Chirurgische Eingriffe sind mit sehr unterschiedlichen Wundinfektionsrisiken
verbunden. Eine kosmetische Gesichtskorrektur bei einer jungen Sportlerin hat ein deutlich geringeres Infektionsrisiko als eine Hemikolektomie bei einer älteren Patientin mit
Kolonkarzinom,
Diabetes und
Lungenemphysem. Notfalloperationen haben ebenfalls ein höheres Risiko als geplante Elektiveingriffe. Es ist daher sinnvoll, eine Klassifizierung von chirurgischen Inzisionen nach Art und Kontaminationsgrad zu machen, um
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Präventionsstrategien anzupassen und zu optimieren,
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Wundinfektionsraten zu erfassen und vergleichbar zu machen,
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Patienten über Infektionsrisiken aufzuklären.
Kriterien
Die Diagnose einer postoperativen Wundinfektion kann schwierig sein und je nach Beobachter variieren. Typischerweise haben Chirurgen ein schwereres Erkrankungsbild zum Maßstab (Mindestvoraussetzung: Vorhandensein von
Fieber und reichlich Eiter) verglichen zu Beobachtern außerhalb der Chirurgie, die epidemiologische Untersuchungen durchführen. Klar definierte und reproduzierbare Kriterien sind daher unabdingbar (Anderson et al.
2014). Obwohl es Definitionen mit höherer Sensitivität gibt (Wilson et al.
1998), entsprechen die Definitionen des US-amerikanischen CDC einem Kompromiss zwischen Sensitivität, Zuverlässigkeit und Anwendbarkeit (Horan et al.
1992). Sie werden weltweit angewandt und ermöglichen epidemiologische Erhebungen in verschiedenen Krankenhäusern und chirurgischen Teilfächern.
Risikoindex des NNIS
Das amerikanische System zur Überwachung und Erfassung
postoperativer Wundinfektionen (National Nosocomial Infection Surveillance System, NNIS; heute: National Healthcare Safety Network, NHSN) hat einen
Risikoindex entworfen, der zwar häufig diskutiert und kritisiert wird (Roy et al.
2000; Morikane et al.
2014), aber einfach anzuwenden ist und als Referenz dienen kann, um Infektionsraten verschiedener Chirurgen und Krankenhäuser zu vergleichen (Brandt et al.
2004; Haustein et al.
2011).
Für manche Operationsarten ist er allerdings zu ungenau, weil er nicht alle modifizierbaren Risikofaktoren berücksichtigt und den vorhandenen Risiken nicht gerecht wird (Russo und Spelman
2002; Gervaz et al.
2012; Morikane et al.
2014). Neuere Untersuchungen und statistische Analysen großer
Datenbanken haben gezeigt, dass Risikoindices für spezifische Operationsarten eine höhere Vorhersagekraft haben und meistens dem NNIS-Index überlegen sind (Geubbels et al.
2006; Mu et al.
2011; Berrios-Torres et al.
2012). In Ländern mit sehr begrenzten Ressourcen ist der NNIS-Index ebenfalls nur eingeschränkt anwendbar (Campos et al.
2001).
Darüber hinaus haben sich die OP-Techniken in den letzten 20 Jahren erheblich verändert, vor allem durch Einführung von minimalinvasiven Techniken in der Abdominalchirurgie (de Oliveira et al.
2006). Daher wurden bereits Modifikationen des NNIS-Risikoindex für Appendektomien, Magenoperationen, Cholezystektomien und Kolonoperationen eingeführt und stratifiziert nach der Art der OP-Durchführung (laparoskopisch vs. konventionell) (Gaynes et al.
2001; Romy et al.
2008).
Der NNIS-Risikoindex definiert die 4 Risikokategorien 0, 1, 2 und 3. Je ein Risikopunkt wird vergeben, wenn eines der folgenden Kriterien erfüllt ist (Culver et al.
1991):
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Die Wunde entspricht der Wundklasse III oder IV (kontaminiert oder infiziert).
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Der ASA-Score des Patienten ist größer als 2.
-
Die Operation hat länger gedauert als 75 % der Operationen in der jeweiligen Eingriffsart.
