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DGIM Innere Medizin
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Publiziert am: 31.03.2017

Multiple endokrine Neoplasie

Verfasst von: Wolfram Karges
Bei den multiplen endokrinen Neoplasien (MEN) handelt es sich um eine Gruppe von seltenen, differenzialdiagnostisch wichtigen hereditären neuroendokrinen Tumorsyndromen. Von praktischer Bedeutung sind MEN1 (Leiterkrankungen: Hyperparathyreoidismus, Hypophysenadenome und gastroentero-pankreatische Tumoren) und MEN2 (Leiterkrankung: medulläres Schilddrüsenkarzinom). Die Gendiagnostik besitzt für das klinische Management von MEN1 und MEN2 einen sehr hohen Stellenwert.

Einleitung

Bei den multiplen endokrinen Neoplasien (MEN) handelt es sich um eine Gruppe von seltenen, differenzialdiagnostisch wichtigen hereditären neuroendokrinen Tumorsyndromen. Von praktischer Bedeutung sind MEN1 (Leiterkrankungen: Hyperparathyreoidismus, Hypophysenadenome und gastroentero-pankreatische Tumoren) und MEN2 (Leiterkrankung: medulläres Schilddrüsenkarzinom). Die Gendiagnostik besitzt für das klinische Management von MEN1 und MEN2 einen sehr hohen Stellenwert.

Multiple endokrine Neoplasie Typ 1 (MEN1)

Definition, Pathophysiologie, Epidemiologie

MEN1 ist ein seltenes (geschätzte Prävalenz 1–2:100.000) familiäres, autosomal-dominant vererbtes Tumorsyndrom mit charakteristischer Manifestation im Bereich endokriner und (deutlich seltener) nicht endokriner Organe (Thakker et al. 2012). Die Erkrankung wird durch inaktivierende genomische Mutationen des MEN1-Tumorsuppressorgens (Menin) verursacht, die bei >90 % aller betroffener Patienten im Blut nachweisbar sind. Bei MEN1-Mutationsträgern ist die klinische Erkrankungswahrscheinlichkeit sehr hoch (Penetranz >90 %), jedoch kann die individuelle Manifestation (Erkrankungszeitpunkt, Organbeteiligung, Funktionalität) selbst innerhalb einzelner MEN1-Familien sehr unterschiedlich sein. Eine Genotyp-Phänotyp-Korrelation besteht bei MEN1 nicht.

Klinik

Die häufigste Organmanifestation bei MEN1 ist der primäre Hyperparathyreoidismus (pHPT), der auf einer Hyperplasie und uni- oder multifokalen Adenomen der Nebenschilddrüse beruht (Machens et al. 2007). Hochdifferenzierte neuroendokrine Tumoren (NET) des Pankreas und Duodenums – mit oder ohne Hormonexzess – werden bei etwa der Hälfte der Patienten diagnostiziert, sie besitzen aufgrund ihres malignen Entartungsrisikos die höchste klinische und prognostische Bedeutung. Hypophysenadenome stellen die dritte klassische Organmanifestation bei MEN1 dar (ca. 40–50 % der Fälle). NET von Magen, Bronchus oder Thymus treten fakultativ und deutlich seltener auf (Tab. 1).
Tab. 1
Klinische Merkmale und Therapie von neuroendokrinen Tumoren bei MEN1
Organmanifestation
Vorkommen* (%)
Klinische Charakteristika
Therapie**
Nebenschilddrüsenadenom (primärer Hyperparathyreoidismus)
>90
Operativ: Parathyreoidektomie ± Autotransplantation, (Cinacalcet)
Duodeno-pankreatische NET
40–70
  
– Gastrinom
20–30
Gastrointestinale Ulzera und Diarrhoen (Zollinger-Ellison-Syndrom)
Operativ, PPI, (SSRA, Systemtherapie)
10–20
Nüchternhypoglykämien
Operativ, (SSRA, Systemtherapie)
– Andere funktionale NET
<1
Sekretion von VIP, Glukagon, GHRH, ACTH, Somatostatin
Operativ, (SSRA, Systemtherapie)
– Hormoninaktive NET
10–30
Symptomatisch nur bei größeren Tumoren
Operativ, (SSRA, Systemtherapie)
Hypophysenadenom
30–50
  
