Da die ALS nach den Untersuchungen von Braak et al. (2013) eine Erkrankung kortikoefferenter Axone ist, überrascht es nicht, dass die Bestimmung axonaler Marker wie den Neurofilamenten NfL und NfH in Liquor und Blut eine große differenzialdiagnostische Hilfe ist (Steinacker et al. 2016), die alle nichtdegenerativen Erkrankungen mit ähnlichem Phänotyp zuverlässig abgrenzt. Klärungsbedarf besteht bei degenerativen Erkrankungen mit ähnlicher Pathologie wie der primären progressiven Aphasie (Oeckl et al. 2016), die aber klinisch kaum mit der ALS zu verwechseln ist.
Erkrankungen, die bei der Differenzialdiagnose der ALS mit in Betracht gezogen werden sollten
Die Diagnose einer ALS ist so charakteristisch, dass kaum Fehldiagnosen in Frage kommen. Es kommt vor, dass Erkrankungen, die mit Autoimmunprozessen assoziiert sind, fehldiagnostiziert werden. Häufig wird eine monoklonale Gammopathie mit Leitungsblock und motorischer Neuropathie (multifokale motorische Neuropathie – MMN; CIDP-Variante) vermutet. Bei den meisten Patienten wird die aus diagnostisch-therapeutischen Gründen durchgeführte Immunglobulingabe das Vorliegen einer ALS nahelegen.
Weiter sind differenzialdiagnostisch zu berücksichtigen
Nervenleitgeschwindigkeit
Die Untersuchung von Nervenleitgeschwindigkeiten erleichtert die Abgrenzung von motorischen Varianten eines chronischen Guillain-Barré-Syndroms („chronic inflammatory demyelinating polyneuroradiculitis“, CIDP), insbesondere der sehr seltenen, aber mit Immunglobulinen zumindest möglicherweise vorübergehend behandelbaren multifokalen motorischen Neuropathien (MMN). Wenn die Messung unter Temperaturkontrolle vorgenommen wird, spricht eine Reduktion der motorischen Leitgeschwindigkeiten um mehr als 25 % für das Vorliegen einer solchen demyelinisierenden Erkrankung. Liegen klinische Verdachtsmomente vor (Areflexie, asymmetrischer Beginn an den oberen Extremitäten, eher jüngere Patienten, erhöhtes Liquoreiweiß), sollte es nicht unterlassen werden, nach der Präsenz von motorischen Leitungsblöcken zu fahnden. Als potenzielle Fehlerquellen müssen bei dieser Untersuchung berücksichtigt werden, dass
  • Leitungsblöcke an physiologischen Engpässen keine differenzialdiagnostische Bedeutung aufweisen,
  • bei niedrigen Muskelsummenpotenzialen (d. h. einem Verlust einer hohen Anzahl von motorischen Einheiten) Leitgeschwindigkeiten um mehr als 25 % reduziert sein können, obwohl es sich um eine typische ALS handelt,
  • klassischerweise die Temperatur der betroffenen Extremität des ALS-Patienten reduziert ist, sodass Messungen ohne Temperaturkontrolle fälschlicherweise auf eine „Demyelinisierung“ hinweisen können.
Es ist ebenfalls erwähnenswert, dass eine leichte Reduktion sensibler Leitgeschwindigkeiten und auch eine Reduktion der sensiblen Nervenaktionspotenziale um bis zu 50 % die Diagnose einer ALS keineswegs in Frage stellt. Die Elektromyografie wird auch die Differenzialdiagnose gegenüber einer chronischen Polymyositis oder einer Einschlusskörperchenmyositis erleichtern. Sie ist ebenso hilfreich, falls die seltene Differenzialdiagnose maligner vs. benigner Faszikulationen diskutiert wird. Dabei sind benigne Faszikulationen nicht mit Denervierungsaktivität verknüpft.