Die Infektionshäufigkeit steigt mit zunehmender Anzahl von Risikopunkten. Gemäß den Daten des französischen Wundinfektionsregisters (ISO-RAISIN) von mehr als 386.149 Operationen mit insgesamt 6733 Wundinfektionen (1,7 %) waren die Raten wie in Tab.
2 dargestellt (Grandbastien et al.
2004).
Tab. 2
Infektionshäufigkeit in Abhängigkeit vom NNIS-Risikoindex (Grandbastien et al.
2004)
0 | 0,91 (0,87–0,95) |
1 | 2,36 (2,27–2,44) |
2 | 6,00 (5,70–6,33) |
3 | 12,96 (11,56–14,50) |
Der ASA-Score besteht aus 5 verschiedenen Einstufungen des Gesundheitszustandes des Patienten. Die Beurteilung des ASA-Scores ist allerdings einer subjektiven Einschätzung unterworfen und kann für Schwankungen zwischen verschiedenen Beobachtern sorgen. Der Vorteil ist hingegen, dass der ASA-Score in allen Anästhesieberichten enthalten ist, leicht erhoben werden kann und robust ist, d. h. keine komplexe Berechnung voraussetzt.
Neben dieser präoperativen Risikoabschätzung spielt der Operationsverlauf eine wichtige Rolle bei der Entstehung von
postoperativen Wundinfektionen. Dauert der Eingriff zu lange, steigt das Infektionsrisiko
. Die Grenze für eine akzeptable Eingriffsdauer hängt von der Komplexität des Eingriffs ab (Ruef
2004). Aus den Daten des NNIS-Registers wurden für jede OP-Kategorie Richtwerte der Eingriffsdauer abgeleitet (Tab.
3). Innerhalb dieser Richtwerte sind 75 % aller Eingriffe beendet. Überschreitet die Eingriffsdauer diesen Wert T (in Stunden gemessen und jeweils auf die nächste volle Stunde aufgerundet), dann steigt das Infektionsrisiko beträchtlich.
Tab. 3
Grenzwert T (75. Perzentil) von wichtigen chirurgischen Eingriffen gemäß dem NNIS-System
Koronarer Bypass | 5 |
Gallenwegs-, Leber- oder Pankreasoperationen | 4 |
Kraniotomie | 4 |
HNO-Operationen | 4 |
Kolonoperationen | 3 |
Orthopädischer Eingriff mit Gelenkimplantat | 3 |
Gefäßchirurgie | 3 |
Abdominale Hysterektomie | 2 |
Hernienoperation | 2 |
Appendektomie | 1 |
Extremitätenamputation | 1 |
| 1 |
Es gibt mittlerweile mehrere Alternativen zum NNIS-Index für die häufigsten chirurgischen Eingriffe, da dieser Index nur wenige potenzielle Risikofaktoren aufnimmt (Abschn.
6). Die US Centers for Disease Control and Prevention (CDC) empfehlen seit 2011 die Berechnung der Standardized Infection Ratio (SIR)
, im Deutschen ausgedrückt als „Standardisierte Wundinfektionskennzahl
“, berechnet für jede teilnehmende Abteilung und pro ausgewählter OP-Gruppe (Brummer et al.
2008; Mu et al.
2011). Diese Zahl gibt das Verhältnis der tatsächlich aufgetretenen Wundinfektionen zur Zahl der aufgrund des Risikospektrums der Patienten zu erwartenden Wundinfektionen an. Probleme kann die Berechnung bei kleinen Abteilungen ergeben, in denen nur wenige Eingriffe pro OP-Gruppe ausgeführt werden.
Die SIR ist leicht zu ermitteln, wenn ein
Referenzwert vorhanden ist.
Letztere (E) wird pro NNIS-Kategorie ermittelt, indem man die Anzahl durchgeführter Interventionen im Krankenhaus oder von einem Chirurgen, für welchen man sich interessiert, mit dem
Referenzwert der entsprechenden NNIS-Kategorie multipliziert. Ein SIR (O/E) größer als 1,0 zeigt an, dass mehr Infektionen aufgetreten sind, als man erwartet hat und gibt einen Hinweis auf das Ausmaß der Abweichung. Eine SIR kleiner als 1,0 zeigt das Gegenteil an (Troillet und Widmer
2014).