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Die Ärztliche Begutachtung
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Publiziert am: 09.07.2022

Schilddrüsen- und Nebenschilddrüsenerkrankungen

Verfasst von: Johannes W. Dietrich, Harald Klein, Ekkehard Schifferdecker und Helmut Schatz
Strukturelle Veränderungen, Entzündungen und Funktionsstörungen der Schilddrüse sind hochprävalente Erkrankungen, die vielfältige somatische und psychische Folgen nach sich ziehen können. Gutachterliche Bedeutung erlangen sie insbesondere, wenn sie durch Verletzungen, medizinische Maßnahmen oder endokrine Disruptoren ausgelöst wurden. Zumindest vorübergehend können Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit und Fahreignung resultieren. Erkrankungen der Nebenschilddrüsen umfassen den Hypoparathyroidismus und verschiedene Formen des Hyperparathyreoidismus. Sie können u. a. von medizinischen Maßnahmen, Verletzungen oder Strahlung herrühren. Sowohl bei Hypo- als auch bei Hyperkalziämie können passagere Einschränkungen der Fahreignung und der Fähigkeit zur Ausübung bestimmter Berufe, mitunter auch der Erwerbsfähigkeit bestehen.

Einleitung

Strukturelle Veränderungen, Entzündungen und Funktionsstörungen der Schilddrüse sind hochprävalente Erkrankungen, die vielfältige somatische und psychische Folgen nach sich ziehen können. Gutachterliche Bedeutung erlangen sie insbesondere, wenn sie durch Verletzungen, medizinische Maßnahmen oder endokrine Disruptoren ausgelöst wurden. Zumindest vorübergehend können Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit und Fahreignung resultieren.
Erkrankungen der Nebenschilddrüsen umfassen den Hypoparathyroidismus und verschiedene Formen des Hyperparathyreoidismus. Sie können u. a. von medizinischen Maßnahmen, Verletzungen oder Strahlung herrühren. Sowohl bei Hypo- als auch bei Hyperkalziämie können passagere Einschränkungen der Fahreignung und der Fähigkeit zur Ausübung bestimmter Berufe, mitunter auch der Erwerbsfähigkeit bestehen.

Thyreotoxikose

Definition

Die Thyreotoxikose ist gekennzeichnet durch einen Überschuss von wirksamen Schilddrüsenhormonen im Organismus. Etwa 5 % aller Schilddrüsenerkrankungen gehen mit einer Thyreotoxikose einher. Frauen sind 4- bis 6-fach häufiger betroffen als Männer.