– Prolactinom
20–30
Zyklusstörungen, Galactorrhoe, Hypogonadismus
D2-Agonist, (operativ)
– GH-produzierendes Adenom
10
Akromegalie
Operativ, (SSRA)
– ACTH-produzierendes Adenom
<5
Operativ, (Pasireotid)
– TSH-produzierendes Adenom
<1
Zentrale (sekundäre) Hyperthyreose
Operativ
– Hormoninaktives Adenom
10
Gesichtsfelddefekt, Hypophyseninsuffizienz
Operativ (nur Makroadenome)
20–30
Überwiegend hormoninaktive Adenome
Operativ
Bronchopulmonale NET
<5
Meist hormoninaktiv, asymptomatisch
Operativ, (SSRA)
NET des Thymus
<5
 
Operativ
NET des Magens
10
Oft multiple kleine (<1 cm) Tumoren
Endoskopisch, operativ
Hauttumoren
30–80
  
– Angiofibrome/Kollagenome
20–80
Meist im Gesicht (Nase) lokalisiert
Nur kosmetische Bedeutung
– Lipome
10–30
 
Wenn symptomatisch: operativ
PPI, Protonenpumpeninhibitoren, SSRA, Somatostatinrezeptor-Agonisten
* Kumulatives Auftreten, Schätzung (nach Thakker et al. 2012 und Machens et al. 2007)
** In Klammern: Therapie der 2. Wahl oder bei Irresektabilität
Die klinische Präsentation wird bei MEN1 von Art und Lokalisation des vorliegenden neuroendokrinen Tumors und seiner fakultativ bestehenden Funktionalität (Hormonsekretion) bestimmt. Typisch für MEN1 ist ein Erkrankungsbeginn etwa ab dem 20. Lebensjahr, mit einem Häufigkeitsgipfel in der 3. bis 5. Lebensdekade (Machens et al. 2007). Tumormanifestationen im Kindes- und Jugendalter sind möglich (ab 8. Lebensjahr), aber selten.
MEN1-assoziierte Neoplasien unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Symptome und Befunde generell nicht wesentlich von sporadischen NET, jedoch manifestieren sie sich meist in deutlich jüngerem Alter (1–3 Jahrzehnte früher) und treten oft multifokal oder bilateral auf (zeitgleich oder metachron). Auch die zumeist positive Familienanamnese weist auf die hereditäre Tumordisposition hin.

Diagnostik

Klinische Diagnostik, endokrinologische Laboruntersuchungen und Funktionstests sowie bildgebende Verfahren (u. a. Sonographie, Endoskopie, CT, MRT, Nuklearmedizin) werden bei der Abklärung von MEN1-assoziierten Neoplasien prinzipiell in gleicher Weise eingesetzt wie bei sporadischen neuroendokrinen Tumoren. Besonderes diagnostisches Augenmerk sollte auf die mögliche Multifokalität der Tumoren und die Beteiligung multipler Organsysteme gelegt werden.
Die klinische Verdachtsdiagnose MEN1 ist zu stellen, wenn bei einem Patienten ≥2 MEN1-typische Neoplasien diagnostiziert wurden (Tab. 1). In diesem Fall wird die Durchführung einer MEN1-Genanalyse empfohlen (Thakker et al. 2012).
Die Gendiagnostik (MEN1-Mutationsanalyse im Blut) besitzt bei der Behandlung von Patienten und deren Familien eine wichtige klinische Rolle (Karges 2015). Sie dient einerseits der Bestätigung der Diagnose des MEN1-Syndroms beim betroffenen Indexpatienten, aus der sich die Notwendigkeit einer (im Gegensatz zum sporadischen NET) dauerhaften strukturierten Nachsorge ableitet, da das Tumorrisiko lebenslang erhöht ist. Zweitens sollte eine prädiktive MEN1-Gendiagnostik allen erstgradig Verwandten von MEN1-Patienten und MEN1-Genträgern angeboten werden, um eine individuelle Beurteilung des Erkrankungsrisikos zu ermöglichen (ab dem 12.–14. Lebensjahr). Bei positivem Mutationsnachweis wird die dauerhafte Teilnahme an einem strukturierten Untersuchungsprogramm empfohlen (Tab. 2).
Tab. 2
Empfohlenes Routineuntersuchungsprogramm bei MEN1-Patienten und asymptomatischen MEN1-Mutationsträgern ab dem 12.–14. Lebensjahr. (Modifiziert nach Karges 2015)
Intervall
Untersuchungsprogramm
Alle 12 Monate
Anamnese und klinischer Untersuchungsbefund
Labordiagnostik
– Kalzium, Phosphat, Parathormon
Gastrin, Glukose (nüchtern), Chromogranin A
– Prolactin, IGF1
Bildgebung
– Abdomensonografie
Weitere Diagnostik je nach Symptomen oder Befunden
Alle 3–5 Jahre
MRT Abdomen (alternativ: CT, Endosonographie)
MRT Hypophyse
MRT Thorax (alternativ: CT)