Liquoruntersuchung
Der Liquor cerebrospinalis ist bis auf eine häufig nachweisbare leichte Eiweißerhöhung (bis maximal 80 mg/dl, sehr selten mehr) und Schrankenstörung, die insbesondere bei rasch progredienten Krankheitsbildern beobachtet wird, normal (Süssmuth et al. 2010). Eine mäßige bis deutliche Erhöhung des Liquoreiweiß deutet wiederum entweder auf das Vorliegen einer CIDP oder eine spinale Raumforderung hin und sollte Anlass für sorgfältige differenzialdiagnostische Überlegungen sein. Die Präsenz von oligoklonalen Banden im Liquor gehört nicht zum Normalbefund bei der ALS und wird selten bei Patienten beobachtet, bei denen die ALS mit einem Lymphom assoziiert ist oder eine Enzephalomyelitis koexistiert und kann auf eine paraneoplastische (Enzephalo)Myelitis mit Vorderhornbeteiligung hinweisen.
Die Kreatinkinase ist bei der Mehrzahl der Patienten in Korrelation zum Verlust an Muskelmasse und zur Progressionsrate der Erkrankung leicht erhöht; das EMG ist aber neurogen.
Die Suche nach einer monoklonalen Gammopathie mittels Immunelektrophorese sollte zum Standarduntersuchungsprogramm bei Patienten ohne überzeugende Hinweise auf eine Läsion des 1. Motoneurons gehören. Die differenzialdiagnostische Abgrenzung gegenüber zervikalen und lumbalen Bandscheibenerkrankungen erfolgt in der Regel allein aufgrund des Verlaufes der Symptomatik. MRT und CT beweisen eine morphologisch fassbare Wurzelkompression.
Neurofilamente
Es ist in den letzten Jahren überzeugend gezeigt worden, dass die Neurofilamente NfH und NfL im Blut und Liquor von ALS-Patienten erhöht sind (Steinacker et al. 2016). Dieser Befund kann differenzialdiagnostisch genutzt werden, das Ausmaß der Erhöhung hat prognostischen Charakter, und es konnte gezeigt werden, dass die Neurofilamente mit Auftreten der ersten klinischen Symptome einer ALS ansteigen (Weydt et al. 2016).
Bildgebende Diagnostik und evozierte Potenziale
Sowohl die bildgebende Diagnostik des Gehirns und des Rückenmarks als auch die Untersuchung von evozierten Potenzialen ist nur von geringer Aussagekraft. Dabei sind die Latenzen der somatosensibel evozierten Potenziale nach Reizung von Nervenstämmen an den unteren Extremitäten bei vielen Patienten pathologisch, sodass ein solcher Befund allenfalls zu differenzialdiagnostischen Überlegungen Anlass geben sollte, aber keineswegs ein Argument gegen die Diagnose einer ALS darstellt. Die Untersuchung der Funktion des kortikospinalen Systems mit der Magnetstimulation wird in der Regel keine Informationen liefern, die über den klinischen Befund hinausgehen. Es wird diskutiert, ob das MRT durch den Nachweis veränderter T2-Zeiten im kortikospinalen Trakt zur Diagnose einer Pyramidenbahnläsion beiträgt; dabei ist nicht die Sensitivität der Methode Gegenstand der Diskussion, sondern ihre Spezifität.
Differenzialdiagnose einzelner Krankheiten
Selten wird eine Polymyositis oder eine Einschlusskörperchenmyositis differenzialdiagnostisch zu beachten sein; wenn das Paresenmuster, eine deutlich erhöhte Kreatinkinase und Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit nicht weiterhelfen, werden die Elektromyografie und ggf. auch die muskelbioptische Untersuchung hilfreich sein. Wenngleich eine Beteiligung des kortikospinalen Systems und der Vorderhornzellen auch zum Bild der Creutzfeld-Jacob-Erkrankung gehört, so wird die regelmäßige Mitbeteiligung anderer Systeme eine klinisch-differenzialdiagnostische Abgrenzung dieses Krankheitsbildes kaum problematisch werden lassen.