Einteilung und Ätiopathogenese

Die Thyreotoxikose ist ein allgemeiner Oberbegriff. Sie ist weder synonym mit einer Hyperthyreose noch mit einer thyreotoxischen Krise. Unterformen der Thyreotoxikose stellen die echte Hyperthyreose (vermehrte Synthese von Schilddrüsenhormonen durch gesteigerte Aktivität der Schilddrüsenperoxidase), die Freisetzungsthyreotoxikose (Ausschwemmung präformierter Schilddrüsenhormone bei bestimmten entzündlichen Erkrankungen) und die Thyreotoxicosis factitia (Thyreotoxikose durch exogen zugeführte Schilddrüsenhormone) dar. Eine Hyperthyreose kann primärer (Ursache in der Schilddrüse) oder sekundärer Natur (Ursache in der Hypophyse) sein. Sehr verschiedene Erkrankungen der Schilddrüse mit jeweils spezifischen pathogenetischen Mechanismen bewirken eine primär hyperthyreote Stoffwechsellage.
  • Der Morbus Basedow, eine B-zell-vermittelte Autoimmunerkrankung mit teilweise genetischem Hintergrund, ist gekennzeichnet durch die Trias aus Hyperthyreose, diffuser Struma und endokriner Orbitopathie (auch: Ophthalmopathie). Gewisse, relativ schwache Assoziationen mit HLA-Antigenen sind vorhanden, vor allem mit HLA-DR3 (Schifferdecker et al. 1991). Bei 70–90 % der Patienten finden sich zumindest im floriden Stadium der Hyperthyreose TSH-Rezeptor-Autoantikörper, die an den TSH-Rezeptor der Schilddrüsenzelle binden und das Organ zur Hormonüberproduktion stimulieren. Ein ähnlicher Mechanismus wird für die Genese der endokrinen Orbitopathie vermutet, der TSH-Rezeptor wurde in Muskelzellen und im retroorbitalem Gewebe nachgewiesen.
    Das Vorliegen einer endokrinen Orbitopathie ist nicht Voraussetzung für die Diagnose eines Morbus Basedow, sie lässt sich aber mit genügend empfindlichen Methoden (vor allem Orbita-CT) in bis zu 90 % der Fälle nachweisen. Andererseits ist die Bestimmung der TSH-Rezeptor-Antikörper ausreichend spezifisch, um die Diagnose eines Morbus Basedow stellen zu können.
  • Die Hyperthyreose bei funktioneller Autonomie ist verursacht durch selektives Wachstum besonders aktiver Follikel, beruht also auf einer benignen Neoplasie. Autonomes Schilddrüsengewebe findet sich vermehrt in Strumaendemiegebieten, sodass seine Entstehung als Folge des chronischen Wachstumsreizes durch Jodmangel auf die Schilddrüse aufgefasst wird. Häufig finden sich in Zellen aus autonomen Adenomen aktivierende Mutationen des TSH-Rezeptors.
  • Malignome der Schilddrüse können in seltenen Fällen eine Hyperthyreose verursachen (nur in Kasuistiken beschrieben).
  • Die Thyreotoxikose bei T-Zell-vermittelten Autoimmunthyreopathien (Hashimoto- und Ord-Thyreoiditis) oder anderen Schilddrüsenentzündungen (z. B. subakute Thyreoiditis de Quervain) ist nur passager und durch Freisetzung von Schilddrüsenhormonen aus untergehenden Schilddrüsenfollikeln bedingt. Es handelt sich hier nicht um eine Hyperthyreose.
  • Die sekundäre Hyperthyreose durch Überproduktion von TSH in einem Adenom des Hypophysenvorderlappens (bis maximal 3 % aller Hypophysenadenome, Übersicht bei Luo et al. 2020), als paraneoplastisches Syndrom (z. B. bei Bronchialkarzinom) oder bei Schilddrüsenhormonresistenz ist selten (Bevölkerungsprävalenz ca. 2 pro 100.000).
  • Vor allem bei disseminierter oder fokaler Autonomie der Schilddrüse kann exogene Jodzufuhr (vor allem Röntgenkontrastmittel, aber auch iodhaltige Medikamente wie Darmdesinfizienzien, Broncholytika, Expektoranzien, Amiodaron, Händedesinfektionsmittel, Augentropfen sowie exzessiver Konsum von Meeresgemüse) eine Hyperthyreose auslösen, auch eine latente Hyperthyreose bei Autoimmunthyreopathie kann unter Jodzufuhr exazerbieren (Leung und Braverman 2012). Amiodaron kann über zwei unterschiedliche Wege zu einer Thyreotoxikose führen: Die amiodaroninduzierte Thyreotoxikose Typ 1 stellt eine echte Hyperthyreose dar, bei der durch die hohe Jodmenge bei vorbestehender Schilddrüsenerkrankung vermehrt Schilddrüsenhormone produziert werden, während bei der amiodaroninduzierten Thyreotoxikose Typ 2 eine Thyreoiditis ausgelöst wird, die zur Freisetzung von Schilddrüsenhormonen aus den geschädigten Follikeln führt. Die jodinduzierten Thyreotoxikosen sind häufig schwierig medikamentös zu beeinflussen.
  • Eine Graft-versus-Host-Reaktion nach Stammzelltransplantation oder eine immuntherapeutische Behandlung von Malignomen mit Checkpoint-Inhibitoren können zu einer Thyreoiditis führen. Diese kann mit einer passageren Freisetzungsthyreotoxikose einhergehen. Längerfristig können sowohl Hypothyreose als auch, wenn ein Morbus Basedow ausgelöst wird, anhaltende Hyperthyreosen resultieren.