Differenzialdiagnostik

Die wichtigste Differenzialdiagnose von MEN1-assoziierten Neoplasien sind die deutlich häufiger vorkommenden sporadischen NET, insbesondere von Pankreas/Duodenum und Hypophyse. Die A-priori-Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei einem neuroendokrinen Tumor um die Manifestation eines MEN1-Syndroms handelt, liegt bei etwa <1 % (Hyperparathyreoidismus) bis 30 % (Gastrinom). Aufgrund der erheblichen klinischen Konsequenzen für den Patienten und dessen Familie sollte daher bei entsprechendem klinischen Verdacht die Möglichkeit eines MEN1-Syndroms mittels Gendiagnostik geklärt werden.

Therapie

Die Behandlung MEN1-assoziierter Neoplasien erfolgt überwiegend operativ und prinzipiell in Anlehnung an das therapeutische Vorgehen bei sporadischen NET (Tab. 1). Aufgrund der hohen Rezidivwahrscheinlichkeit, Multifokalität und anderer MEN1-typischer Merkmale ergeben sich allerdings einige therapeutische Besonderheiten, sodass die Patienten bevorzugt in einem spezialisierten endokrin-chirurgischen Zentrum operiert werden sollten.
Die Mehrzahl der MEN1-Patienten entwickeln meist bis zum 40. Lebensjahr einen klinisch relevanten Hyperparathyreoidismus, der einer chirurgischen Therapie mittels (sub-)totaler Parathyreoidektomie bedarf. Bei überwiegend einseitiger Manifestation ist alternativ eine unilaterale Resektion möglich.
Die nahezu immer multifokalen neuroendokrinen Tumoren von Pankreas und Duodenum bei MEN1 stellen besonders hohe Anforderungen an präoperative Diagnostik, interdisziplinäre Therapieplanung und chirurgische Behandlung (Thakker et al. 2012). In den letzten Jahren hat sich das Konzept der zurückhaltenden funktionskritischen Resektion weitgehend durchgesetzt. Wesentliche Indikationen zur Operation stellen die Beseitigung von hormonaktiven („funktionalen“) und größeren NET mit erhöhtem Metastasierungsrisiko dar. Non-funktionale NET des Pankreas >2 cm werden überwiegend als Operationsindikation angesehen, Tumoren <1 cm dagegen in der Regel nicht.
Bei nicht resektablen oder metastasierten progredienten NET von Pankreas und Duodenum ist eine antiproliferative Therapie mit Somatostatinanaloga (Lanreotid, Octreotid) effektiv, die auch zur Behandlung eines symptomatischen Hormonexzesses eingesetzt werden können. Everolimus, Sunitinib oder systemische Chemotherapien (z. B. Streptozotozin-basiert) kommen bei MEN1-assoziierten pankreatischen NET ebenso zur Anwendung wie bei sporadischen Tumoren. Beim Zollinger-Ellison-Syndrom (Gastrinom) mit Ulzera und Diarrhoen ist eine Säureblockade mit Protonenpumpeninhibitoren (PPI) entscheidend.
MEN1-assoziierte Hypophysenadenome werden generell nach denselben Prinzipien behandelt wie sporadische Adenome (Tab. 1).

Verlauf und Prognose

MEN1 ist durch einen jahrzehntelangen Verlauf mit sehr guter Prognose trotz lebenslang erhöhtem Risiko für die Entwicklung von zumeist gutartigen neuroendokrinen Tumoren gekennzeichnet. Wiederholte operative Eingriffe, Krankenhausaufenthalte und die Notwendigkeit zur fortgesetzten Nachsorge können die Lebensqualität der Patienten negativ beeinflussen. Zur Vermeidung von Über- und Unterversorgung ist daher eine sorgfältige, regelmäßige und gleichermaßen zurückhaltende Betreuung von MEN1-Patienten und MEN1-Genträgern in einem spezialisierten Zentrum durch einen erfahrenen Arzt zu empfehlen (Karges 2015). Zur routinemäßigen Behandlung von Individuen mit MEN1 hat sich ein standardisiertes klinisches Untersuchungsprogramm bewährt (Tab. 2).