Benignere Varianten von Motoneuronerkrankungen
Da der Patient verständlicherweise meist an der Prognose, nicht an den Details der Diagnose seiner Erkrankung interessiert ist, spielen Kenntnisse zur Abgrenzung vergleichsweise benigner Verlaufsformen von Motoneuronerkrankungen eine wichtige Rolle.
Die prognostisch hinsichtlich der Lebenserwartung benigne Kennedy-Krankheit gehört zu den spinalen Muskelatrophien und wird häufig mit der ALS verwechselt, Gynäkomastie und Zungenatrophie bei noch weitgehend erhaltener Sprechfähigkeit sind pathognomisch, und die klinische Diagnose wird genetisch durch den Nachweis von Trinukleotidrepeats im Androgenrezeptor-Gen bestätigt.
Die primäre Lateralsklerose ist durch die initial ausschließliche Beteiligung des 1. Motoneurons gekennzeichnet; später geht sie immer in eine ALS über. Sie ist aber bei vielen Patienten mit einer Lebenserwartung von 10–20 Jahren verknüpft. Entscheidend für eine günstigere Prognose ist die frühe und konsequente Einleitung symptomatischer Therapieformen (Wais et al. 2017).
Das Vulpian-Bernhard-Syndrom (im Englischen auch nach Henry Gowers „flail-arm syndrome“) wird erstaunlich häufig mit der multifokalen motorischen Neuropathie verwechselt und daher vergeblich mit Immunglobulinen behandelt. Es ist initial mit meist proximal betonten Amyotrophien und Paresen der oberen Extremitäten, die von einer Areflexie begleitet sind, verknüpft; nachdem sich nach etwa 3–5 Jahren eine komplette Paraparese entwickelt hat, treten dann Paresen der Beine auf. Klassischerweise finden sich hier dann ein positives Babinski-Zeichen und lebhafte Reflexe. Die Zeichen der respiratorischen Insuffizienz entwickeln sich etwa 10 Jahre nach Beginn der Erkrankung. Allerdings gibt es auch aggressivere Varianten dieses Syndroms (Hübers et al. 2015, 2016).
Ob es ein ähnliches Syndrom an den Beinen gibt („flail leg“), bleibt nach Ansicht des Autors unbewiesen, ist aber wahrscheinlich. Allerdings können Erkrankungen, die dem Vulpian-Bernhard-Syndrom (oder auch dem „flail leg syndrome“) phänotypisch ähneln, auch einen malignen Verlauf nehmen.
Therapie
Die Therapie der amyotrophen Lateralsklerose hat im letzten Jahrzehnt Fortschritte gemacht; ein therapeutischer Nihilismus ist jedenfalls nicht am Platz. Insbesondere ist die Führung des Patienten in einem multidisziplinären Team, das Krankenschwestern und -pfleger, Krankengymnasten, Logopäden, Orthopäden, Pulmologen, Anästhesisten, insbesondere aber auch den Hausarzt umfasst, eine sinnvolle, anspruchsvolle und nicht zu unterschätzende Aufgabe. Die Leitung des Teams durch den kundigen Neurologen ist ein Muss. Der Patient sollte über die Diagnose von einem Fachmann zu einem geeigneten Zeitpunkt aufgeklärt werden; eine sorgfältige Wahl dieses geeigneten Zeitpunktes schließt die Möglichkeit mit ein, dass der Kontakt des Patienten zum Arzt seines Vertrauens auch wiederholt erfolgen kann, damit die notwendige diagnostische Sicherheit und ein tragfähiges Vertrauensverhältnis entstehen. Im Rahmen der Diskussion der Prognose der Erkrankung sollte auch der initial unvorhersehbare Verlauf mit der Option einer nur langsamen Progredienz, besprochen werden. Der Wunsch nach dem Einholen einer zweiten diagnostischen Meinung sollte immer gestützt werden. Es ist sinnvoll, enge Verwandte oder Ehepartner in den Aufklärungsprozess mit einzubeziehen. Einen nicht zu unterschätzenden Wert haben auch die heute überall existierenden Selbsthilfegruppen in der Entwicklung einer effektiven Betreuung des Patienten. Obwohl einzelne Patienten den Kontakt mit einer solchen Gruppe bereits initial ablehnen, andere wiederum schon nach dem ersten Besuch die Kontakte abbrechen, ist doch die generelle Erfahrung die, dass Patienten auch schon von einer frühen Kontaktaufnahme – nach der Aufklärung durch den Arzt – profitieren.
