Definition, Pathophysiologie, Epidemiologie
MEN2 ist ein klassisches autosomal-dominant vererbtes hereditäres Tumorsyndrom
, das durch aktivierende Mutationen des
RET-Protoonkogens verursacht wird (Wells et al.
2015). Charakteristisch für MEN2 ist das regelhafte Auftreten des Calcitonin-produzierenden medullären
Schilddrüsenkarzinoms (MTC, Synonym: C-Zell-Karzinom), wobei die Erkrankung klinisch und genetisch in MEN2A/familiäres MTC und das seltenere MEN2B unterteilt wird (Tab.
3). Es besteht eine enge Korrelation zwischen dem RET-Genotyp und dem klinischen Phänotyp, auf der die Einteilung in drei klinische MTC-Risikoklassen beruht (Wells et al.
2015). Die
Penetranz der Erkrankung bei RET-Mutationsträgern gilt mit >90 % als sehr hoch. Der individuelle klinische Krankheitsverlauf und insbesondere der Zeitpunkt der Tumormanifestation des MTC kann jedoch selbst bei identischer RET-Mutation von Patient zu Patient stark variieren.
Tab. 3
Klassifikation und klinische Manifestation der multiplen endokrinen Neoplasie Typ 2. (Modifiziert nach Karges
2015)
MEN2A/FMTC |
634
| 11 | Hoch | Meistens | Häufig | Gelegentlich | Kutaner Lichen amyloidosis möglich |
609, 611, 618, 620 | 10 | Moderat | Meistens | Gelegentlich bis selten | Selten | M. Hirschsprung möglich |
790, 791 | 13 | Moderat | Meistens | Selten | Fehlend | |
768, 804, 891 | 13,14,15 | Moderat | Meistens | Selten | Selten | |
MEN2B | 883, 918
| 16 | Am höchsten (918) Hoch (883) | Obligat | Häufig | Fehlend | Typische äußere Merkmale (u. a. Gesicht), intestinale Ganglioneuromatose |
Klinik
Das in frühen Stadien meist asymptomatische, jedoch früh lymphogen metastasierende medulläre
Schilddrüsenkarzinom (MTC) wird meist als sonographischer Zufallsbefund in Verbindung mit einer routinemäßigen Calcitoninbestimmung entdeckt. Im Kontext eines bekannten familiären MEN2 werden MTC überwiegend durch gezielte
Sonographie diagnostiziert. Bei ausgedehnter lymphogener, pulmonaler, hepatischer oder ossärer Metastasierung sind lokoregionäre Symptome möglich. Selten kann eine chronische Diarrhoe durch massive Calcitoninerhöhung bei fortgeschrittenen MTC verursacht werden.
Phäochromocytom und
primärer Hyperparathyreoidismus bei MEN2 unterscheiden sich klinisch – mit Ausnahme ihrer Multifokalität – nicht wesentlich von sporadischen Tumoren.
Der für MEN2B charakteristische Phänotyp mit marfanoidem Habitus, typischen Merkmalen im Gesicht sowie mukokutanen und intestinalen Ganglioneuromen ist meist schon im frühen Kindesalter vorhanden, wird aber oft erst spät diagnostiziert. Ein typisches wegweisendes Frühsymptom bei MEN2B im 1. Lebensjahr ist die Alakrimie (Tränenlosigkeit).
Diagnostik
Das medulläre
Schilddrüsenkarzinom geht praktisch immer mit einer Erhöhung des
Calcitonins im
Serum einher, wobei eine direkte Korrelation zur MTC-Tumormasse besteht. Das CEA im Serum ist ein weiterer, weniger spezifischer Erkrankungsmarker. Sonographisch ist das MTC meist als echoarmer, irregulär begrenzter Schilddrüsenknoten mit typischen Mikrokalzifikationen erkennbar, bei MEN2 oft multifokal unter Aussparung des Isthmus. Sofern aufgrund einer deutlichen Calcitoninerhöhung (>1000 pg/ml) der Verdacht auf eine ausgedehnte Metastasierung besteht, ist eine tomographische Bildgebung von Hals, Thorax und Abdomen sinnvoll (CT oder MRT).
Die Diagnostik von Hyperparathyreoidismus
(Labor,
Sonographie, dann Szintigraphie) und Phäochromocytom (Labor, dann Abdomen MRT oder CT, ggf. Szintigraphie oder PET-CT) erfolgt analog zur Untersuchung von sporadischen Formen, unter Berücksichtigung möglicher Multifokalität und
Ektopie.
Die Gendiagnostik nimmt im klinischen Management von MEN2 eine zentrale Rolle ein. Der positive Nachweis von RET-Keimbahnmutationen im Blut sichert die Diagnose eines familiären MEN2-Syndroms und gestattet bei betroffenen Patienten eine Risikobewertung hinsichtlich des Verlaufs des MTC und möglicher Zweitneoplasien.
Im Kontext der Familienberatung sollte die RET-Genanalyse allen erstgradig Verwandten von MEN2-Patienten und RET-Mutationsträgern angeboten werden, um ihr MTC-Erkrankungsrisiko zu definieren und bei positivem Mutationsstatus eine prophylaktische Thyreoidektomie planen zu können. Die prädiktive RET-Genanalyse ist bei MEN2A ab dem 5. Lebensjahr und bei MEN2B so früh wie möglich im 1. Lebensjahr sinnvoll, sie sollte stets im Kontext einer
genetischen Beratung erfolgen.