Gutachtliche Bewertung

Chronische Stress-Situationen und psychische Traumata können über einen erhöhten Sollwert des Regelkreises zu einer veränderten Schilddrüsenfunktion führen. Insbesondere bei der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) wurden erhöhte FT3- und teilweise auch TSH-Konzentrationen beschrieben (Chatzitomaris et al. 2017; Dietrich et al. 2020; Toloza et al. 2020). Dies führt zu differentialdiagnostischen Problemen aber auch zu einem erhöhten kardiovaskulären Risiko (Müller et al. 2020; Aweimer et al. 2020). Unabhängig davon können Stressereignisse und psychische Traumata auch einen M. Basedow sowohl auslösen als auch seinen Verlauf ungünstig beeinflussen. Retrospektiv wird sich aber eine singuläre Ätiologie schwer ausmachen lassen.
Eine sekundäre Hyperthyreose auf organischer Grundlage entsteht unabhängig von exogenen Einflüssen.
Exogene Zufuhr von Jod, besonders in Form von Röntgenkontrastmitteln oder iodhaltigen Medikamenten, kann beim Vorhandensein autonomen Schilddrüsengewebes, aber auch bei Autoimmunthyreopathie, eine Hyperthyreose manifestieren oder verschlimmern. Amiodaron kann auch ohne vorherige Schilddrüsenerkrankung zu einer Thyreotoxikose führen. Umgekehrt kann durch zwei verschiedene Mechanismen (Plummer- und Wollf-Chaikoff-Effekt) eine reversible Hypothyreose ausgelöst werden.
Eine unbehandelte Thyreotoxikose kann erhebliche somatische und psychische Folgen nach sich ziehen und die Fähigkeit zur Bedienung von Maschinen und zur Teilnahme am Straßenverkehr einschränken. Ein Zusammenhang mit einem Unfallgeschehen kann daher ggf. im Rahmen einer Gesamtbetrachtung hergestellt werden. Die unmittelbaren Folgen sind mit der Einleitung einer wirksamen Therapie reversibel. Während einer manifesten Thyreotoxikose bestehen weder Arbeitsfähigkeit noch Fahreignung.

Hypothyreose

Definition

Die hypothyreote Stoffwechsellage ist durch einen Mangel an wirksamem Schilddrüsenhormon im Organismus charakterisiert. Die verminderte Hormonwirkung führt zur allgemeinen Verlangsamung metabolischer Abläufe, die bei längerem Bestehen verschiedene Organsysteme schädigt. Das zeigt sich vor allem an der Haut (Myxödem), im Bereich des Nervensystems, der Muskulatur, des Herzens (Kardiomyopathie, AV-Block, Perikardergussbildung), des Magen-Darm-Traktes sowie in Fettstoffwechselstörungen, vor allem einer Cholesterinerhöhung.