Pharmakologische Behandlungsoptionen
Die Untersuchungen von Braak beim Menschen haben gezeigt, dass fast ausschließlich glutamaterge Neuronen und ihre Axone durch den Degenerationsprozess erfasst werden; in Zusammenhang mit experimentellen Befunden, dass die Propagation der Erkrankung aktivitätsabhängig ist, gibt dies der seit 20 Jahren durchgeführten Modulation der Erkrankung durch den Glutamatfreisetzungsblocker Riluzol eine weitere rationale Grundlage. Die Verlängerung der Überlebenszeit des ALS-Patienten beträgt bei einer noch verbleibenden Lebensspanne von durchschnittlich 12 Monaten knapp 4 Monate (Lacomblez et al. 1996). Es muss bedacht und mit dem Patienten aus Gründen der Compliance diskutiert werden, dass dieser Therapieansatz den Verlauf der Erkrankung verzögert, sie jedoch nicht zum Stillstand bringt oder die Symptomatik bessert. Retrospektive Analysen haben gezeigt, dass die behandelten Patienten länger in den früheren Stadien der Erkrankung verbleiben – ein Hinweis darauf, dass die Substanz auch einen Einfluss auf die Lebensqualität der Behandelten hat. Es überrascht nicht, dass die vorliegenden Ergebnisse zeigen, dass ein früher Einsatz des Medikaments sinnvoller als eine spätere Behandlung ist.
Das Antioxidans Edoravone scheint bei einer Subgruppe früher ALS Patienten einen zusätzlichen krankheitsverzögernden Effekt zu haben; ob dieser Effekt auf alle Patienten übertragbar ist, müssen Studien zeigen. Auch die derzeit allein verfügbare parenterale Darreichungsform bedarf der Verbesserung (Ludolph 2017)
  • Kürzlich wurde gezeigt, dass der MAO-B-Hemmer Rasagilin die Progression der ALS und das Überleben der Patienten positiv zu beeinflussen scheint; der Effekt scheint sich aber auf die Patienten zu beschränken, die einen aggressiven Verlauf haben (Ludolph et al. 2018).
Symptomatische Therapie
Speichelfluss
Nicht selten leiden Patienten mit einer Bulbärparalyse unter einem vermehrten Speichelfluss. Hauptursache ist die Unfähigkeit, den produzierten Speichel (2–3 l/Tag) zu schlucken („Pseudohypersalivation“). Orthopädische Interventionen (Korrektur der Kopfposition durch Unterstützung der Halsmuskulatur), krankengymnastisches Training des Lippenschlusses und pharmakologische Intervention durch lokal oder über Hautpflaster applizierte Anticholinergika (Atropin, Scopolamin) sind hilfreich. Der anticholinerge Begleiteffekt einiger Thymoleptika führt vorübergehend zu einer Reduktion der Speichelproduktion. Injektionen von Botulinustoxin sind erfolgreich und zum Goldstandard geworden; zumal sie im Kontrast zur Bestrahlung der Speicheldrüsen reversible Effekte haben und im Bedarfsfall Dosisanpassungen vorgenommen werden können.