Differenzialdiagnostik
Da medulläre
Schilddrüsenkarzinome in bis zu 30 % der Fälle im Rahmen eines MEN2 auftreten, gehört die Abgrenzung von sporadischen MTC zum obligaten Untersuchungsprogramm. Bei jedem gesicherten MTC ist daher eine RET-Genanalyse indiziert (Dralle et al.
2013). Auch Phäochromocytome und (seltener) der primäre Hyperparathyreoidismus müssen vor allem bei jüngeren Patienten oder Multifokalität Anlass geben, ein MEN2-Syndrom mit MTC auszuschließen (
Calcitonin, Schilddrüsensonographie, ggf. RET-Genanalyse).
Die differenzialdiagnostische Erkennung eine familiären MTC besitzt nicht nur für den betroffenen Patienten, sondern vor allem für dessen Familie eine fundamentale praktische Relevanz, da sich hieraus die mögliche kurative Behandlung mittels prophylaktischer Thyreoidektomie bei RET-mutationspositiven Familienangehhörigen ableitet (Karges
2015).
Therapie
Die Behandlung des medullären
Schilddrüsenkarzinoms erfolgt primär operativ mittels totaler Thyreoidektomie und – je nach Größe und präoperativem Calcitoninwert – zervikaler Lymphadenektomie (Dralle et al.
2013). Die vollständige Resektion stellt die einzige kurative Therapieform des MTC dar, sie ist am postoperativ negativen Serumcalcitonin erkennbar. Bei unvollständigem Primäreingriff sollte die Möglichkeit einer Komplettierungsoperation geprüft werden. Auch bei inoperabler Metastasierung kann die Resektion des MTC-Primärtumors erwogen werden, um lokoregionäre Komplikationen (u. a. zervikale Arrosionsblutungen) zu verhindern.
MEN2-assoziierte Phäochromocytome und Hyperparathyreoidismus werden generell operativ durch einen erfahrenen endokrinen Chirurgen behandelt. Bei MEN2-Patienten sollte vor jeder Operation das mögliche Vorliegen eines Phäochromocytoms (Gefahr der intraoperativen Blutdruckkrisen) berücksichtigt und ggf. laborchemisch ausgeschlossen werden.
Bei nicht resektablen oder metastasierten progredienten MTC kann insbesondere bei symptomatischen Verläufen eine systemische Therapie mit den Multikinaseinhibitoren Vandetanib oder Cabozantinib durchgeführt werden.
Prophylaktische Thyreoidektomie. Bei Familienangehörigen mit positivem RET-Mutationsstatus hat sich seit über einem Jahrzehnt das Konzept der prophylaktischen Thyreoidektomie bewährt (Dralle et al.
2013). Ziel ist hierbei die frühe operative Entfernung der Schilddrüse vor Auftreten eines klinisch manifesten MTC, insbesondere vor Metastasierung.
Bei Kindern mit MEN2B-typischen Mutationen (Tab.
3) sollte wegen des aggressiven Tumorverhaltens die Thyreoidektomie so früh wie möglich im 1. Lebensjahr erfolgen. Bei Patienten mit der am häufigsten auftretenden RET-Mutation
Codon 634 wird unter Berücksichtigung des individuellen Serumcalcitoninwerts eine prophylaktische Thyreoidektomie vor oder ab dem 5. Lebensjahr empfohlen (Wells et al.
2015; Dralle et al.
2013). Bei Individuen mit RET-Mutationen mit moderatem Risiko für aggressive Verläufe (Tab.
3) kann die Thyreoidektomie bis zum Auftreten eines erhöhten Serumcalcitonins hinausgeschoben werden, sofern regelmäßige jährliche Kontrolluntersuchungen (u. a. Labor,
Sonographie) durchgeführt werden.
Aufgrund der hohen Komplexität der Behandlung sollte die prophylaktische Thyreoidektomie bei Kindern und Jugendlichen mit MEN2 ausschließlich in spezialisierten endokrin-chirurgischen Zentren erfolgen (Dralle et al.
2013).
Verlauf und Prognose
Bei MEN2 wird die Prognose überwiegend vom MTC-Tumorstadium bei Erstdiagnose und – hiervon abhängig – vom Erfolg der chirurgischen Therapie bestimmt. Sofern bei frühzeitiger Diagnose eine vollständige operative Resektion mit postoperativer Calcitoninnegativierung durchgeführt wurde, ist eine exzellente Prognose mit wahrscheinlicher Heilung anzunehmen. Je nach RET-Genotyp ist das Risiko für Phäochromocytom und pHPT erhöht, sodass im Rahmen der MTC-Nachsorge eine entsprechende endokrine Diagnostik indiziert sein kann (Wells et al.
2015).
Für nicht resektable progediente symptomatische MTC stehen in Gegensatz zu differenzierten thyreoidalen Karzinomen (PTC, FTC) nur palliative Therapiemodalitäten zur Verfügung (z. B. Systemtherapie mit Tyrosinkinaseinhibitoren). Bei persistierendem MTC weist eine Calcitoninverdopplungszeit von weniger als 2 Jahren auf einen progredienten Verlauf mit unvorteilhafter Prognose hin.