Einteilung und Ätiopathogenese

  • Bei den angeborenen Hypothyreosen kann die intrauterin beginnende ungenügende Hormonversorgung endogene und exogene Ursachen haben. Der Schilddrüsenaplasie, -dysplasie und der Struma mit Iodfehlverwertung (mehrere verschiedene Formen der Hormonsynthesestörung bekannt) liegen genetische Defekte zugrunde. Die Hypothyreose in Strumaendemiegebieten hat neben hereditären exogene Ursachen wie Jodmangel und Exposition gegenüber strumigenen Disruptoren. Kommt es zu irreversiblen Körperschäden – vor allem auch mit geistiger Behinderung –, spricht man vom Kretinismus.
  • Die erworbenen Hypothyreosen werden in primäre, sekundäre und tertiäre unterteilt:
    • Die Hauptursache der primären erworbenen Hypothyreose stellen T-Zell-vermittelte Autoimmunthyreopathien (Hashimoto- und Ord-Thyreoiditis) dar, bei denen es im Rahmen des Autoimmunprozesses zu einer zunehmenden Destruktion des Organs kommt. Praktisch wichtig sind thyreoprive Hypothyreosen nach Strumaresektion. Es kann eine latente oder manifeste Hypothyreose entstehen, in jedem Falle nach totaler Thyreoidektomie wegen eines Schilddrüsenkarzinoms, selten nach Strahlentherapie (extern oder häufiger nach Radioiod). Auch in Folge einer subakuten Thyreoiditis de Quervain und einer Silent-Thyreoiditis kann es auf dem Boden der Gewebsdestruktion zu einer Hypothyreose kommen.
    • Sekundäre Hypothyreosen sind durch einen Mangel an TSH bei totaler oder partieller Hypophysenvorderlappeninsuffizienz bedingt, tertiäre Hypothyreosen durch Erkrankungen des Hypothalamus mit Ausfall der TRH-Sekretion. Hier wird der TSH-Mangel durch hypophysäre Prozesse wie Tumoren, Verletzungen, operative Eingriffe, Hypophysitis, Bestrahlung oder postpartale Nekrose (Sheehan-Syndrom) verursacht. In der Regel sind gleichzeitig Ausfallerscheinungen weiterer hypophysär gesteuerter Regelkreise nachweisbar.

Gutachtliche Bewertung

Die Therapie mit antithyreoidalen Substanzen während der Schwangerschaft kann Ursache einer reversiblen Neugeborenenstruma sein. Zur Beurteilung des Zusammenhanges müssen Iodfehlverwertungen ausgeschlossen sein. Die Hypothyreoserate nach Radiojodtherapie einer Autoimmunhyperthyreose beträgt je nach Radioioddosis nach einem Jahr 11–69 % und nach 5 Jahren 27–79 % (Reiners 1989; de Rooij et al. 2009), bei Hyperthyreose durch eine fokale Autonomie maximal 6 % (Leisner 1991). Beim Auftreten einer Hypothyreose nach Operation lassen sich erst 6–10 Monate nach der Operation Angaben über den endgültigen Funktionszustand der Schilddrüse machen. Latente, manifeste, temporäre und definitive Hypothyreose sind zu unterscheiden. Die medikamentös (z. B. durch Lithium, Amiodaron) bedingten Formen der Hypothyreose sind reversibel. Die Hypothyreose als Endzustand einer Autoimmunthyreoiditis macht 50–60 % der Patienten mit primärer Hypothyreose aus.
Ähnlich wie eine Thyreotoxikose kann auch eine Hypothyreose die Fähigkeit zur Bedienung von Maschinen oder zur aktiven Teilnahme am Straßenverkehr einschränken sowie schwere körperliche oder psychische Folgen nach sich ziehen. Nach Erreichen einer Euthyreose durch eine substitutive Therapie können verbleibende Funktionseinschränkungen nicht mehr auf die Hypothyreose zurückgeführt werden. Besonders zu berücksichtigen sind allerdings mögliche Unfallgeschehen, die im Rahmen einer Hypothyreose auftraten und Situationen, in denen nach Schilddrüsenresektion oder Radiojodtherapie durch eine Resorptionsstörung keine hinreichende Versorgung mit Schilddrüsenhormonen erreicht werden kann. Im Rahmen einer manifesten Hypothyreose sind weder Fahreignung noch die Fähigkeit zur Berufsausübung gegeben.
Cave
  • Bei ausgeprägter Symptomatik kann eine Hypothyreose zur Berufsunfähigkeit oder zur Erwerbsminderung auf Zeit führen.
Zur traumatischen Entstehung einer primären Hypothyreose kann es durch direkte Halsschuss- oder -stichverletzungen mit chronischen Eiterungen kommen. Zur Anerkennung eines Zusammenhangs zwischen Trauma und sekundärer oder tertiärer Hypothyreose muss eine Schädigung vorliegen, die geeignet ist, eine Verletzung der Hypophyse oder des Hypothalamus zu bewirken. Bei Verletzungen der Hypophyse im Rahmen eines Schädel-Hirn-Traumas werden in jedem Falle gleichzeitig Symptome des Ausfalls anderer Hypophysenvorderlappenhormone und/oder ein Diabetes insipidus feststellbar sein.