Schluckstörungen
Bei einem Patienten mit vorwiegend bulbärer Symptomatik, bei dem die Paresen den Schluckvorgang verhindern und damit die katabole Stoffwechsellage verstärken oder die hochgradige Gefahr der Aspirationspneumonie herbeiführen, empfiehlt sich eine dezidierte Schluckdiagnostik (Kühnlein et al. 2008). In einem eingehenden Gespräch mit dem Patienten sollte im Bedarfsfall die Anlage eines Gastrostomas erwogen werden. Nicht selten erfordert die Diskussion dieser vom ALS-Patienten oft als eingreifend empfundenen Maßnahme Geduld seitens der Betreuer und einen gewissen Zeitraum, der durch den temporären Einsatz einer Magensonde, orthopädische Maßnahmen (Stabilisierung des Kopfes) und eine geeignete Diät überbrückt werden kann.
Die Indikation für die Durchführung einer perkutanen endoskopischen Gastrostomie (PEG) ergibt sich bei massivem Gewichtsverlust mit Dehydrierung, dem Auftreten von Aspirationspneumonien und häufigem Verschlucken. Es ist notwendig, diese in der Regel vom Patienten als sehr hilfreich erlebte Maßnahme mit ausführlichen praktischen Ratschlägen zu dieser Form der Ernährung zu verbinden. Der Effekt der Anlage eines Gastrostomas auf die Lebensqualität und wahrscheinlich auch die Lebenserwartung beim Patienten ist häufig beeindruckend; eine hochkalorische Diät ist wahrscheinlich lebensverlängernd (Dorst et al. 2015).
Dysarthrie und Anarthrie
Die Dys- oder Anarthrie ist ein Aspekt der Kommunikationsschwierigkeiten („Deefferenzierung“) des ALS-Patienten. Aufgabe der Zusammenarbeit des Neurologen mit dem Logopäden ist nicht nur die Nutzung der Restfunktionen des Sprechapparates, sondern auch die rechtzeitige Versorgung des Patienten mit Kommunikationshilfen. Bei drohender Anarthrie sollte ein Sprechcomputer mit der notwendigen Speicherkapazität zur Verfügung gestellt werden. Wenn in vorausschauender Weise die Sprache auf Speichermedien konserviert wird, kann die Ersatzartikulation sogar der ursprünglichen Sprache der Erkrankten nahekommen.
Respiratorische Insuffizienz
Die respiratorische Insuffizienz ist der begrenzende Faktor für die Lebenserwartung des ALS-Patienten. Sie wird einerseits durch die Paresen der Atemmuskulatur, andererseits durch Aspirationspneumonien hervorgerufen.
Nachdem der Patient eine Zeit lang die beginnende Hypoxie über eine Hyperventilation kompensieren konnte, steigt der pCO2 in charakteristischer Weise an und erzeugt die Symptome einer beginnenden CO2-Narkose: nächtliche Schlafstörungen, Unruhezustände, Tagesmüdigkeit und Konzentrationsstörungen. In dieser Situation wird sich der Allgemeinzustand des Kranken rasch durch eine nichtinvasive Maskenbeatmung bessern, wobei die Grenzen dieser Behandlungsform oft in den Schwierigkeiten der Anpassung einer Maske bei Patienten mit einer Bulbärparalyse liegen. Eigene Arbeiten haben die bei dieser Patientengruppe überzeugende Überlegenheit einer Maske, die das gesamte Gesicht abschließt („whole face“), beweisen können; auch Patienten mit Bulbärparalyse können erfolgreich nichtinvasiv beatmet werden, wenn das technische Know-how vor Ort ist. Alternativ kann eine Zwerchfellstimulation erwogen werden (DiPALS study group 2015). Auch das zu einem angemessenen Zeitpunkt geführte Gespräch mit dem Patienten über die drohende respiratorische Insuffizienz und ihre potenziellen Behandlungsmöglichkeiten gehört zur Betreuung des Kranken – besonders, weil ein verantwortlicher Umgang mit den therapeutischen Optionen die häufig im Notfall durchgeführten Intubationen und die resultierenden medizinisch-rechtlichen Probleme zu verhindern hilft. Nicht selten können im Verlauf von – nicht rechtzeitig behandelten – Infektionen des oberen Respirationstrakts Attacken quälender Hyperpnoe auftreten, die durch eine rasche antibiotische Therapie und eine orale oder rektale Gabe von Morphinen angemessen behandelt werden können.