Multiple endokrine Neoplasie Typ 2 (MEN2)

Definition, Pathophysiologie, Epidemiologie

MEN2 ist ein klassisches autosomal-dominant vererbtes hereditäres Tumorsyndrom, das durch aktivierende Mutationen des RET-Protoonkogens verursacht wird (Wells et al. 2015). Charakteristisch für MEN2 ist das regelhafte Auftreten des Calcitonin-produzierenden medullären Schilddrüsenkarzinoms (MTC, Synonym: C-Zell-Karzinom), wobei die Erkrankung klinisch und genetisch in MEN2A/familiäres MTC und das seltenere MEN2B unterteilt wird (Tab. 3). Es besteht eine enge Korrelation zwischen dem RET-Genotyp und dem klinischen Phänotyp, auf der die Einteilung in drei klinische MTC-Risikoklassen beruht (Wells et al. 2015). Die Penetranz der Erkrankung bei RET-Mutationsträgern gilt mit >90 % als sehr hoch. Der individuelle klinische Krankheitsverlauf und insbesondere der Zeitpunkt der Tumormanifestation des MTC kann jedoch selbst bei identischer RET-Mutation von Patient zu Patient stark variieren.
Tab. 3
Klassifikation und klinische Manifestation der multiplen endokrinen Neoplasie Typ 2. (Modifiziert nach Karges 2015)
Phänotyp
RET-Mutation (Codon)*
RET-Exon
MTC Risikoklasse**
Tumormanifestation
Besonderheiten
MTC
Phäo
pHPT
MEN2A/FMTC
634
11
Hoch
Meistens
Häufig
Gelegentlich
Kutaner Lichen amyloidosis möglich
609, 611, 618, 620
10
Moderat
Meistens
Gelegentlich bis selten
Selten
M. Hirschsprung möglich
790, 791
13
Moderat
Meistens
Selten
Fehlend
 
768, 804, 891
13,14,15
Moderat
Meistens
Selten
Selten
 
MEN2B
883, 918
16
Am höchsten (918)
Hoch (883)
Obligat
Häufig
Fehlend
Typische äußere Merkmale (u. a. Gesicht), intestinale Ganglioneuromatose
FMTC, familiäres MTC; MTC, medulläres Schilddrüsenkarzinom; Phäo, Phäochromocytom; pHPT, primärer Hyperparathyreoidismus
* Nur häufige Mutationen aufgeführt (häufigste Mutation unterstrichen)
** Risiko für aggressives MTC mit früher Tumormanifestation (nach Wells et al. 2015)

Klinik

Das in frühen Stadien meist asymptomatische, jedoch früh lymphogen metastasierende medulläre Schilddrüsenkarzinom (MTC) wird meist als sonographischer Zufallsbefund in Verbindung mit einer routinemäßigen Calcitoninbestimmung entdeckt. Im Kontext eines bekannten familiären MEN2 werden MTC überwiegend durch gezielte Sonographie diagnostiziert. Bei ausgedehnter lymphogener, pulmonaler, hepatischer oder ossärer Metastasierung sind lokoregionäre Symptome möglich. Selten kann eine chronische Diarrhoe durch massive Calcitoninerhöhung bei fortgeschrittenen MTC verursacht werden.
Phäochromocytom und primärer Hyperparathyreoidismus bei MEN2 unterscheiden sich klinisch – mit Ausnahme ihrer Multifokalität – nicht wesentlich von sporadischen Tumoren.
Der für MEN2B charakteristische Phänotyp mit marfanoidem Habitus, typischen Merkmalen im Gesicht sowie mukokutanen und intestinalen Ganglioneuromen ist meist schon im frühen Kindesalter vorhanden, wird aber oft erst spät diagnostiziert. Ein typisches wegweisendes Frühsymptom bei MEN2B im 1. Lebensjahr ist die Alakrimie (Tränenlosigkeit).