Struma und Knoten

Definition

Eine sog. endemische Struma ist jede nichtentzündliche und nichtmaligne sicht- und tastbare Vergrößerung der Schilddrüse mit euthyreoter Hormonproduktion. Sie ist eine hochprävalente Erkrankung, die etwa 30 % der Bevölkerung betriff (Völzke 2013).
Schilddrüsenknoten können in einer normal großen Schilddrüse oder, häufiger, in einer Struma auftreten. Im ersten Falle spricht man von einer (multi-) nodösen Umwandlung der Schilddrüse.

Einteilung und Ätiopathogenese

Chronische schilddrüsenhemmende Einflüsse wie Jodmangel, antithyreoidale (strumigene) Substanzen sowie angeborene oder erworbene Defekte der Hormonsynthese führen zur Vergrößerung der Schilddrüse. Für die hyperplasiogene Wirkung sind lokale Wuchsfaktoren verantwortlich, die bei Jodmangel verstärkt exprimiert werden (Gärtner und Dugrillon 1998). Die Hyperplasie ist zu Beginn diffus, später auch knotig mit konsekutiv regressiven Veränderungen.
Bei der sporadischen Struma spielen zusätzlich zu den genannten ursächlichen Faktoren antithyreoidal wirkende Arzneimittel (Antirheumatika, Antidiabetika, Kobalt, Antidepressiva, insbesondere Lithium) eine pathogenetische Rolle. Ein chronisch weit überhöhtes Iodangebot durch Gabe iodhaltiger Medikamente wirkt in gleichem Sinne.
Eine jodmangelbedingte Struma stellt einen Risikofaktor sowohl für die Entwicklung autonomer Adenome als auch von Schilddrüsenkarzinomen dar. Obwohl sich die durchschnittliche Jodausscheidung in Mitteleuropa im Laufe der letzten Jahrzehnte normalisiert hat, ist die Streuung groß, so dass ein Jodmangel auch heute noch häufig ist (Völzke 2013).

Gutachtliche Bewertung

Mit Ausnahme von Blutungszysten spielen für die Entstehung einer Struma äußere Ursachen, auch Traumata, keine Rolle. Die Wirkung antithyreoidaler Substanzen ist reversibel. Der Grad der Schädigungsfolge (GdS) bzw. Grad der Behinderung (GdB) richtet sich nach dem Grad der Beeinträchtigung durch eine etwa entstandene obere Einflussstauung, Druck- und Schluckbeschwerden, Einengung der Trachea und Tracheomalazie, bei der nicht operativ behandelten Struma nach den funktionellen Auswirkungen.