Krankengymnastik und Hilfsmittelversorgung
Die frühzeitige und vorausschauende Versorgung mit adäquaten Hilfsmitteln (Peronäusschiene, Stützkorsett, Rollstuhl, Halskrawatte) gehört zur sorgfältigen Betreuung von ALS-Patienten. Eine krankengymnastische Übungsbehandlung mäßiger Intensität mit dem Ziel, die Funktion des Bewegungsapparates soweit wie möglich zu erhalten und Immobilisationsschäden vorzubeugen, wird empfohlen. Intensive Trainingsprogramme haben aus heutigem pathogenetischen Verständnis nicht nur keinen Sinn, sondern es gibt Hinweise, dass sie sogar die Erkrankung beschleunigen (Mac Dermid et al. 2016).
Andere Symptome und Therapieansätze
Nur in Ausnahmefällen werden Antispastika oder Acetylcholinesterasehemmer nützlich sein. Ein therapeutischer Effekt von – auch antioxidativen – Vitaminpräparaten in normalen oder Megadosen ist beim Menschen nicht bewiesen. Bei Vorliegen von Muskelkrämpfen oder schmerzhaften Spasmen können Chinidinpräparate (Limptar) oder – besser – das über die internationale Apotheke erhältliche Mexitil gegeben werden.
Klassische Charcot-ALS
Der 57-jährige Patient, ein Chemielehrer, berichtete bei Erhebung der Anamnese, dass er in seinem gesamten Leben begeisterter Mittelstreckenläufer gewesen wäre. Er laufe seit Langem regelmäßig morgens vor der Schule, 6-mal in der Woche, eine Strecke von 10 km. Er habe vor etwa 9 Monaten einen deutlichen Leistungsabfall bemerkt, der sich immer weiter fortsetze, sodass er für die 10 km jetzt über 1 Stunde brauche. Seit 3 Monaten bemerke er ein Geräusch beim Auftreten mit dem rechten Fuß; in den letzten 4 Wochen sei er dreimalig gestürzt und er habe das morgendliche Laufen aufgegeben.
Bei der klinisch neurologischen Untersuchung findet sich eine deutliche Fußheberparese rechts (Kraftgrad 4), eine Großzehenheberparese rechts (Kraftgrad 2) und eine Quadrizepsparese des Kraftgrads 4 rechts. An der linken unteren Extremität findet man eine beginnende Fußheberparese des Kraftgrads 4+ und eine Großzehenheberparese des Kraftgrads 4. Die Achillesehnenreflexe (ASR) sind mittellebhaft, die Patellarsehnenreflexe (PSR) kloniform. Kein Babinski. Der Befund ist an den oberen Extremitäten bei der Erstuntersuchung unauffällig. Bei der Nachfolgeuntersuchung 9 Monate nach der Erstvorstellung entwickelt sich eine Parese der intrinsischen Handmuskulatur rechts, beginnend auch links; der Patient ist zu diesem Zeitpunkt auf die Hilfe eines Rollstuhls angewiesen. Weitere 1½ Jahre später entwickelt er eine Bulbärparalyse, gleichzeitig bei einer Vitalkapazität von 60 % eine respiratorische Insuffizienz unter Belastung.
Kommentar: Es handelt sich um das klassische von Charcot beschriebene Syndrom: asymmetrische, fokal beginnende Paresen, die sich kontinuierlich über den Körper ausbreiten. Die progredient reduzierte motorische Leistungsfähigkeit vor Beginn der Paresen ist häufig zu beobachten. Das Nebeneinander von amyotrophen Paresen und lebhaften Reflexen ist als Zeichen der Beteiligung des 1. Motoneurons zu werten.