Diagnostik

Das medulläre Schilddrüsenkarzinom geht praktisch immer mit einer Erhöhung des Calcitonins im Serum einher, wobei eine direkte Korrelation zur MTC-Tumormasse besteht. Das CEA im Serum ist ein weiterer, weniger spezifischer Erkrankungsmarker. Sonographisch ist das MTC meist als echoarmer, irregulär begrenzter Schilddrüsenknoten mit typischen Mikrokalzifikationen erkennbar, bei MEN2 oft multifokal unter Aussparung des Isthmus. Sofern aufgrund einer deutlichen Calcitoninerhöhung (>1000 pg/ml) der Verdacht auf eine ausgedehnte Metastasierung besteht, ist eine tomographische Bildgebung von Hals, Thorax und Abdomen sinnvoll (CT oder MRT).
Die Diagnostik von Hyperparathyreoidismus (Labor, Sonographie, dann Szintigraphie) und Phäochromocytom (Labor, dann Abdomen MRT oder CT, ggf. Szintigraphie oder PET-CT) erfolgt analog zur Untersuchung von sporadischen Formen, unter Berücksichtigung möglicher Multifokalität und Ektopie.
Die Gendiagnostik nimmt im klinischen Management von MEN2 eine zentrale Rolle ein. Der positive Nachweis von RET-Keimbahnmutationen im Blut sichert die Diagnose eines familiären MEN2-Syndroms und gestattet bei betroffenen Patienten eine Risikobewertung hinsichtlich des Verlaufs des MTC und möglicher Zweitneoplasien.
Im Kontext der Familienberatung sollte die RET-Genanalyse allen erstgradig Verwandten von MEN2-Patienten und RET-Mutationsträgern angeboten werden, um ihr MTC-Erkrankungsrisiko zu definieren und bei positivem Mutationsstatus eine prophylaktische Thyreoidektomie planen zu können. Die prädiktive RET-Genanalyse ist bei MEN2A ab dem 5. Lebensjahr und bei MEN2B so früh wie möglich im 1. Lebensjahr sinnvoll, sie sollte stets im Kontext einer genetischen Beratung erfolgen.

Differenzialdiagnostik

Da medulläre Schilddrüsenkarzinome in bis zu 30 % der Fälle im Rahmen eines MEN2 auftreten, gehört die Abgrenzung von sporadischen MTC zum obligaten Untersuchungsprogramm. Bei jedem gesicherten MTC ist daher eine RET-Genanalyse indiziert (Dralle et al. 2013). Auch Phäochromocytome und (seltener) der primäre Hyperparathyreoidismus müssen vor allem bei jüngeren Patienten oder Multifokalität Anlass geben, ein MEN2-Syndrom mit MTC auszuschließen (Calcitonin, Schilddrüsensonographie, ggf. RET-Genanalyse).
Die differenzialdiagnostische Erkennung eine familiären MTC besitzt nicht nur für den betroffenen Patienten, sondern vor allem für dessen Familie eine fundamentale praktische Relevanz, da sich hieraus die mögliche kurative Behandlung mittels prophylaktischer Thyreoidektomie bei RET-mutationspositiven Familienangehhörigen ableitet (Karges 2015).