Malignome der Schilddrüse

Definition

Im Wesentlichen handelt es sich um differenzierte Karzinome vom papillären (PTC) oder follikulären Typen (FTC), daneben gibt es onkozytäre (OTC) und anaplastische Karzinome (ATC) und als besondere Entität das C-Zell-Karzinom (medulläres Schilddrüsenkarzinom, MTC). Eine Sonderstellung nimmt das papilläre Mikrokarzinom (PMC oder mPTC, auch: papilläre Läsion, Maximaldurchmesser ≤ 10 mm) ein, das häufig als Zufallsbefund bei Schilddrüsenoperationen aus anderer Indikation diagnostiziert wird. Bei diesem sehr niedrig malignen Tumor ist keine weitere Therapie notwendig, aber eine „active surveillance“. Liegen dagegen Lymphknotenmetastasen vor, ist von einer aggressiveren Variante des PMC auszugehen (Neuhold et al. 2011).
Cave
  • Differenzialdiagnostisch muss bei Schilddrüsenknoten immer an die Möglichkeit der Malignität gedacht werden, besonders verdächtig sind echoarme, unscharf begrenzte, derbe Knoten mit Mikrokalzifikationen.
Das C-Zell-Karzinom nimmt eine Sonderstellung ein, es produziert Kalzitonin, das als Tumormarker eingesetzt wird. In 25–30 % der Fälle tritt das C-Zell-Karzinom familiär auf, teilweise solitär, überwiegend aber im Rahmen der multiplen endokrinen Neoplasie (MEN) Typ 2a, vergesellschaftet mit Phäochromozytomen und einem primären Hyperparathyreoidismus. Durch Nachweis von Punktmutationen im RET-Protoonkogen lassen sich heute die autosomal vererbte MEN Typ 2 und das familiäre medulläre Schilddrüsenkarzinom (fMTC) nachweisen.

Gutachtliche Bewertung

Externe Bestrahlung in der Halsregion erhöht das Risiko für papilläre Schilddrüsenkarzinome. Radioaktives Iod-131 und andere kurzlebige Iodisotope haben ebenfalls einen direkten tumorigenen Effekt auf die Schilddrüse, wie es sich nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki und erneut nach der Havarie des Reaktors in Tschernobyl gezeigt hat. Nach Entfernung eines papillären oder follikulären Schilddrüsenmalignoms wird ohne Lymphknotenbefall in den ersten 5 Jahren ein GdS/GdB von 50 in der VersMedV angegeben, ansonsten 80. Dies gilt für die ersten fünf Jahre nach Entfernung des Tumors, in denen eine Heilungsbewährung abzuwarten ist. Regionale Komplikationen und Funktionsstörungen nach Behandlung sind gesondert zu bewerten.

Wirkung endokriner Disruptoren auf die Schilddrüsenfunktion

Definition

Endokrine Disruptoren, auch Xenohormone, sind Substanzen aus anthropogener Quelle oder natürlichen Ursprungs, die bereits in geringen Mengen die Funktion und Signalübertragung in endokrinen Regelkreisen stören und auf diese Weise ungünstige gesundheitliche Wirkungen in einem intakten Organismus, in seinen Nachkommen oder in Unterpopulationen entfalten können.