Familiäre ALS
Der 56-jährige Patient berichtete, dass er vor etwa 1 Jahr eine Schwäche der rechten Handmuskulatur entwickelt habe, die sich v. a. auf die Feinmotorik beziehe. So habe er den Autoschlüssel nicht mehr umdrehen, seine Knöpfe nicht mehr schließen können und er habe Schwierigkeiten gehabt, die Krawatte zu binden. Heute sei die Schwäche schon weit darüber hinaus fortgeschritten, so bemerke er eine Schwäche beim Heben der Hand (Extension) sowie eine Bizepsschwäche rechts.
Bei der klinisch-neurologischen Untersuchung finden sich distal betonte Amyotrophien der rechten oberen Extremität, gleichzeitig ein lebhaftes Reflexniveau sowie beginnende Amyotrophien und Störungen der Feinmotorik der linken Hand. Nach der Familienanamnese befragt, verneint der Bankdirektor zunächst jedes familiäre Auftreten einer Motoneuronerkrankung. Auf Nachfrage berichtet er, dass sein Vater aus dem Zweiten Weltkrieg aufgrund seiner besonders schrecklichen Kriegserlebnisse mit einer „Geisteskrankheit“ zurückgekommen sei; er habe sich so verändert, dass er direkt nach der Rückkehr als junger Mann in seinen 30ern im Jahr 1945 in ein Landeskrankenhaus eingewiesen wurde. Die Diagnose habe „Schizophrenie“ gelautet. Die Unterlagen über den Vater des Patienten waren noch archiviert. Es fiel beim Studium der Akte auf, dass die Krankheit des Patienten zwar initial als eine „Schizophrenie“ bezeichnet wurde, von der man vermutete, dass sie durch die Kriegsereignisse getriggert wurde. Allerdings habe er dann in den nächsten Monaten und Jahren amyotrophe Paresen entwickelt und sei schließlich an respiratorischer Insuffizienz im Rahmen einer Pneumonie verstorben. Vier Wochen nach der Vorstellung meldete sich der Bruder des Patienten und litt an einer klassischen Symptomatik einer Charcot-ALS. 15 Jahre nach der Vorstellung des Patienten, der aufgrund der Behandlung durch ein Tracheostoma 15 Jahre überlebte, meldete sich der 33-jährige Sohn des Patienten und zeigte identische Symptome wie der Vater.
Kommentar: Es ist nicht möglich, diese Familienanamnese abschließend zu kommentieren. Allerdings sollte daraus geschlossen werden, dass es sinnvoll ist, sich nicht – auch bei sehr gut ausgebildeten – Patienten mit der ersten – negativen – Reaktion zu begnügen, sondern nachzuforschen. Darüber hinaus sollten heute demenzielle Prozesse, insbesondere mit Blick auf frontale Defizite, bei der Erhebung der Familienanamnese mitberücksichtigt werden.

Facharztfragen

1.
Welches sind die klassischen diagnostischen Kriterien der ALS?
 
2.
Wie häufig ist die klinisch offensichtliche Kombination einer ALS mit einer frontotemporalen Demenz?
 
3.
Wie häufig ist die Inzidenz der ALS in den Industrienationen? Was folgt daraus: Wie viele Bundesbürger werden an einer ALS versterben?
 
4.
Nennen Sie drei für die ALS differenzialdiagnostisch wichtige Erkrankungen.
 
5.
Welche benignen Unterformen von Motoneuronerkrankungen kennen Sie?
 
6.
Beschreiben Sie den typischen Verlauf einer alveolären Hypoventilation bei einer ALS, aber auch bei anderen neuromuskulären Erkrankungen, die die Atemmuskulatur ergreifen.
 
7.
An welcher Komplikation verstirbt die Mehrzahl der ALS-Patienten?
 
8.
Was sind die Kriterien für die Einrichtung einer PEG?
 
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