Therapie

Die Behandlung des medullären Schilddrüsenkarzinoms erfolgt primär operativ mittels totaler Thyreoidektomie und – je nach Größe und präoperativem Calcitoninwert – zervikaler Lymphadenektomie (Dralle et al. 2013). Die vollständige Resektion stellt die einzige kurative Therapieform des MTC dar, sie ist am postoperativ negativen Serumcalcitonin erkennbar. Bei unvollständigem Primäreingriff sollte die Möglichkeit einer Komplettierungsoperation geprüft werden. Auch bei inoperabler Metastasierung kann die Resektion des MTC-Primärtumors erwogen werden, um lokoregionäre Komplikationen (u. a. zervikale Arrosionsblutungen) zu verhindern.
MEN2-assoziierte Phäochromocytome und Hyperparathyreoidismus werden generell operativ durch einen erfahrenen endokrinen Chirurgen behandelt. Bei MEN2-Patienten sollte vor jeder Operation das mögliche Vorliegen eines Phäochromocytoms (Gefahr der intraoperativen Blutdruckkrisen) berücksichtigt und ggf. laborchemisch ausgeschlossen werden.
Bei nicht resektablen oder metastasierten progredienten MTC kann insbesondere bei symptomatischen Verläufen eine systemische Therapie mit den Multikinaseinhibitoren Vandetanib oder Cabozantinib durchgeführt werden.
Prophylaktische Thyreoidektomie. Bei Familienangehörigen mit positivem RET-Mutationsstatus hat sich seit über einem Jahrzehnt das Konzept der prophylaktischen Thyreoidektomie bewährt (Dralle et al. 2013). Ziel ist hierbei die frühe operative Entfernung der Schilddrüse vor Auftreten eines klinisch manifesten MTC, insbesondere vor Metastasierung.
Bei Kindern mit MEN2B-typischen Mutationen (Tab. 3) sollte wegen des aggressiven Tumorverhaltens die Thyreoidektomie so früh wie möglich im 1. Lebensjahr erfolgen. Bei Patienten mit der am häufigsten auftretenden RET-Mutation Codon 634 wird unter Berücksichtigung des individuellen Serumcalcitoninwerts eine prophylaktische Thyreoidektomie vor oder ab dem 5. Lebensjahr empfohlen (Wells et al. 2015; Dralle et al. 2013). Bei Individuen mit RET-Mutationen mit moderatem Risiko für aggressive Verläufe (Tab. 3) kann die Thyreoidektomie bis zum Auftreten eines erhöhten Serumcalcitonins hinausgeschoben werden, sofern regelmäßige jährliche Kontrolluntersuchungen (u. a. Labor, Sonographie) durchgeführt werden.
Aufgrund der hohen Komplexität der Behandlung sollte die prophylaktische Thyreoidektomie bei Kindern und Jugendlichen mit MEN2 ausschließlich in spezialisierten endokrin-chirurgischen Zentren erfolgen (Dralle et al. 2013).

Verlauf und Prognose

Bei MEN2 wird die Prognose überwiegend vom MTC-Tumorstadium bei Erstdiagnose und – hiervon abhängig – vom Erfolg der chirurgischen Therapie bestimmt. Sofern bei frühzeitiger Diagnose eine vollständige operative Resektion mit postoperativer Calcitoninnegativierung durchgeführt wurde, ist eine exzellente Prognose mit wahrscheinlicher Heilung anzunehmen. Je nach RET-Genotyp ist das Risiko für Phäochromocytom und pHPT erhöht, sodass im Rahmen der MTC-Nachsorge eine entsprechende endokrine Diagnostik indiziert sein kann (Wells et al. 2015).
Für nicht resektable progediente symptomatische MTC stehen in Gegensatz zu differenzierten thyreoidalen Karzinomen (PTC, FTC) nur palliative Therapiemodalitäten zur Verfügung (z. B. Systemtherapie mit Tyrosinkinaseinhibitoren). Bei persistierendem MTC weist eine Calcitoninverdopplungszeit von weniger als 2 Jahren auf einen progredienten Verlauf mit unvorteilhafter Prognose hin.

Andere MEN-Syndrome

Als MEN4 wird ein extrem seltenes Tumorsyndrom bei MEN1-mutationsnegativen Patienten bezeichnet, bei dem neben Adenomen von Nebenschilddrüse und Hypophyse auch pankreatische NET sowie gutartige Tumoren von Gonaden, Nebenniere und Schilddrüse auftreten können. Als Ursache der Störung wurden CDKN1B-Genmutationen identifiziert. Der Begriff MEN3 wird gelegentlich als Synonym für MEN2B verwendet.
Literatur
Dralle H, Musholt TJ, Schabram J et al (2013) German Association of Endocrine Surgeons practice guideline for the surgical management of malignant thyroid tumors. Langenbecks Arch Surg 398:347–375CrossRefPubMed
Karges W (2015) Multiple Endokrine Neoplasien. In: Lehnert H (Hrsg) Rationale Diagnostik und Therapie in Endokrinologie, Diabetologie und Stoffwechsel, 4. Aufl. Thieme Verlag, Stuttgart, S 572–579
Machens A, Schaaf L, Karges W et al (2007) Age-related penetrance of endocrine tumours in multiple endocrine neoplasia type 1 (MEN1): a multicentre study of 258 gene carriers. Clin Endocrinol 67:613–622
Thakker RV, Newey PJ, Walls GV et al (2012) Clinical practice guidelines for multiple endocrine neoplasia type 1 (MEN1). J Clin Endocrinol Metab 97:2990–3011CrossRefPubMed
Wells S, Asa SL, Dralle H et al (2015) Revised American Thyroid Association guidelines for the management of medullary thyroid carcinoma. Thyroid 25:567–610CrossRefPubMedPubMedCentral