Einteilung und Ätiopathogenese

Die Anzahl der bekannten Disruptoren geht in die Hunderte. Hinsichtlich der Schilddrüsenfunktion können alle Ebenen des Regelkreises betroffen werden:
  • Zentrale Ebene: Halogenierte und nichthalogenierte Phenole, Polychlorierte Biphenyle (PCB), Tributylzinn und verschiedene brandhemmende Substanzen können die zentrale Steuerung der Schilddrüsenhomöostase durch einen veränderten Sollwert beeinflussen.
  • Schilddrüse: Perchlorat, Nitrate, Chlorat, Lithium, Thiozyanate, polybromierte Diphenylether (PDBE),
  • Soja-Isovflavone reduzieren die Sekretionsleistung der Schilddrüse durch Hemmung der Jodaufnahme, der Schilddrüsenperoxidase oder der Freisetzung von Schilddrüsenhormonen. Quecksilber erhöht die Sekretionsleistung über einen unbekannten Mechanismus.
  • Dejodinasen: PDBE hemmen sowohl Step-Up- als auch Step-Down-Dejodinasen. Cadmium und Phthalate führen zu einer Step-Up-Hyperdejodierung, während Quecksilber und Bisphenol-A eine Step-Up-Hypodejodierung auslösen.
  • Transport von Schilddrüsenhormonen: PCB, Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen (PFA), Bisphenol-A-Derivate (TBBPA, TCBPA) und Dioxine beeinträchtigen die Bindung von Schilddrüsenhormonen an Plasma-Transportproteine wie thyroxinbindendes Globulin (TBG) und Transthyretin (TTR). Membrantransporter werden durch Fenaminsäurederivate, PDBE, Dioxine, Barbiturate, Rifampicin und Tyrosinkinaseinhibitoren beeinflusst.
  • Abbau von Schilddrüsenhormonen: Phthalate, bromierte Diphenylether (BDE), polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAH), PFA, Bisphenol-A-Derivate, Phenobarbital, Rifampicin, Triclosan und Dioxine können über eine veränderte Glucuronidierung und Sulfatierung zu einem gesteigerten oder verminderten Abbau von Schilddrüsenhormonen führen.
  • Sensitivität für Schilddrüsenhormone: Die Bindung und Wirkung von Schilddrüsenhormonen an den zugehörigen Rezeptoren wird durch PFA, BDE, PDBE, PCB, Bisphenol-A-Derivate, Pestizide aus der Klasse der Organochloride, Triclosan, Ethinylestradiol, Fibrate und Thiazolidindione beeinträchtigt.
Darüber hinaus haben viele Disruptoren eine strumigene Wirkung, u. a. Perchlorat, Nitrate und BDE.

Gutachtliche Bewertung

Eine kausale Zuordnung ist meist schwierig, da Symptome und Befunde mehrdeutig sind und mitunter mit erheblicher Latenz zur Immission eintreten. Die Kombination aus einer plausiblen zeitlichen Abfolge, einer fehlenden Alternativhypothese und dem gleichzeitigen Betroffensein von mehreren Personen (z. B. am Arbeitsplatz) kann helfen, einen möglichen Zusammenhang zu bewerten.

Hypoparathyreoidismus

Definition

Unter Hypoparathyreoidismus versteht man das Krankheitsbild, das durch Mangel oder Fehlen von Parathormon (PTH) zu neuromuskulären Erregbarkeitssteigerungen und bei längerer Dauer zur Verkalkung in verschiedenen Organen führt. Unter Pseudohypoparathyreoidismus versteht man die Endorganresistenz gegenüber PTH. Die Parathormonspiegel können dabei normal oder auch erhöht sein.

Einteilung und Ätiopathogenese

  • Bei der extrem seltenen Form des idiopathischen Hypoparathyreoidismus kann die Anlage der Nebenschilddrüsen fehlen oder unvollständig sein; Autoimmunprozesse spielen ebenfalls eine Rolle.
  • Durch Schädigung oder Entfernung der Nebenschilddrüsen entsteht die manifeste postoperative Form des Hypoparathyreoidismus bei weniger als 1 % aller Schilddrüsenoperationen. Etwas häufiger ist ein passagerer postoperativer Hypoparathyreoidismus, der sich innerhalb weniger Monate zurückbildet.
  • Die neonatale Form tritt vorübergehend bei Kindern in den ersten 3 Lebenswochen nach phosphatreicher Kost bzw. bei Hyperparathyreoidismus der Mutter auf.
Das wichtigste Symptom des Hypoparathyreoidismus ist der tetanische Anfall bei Hypokalziämie. Davon zu unterscheiden ist das häufige normokalziämische tetanische Syndrom bei Hyperventilation, das durch vermehrte Plasmaproteinbindung von Kalzium bei respiratorischer Alkalose bedingt ist.

Gutachtliche Bewertung

Gutachtlich spielt insbesondere die postoperative Form des Hypoparathyreoidismus eine Rolle. Traumata können nicht nur zum Verlust der Schilddrüse, sondern auch der Epithelkörperchen fuhren. In schweren Fällen kann es trotz multimodaler Therapie zu einer verbleibenden Störung des Calciumhaushalts kommen. Tätigkeiten mit Hitzebelastung und starker körperlicher Arbeit sind als nicht geeignet anzusehen. Der GdS/GdB ist hier analog zum oral behandelten Diabetes mellitus zu bewerten.

Hyperparathyreoidismus

Definition

Das Krankheitsbild des primären Hyperparathyreoidismus (HPT) entsteht durch vermehrte Inkretion von Parathormon. Dies führt durch Mobilisation von Calcium aus dem Knochen, durch erhöhte Calciumresorption aus dem Darm und durch verstärkte tubuläre Calciumruckresorption zu einer Hyperkalziämie. Der Rückkoppelung zwischen Kalziumionenkonzentration im Blut und Nebenschilddrüsenfunktion ist gestört, meist durch einen erhöhten Sollwert (set point) des Regelkreises. Die Hemmung der tubulären Phosphatruckresorption führt zur Hyperphosphaturie und Hypophosphatämie. Die klinischen Symptome (Osteoporose, Osteodystrophia fibrosa cystica generalisata von Recklinghausen, Nephrokalzinose, Urolithiasis) sind direkte Folge der erhöhten Parathormonwirkung und des gestörten Calcium- und Phosphatstoffwechsels. Der sekundäre Hyperparathyreoidismus ist eine reaktive Hypersekretion von PTH, der bei Calcium- und/oder Vitamin-D-Mangelsituationen auftritt.

Einteilung und Ätiopathogenese

  • Der primäre HPT entsteht vor allem durch solitäre Adenome der Nebenschilddrüse (85 %), aber auch durch multiple Adenome, diffuse Hyperplasie und Karzinome.
  • Beim sekundären HPT resultiert durch Hypokalziämie bei chronischem Nierenversagen, durch Störung der intestinalen Resorption oder durch Bisphosphonattherapie (ohne Vitamin-D-Substitution) eine reaktive Hypersekretion der Drüsen.
  • Eine sich aus dem sekundären HPT entwickelnde Autonomie bezeichnet man als tertiären HPT.
  • Als quartären HPT bezeichnet man einen sekundären HPT aufgrund einer Nierenschädigung, die aus einem primären HPT hervorging.
  • Ein quintärer HPT stellt eine autonome Parathormonsekretion aus einem oder mehreren vergrößerten Epithelkörperchen nach länger bestehendem quartären HPT dar.

Gutachtliche Bewertung

Der HPT spielt vor allem in der Begutachtung für die Sozialversicherung eine Rolle. Bei voll ausgeprägten Krankheitsbildern besteht eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE).
Beim primären HPT kann, wenn noch reversible Organschäden bestehen, durch operative Entfernung des adenomatösen Gewebes eine Restitutio ad integrum erreicht werden. Bei asymptomatischem primären HPT ist unter Umständen auch die engmaschige Verlaufsbeobachtung eine Option, bei dringlicher Operationsindikation und Inoperabilität kommt auch eine medikamentöse Therapie mit Cinacalcet in Frage.
Aufgrund der Strahlensensibilität der Epithelkörperchen kann ein Hyperparathyreoidismus von einer Bestrahlung oder einer anderweitigen Strahlenexposition herrühren (Boehm et al. 2011).
Die vor allem im Anschluss an Nierenerkrankungen auftretenden sekundären Formen müssen im Zusammenhang mit dem Grundleiden bewertet werden. Bei sekundärem bis quintärem Hyperparathyreoidismus kann es durch ein erhöhtes Kalzium-Phosphat-Produkt zu vaskulären, viszeralen und periartikulären Verkalkungen mit konsekutiven Ulzera und Gewebsnekrosen kommen (Calciphylaxie). Der GdS/GdB richtet sich nach den ggf. aufgetretenen Endorganschäden.
Im Rahmen eines HPT können Reaktionszeit, Aufmerksamkeitsspanne, Gedächtnis, Konzentration und die affektive Funktion eingeschränkt sein.
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